Schachclub

 von Nazlι Baykuş

 

Durch meine Beobachtungen an dem 5-jährigen Peter habe ich festgestellt, dass er gerne Schach spielen würde, dies aber nicht offen äußerte. Im Hort hatten wir noch drei ältere Kinder mit demselben Interesse. Ich brachte also Peter mit den älteren Kindern zusammen und schlug den Kindern vor, einen Schachclub zu gründen. Christian aus dem Kindergarten ließ auch erkennen, dass er sich dafür interessieren könnte, er kam auch dazu.

9.2.04

Erstes Treffen mit den Kindergartenkindern Peter (5) und Christian (6) und den Hortkindern Lukas (9), Manuela (8) und Philip (7).

Ich habe die Kinder gefragt, ob sie Lust hätten, einen Schachclub zu gründen.

Christian (6): „Ein Schachclub? Wo wir immer Schach spielen?“

Alle Kinder waren damit einverstanden. Sie wollten wissen, ob sie morgen anfangen könnten. Wir verabredeten ein Planungstreffen, das am übernächsten Tag stattfinden konnte.

11. 2. 04

Lukas, Philip, Peter (5) und ich haben uns an diesem Tag in Ruhe zusammengesetzt, die beiden anderen Kinder waren nicht da. Alle drei Kinder haben Ideen gesammelt, was sie gerne im Schachclub machen möchten. Lukas schrieb die Ideen auf. Außer dem Punkt „Eröffnung des Schachclubs“ kamen alle Ideen von den Kindern. Sie haben dann auch selbstständig die Reihenfolge bestimmt, ich musste nur wenig Hilfestellung geben.

Mein Vorschlag war, den Schachclub auch für andere Kinder zu öffnen. Die Kinder waren einverstanden – unter der Bedingung, dass dies als Letztes geschehen soll.

Lukas schrieb einen Aushang für die Eltern mit folgendem, von den Kindern ausgedachtem Text, in dem sich auch die Planungsideen der Kinder wieder finden:

<Liebe Eltern!

Wir haben einen Schachclub gegründet und haben Einiges vor. Dafür sind folgende Termine wichtig:

19. 2. 04 Bücherei. Bitte Kindersitz mitbringen.
23.-27. 2. 04 Schachclubraum einrichten.
1. 3.-5. 3. 04 Schachbrett und Schachfiguren bauen.
8.-12. 3. 04 Spiele gegeneinander.
15.-19. 3. 04 An einem Tag einen Schachverein besuchen.
22. 3.-26.3. 04 An einem Tag selbst Schachfiguren sein.
2. 4. 04 Schachprofi einladen.
Termin wird noch bekannt gegeben: Schach gegen Eltern.
Termin wird noch bekannt gegeben: Eröffnung des Schachclubs.

Bitte holen Sie Ihr Kind an den o. g. Tagen ab 16 Uhr ab.

Der Schachclub: Lukas, Philip, Peter, Christian, Nazlı.>

 

Im Weiteren wird sich zeigen, dass es eine Weile brauchte, bis das Projekt richtig in Gang kam und die Kinder immer stärker mit Begeisterung erfüllte. Dieses Projekt führte ich in der Anfangsphase meiner Weiterbildung zur Fachkraft für Hochbegabtenförderung durch.

Heute weiß ich, dass ich anders hätte starten sollen: einfach mit dem Schachspielen beginnen und mich und die Kinder nicht erst mit zu vielen Vorarbeiten aufhalten; denn die Kinder wollten Schach spielen und nicht alles mögliche Andere machen, aber am Anfang dieses Projekts ging ich noch den umständlichen Weg…

Ich schreibe es so auf, wie es war.

19.2.04 Bücherei

Wir wollten ursprünglich in die Bücherei, um uns Bücher über Schachregeln auszuleihen. Dies klappte aber nicht, da 3 Kinder (Peter, Christian, Philip) nicht da waren. Wir haben den Besuch auf einen anderen Tag verschoben.

23.-27.2.04 Schach-Clubraum einrichten

Der Snoezelraum, der von den Kindern nicht mehr so häufig genutzt wurde, wurde zum Schachclubraum erklärt; er war recht klein, ruhig gelegen und abschließbar.

Die Kinder fotografierten sich gegenseitig und mich auch, um zu verdeutlichen, dass wir die Gründer und Hauptakteure im Schachclub sind. Die Fotos wurden an der Clubraumwand angebracht.

Die Kinder hatten außerdem die Idee gehabt, ein Schachbrett und Schachfiguren an die Wand zu bringen. Zwei Kinder malten 32 Bierdeckel mit Fingerfarben in Schwarz an. Zusammen mit einem schwarzen Rahmen an die Wand gebracht, ergab sich ein Schachbrett-Bild.

Ein tolles, großes Schachbrett brachte eine Kollegin von zuhause mit. Nun war auch klar, dass wir beim Spielen auf dem Boden sitzen wollten. Wir besorgten einen Teppich, Sitzkissen und zwei Tischchen für Getränke.

Die zunächst geplanten Schachfiguren für die Wand haben die Kinder nicht hergestellt. Ich hatte eine Frist von einer Woche gesetzt. Am Ende der Frist sagten die Kinder, sie möchten doch keine Schachfiguren an die Wand bringen. Insgesamt zeigten die Kinder beim Dekorieren des Raumes wenig Interesse, ich musste sie mehrmals darauf ansprechen. Sie hatten eine genaue Vorstellung, wie der Raum aussehen sollte, aber zeigten wenig Eigeninitiative.

Während dieser Zeit habe ich gedacht, dass ich das Thema verfehlt habe und den Kindern zu viel Druck mache.

Dies wendete sich mit dem Bauen der Schachfiguren zum Positiven.

1.3. – 5.3.04 Schachfiguren bauen

Ich habe die Idee einer Kollegin übernommen, die Schachfiguren aus Tonblumentöpfchen zu bauen. Ich habe die Materialien (Tonblumentöpfchen in verschiedenen Größen, Holzkugeln, Farben und Heißklebepistole) bereitgestellt, und Manuela und Lukas entwickelten, wie die Figuren aussehen sollten. Alle Kinder berieten darüber, in welchen Farben die Figuren angemalt werden sollten. Sie entschieden sich für Weiß und Blau, die Vereinsfarben von Schalke 04, da sie alle Fans sind.

Alle fünf Kinder hatten großen Spaß am Gestalten der Figuren. Sie waren sich sofort einig, wie welche Figur aussehen sollte. Da die Kinder sehr motiviert waren, mit ihren selbst gebastelten Figuren zu spielen, richteten sie noch am selben Tag die Sitzecke im Schachclubraum ein und spielten ihr erstes Spiel. Ich denke, dass die Kinder einfach spielen wollten, ohne die ganzen Vorbereitungen drum herum.

Ich habe noch eine für mich interessante Beobachtung gemacht: Meine Meinung war, dass die Spielfiguren noch nicht fertig waren; ich fand zum Beispiel, dass die Springer noch einen Pferdeschwanz aus Wolle bekommen sollten: Mir ging es dabei nicht nur ums schöne Aussehen, sondern auch um die bessere Unterscheidbarkeit der Figuren.

Die Kinder aber murrten und waren alle der Ansicht, dass sie die Figuren auch so sehr gut unterscheiden könnten, was sie dann auch bewiesen haben.

… und so sahen unsere Figuren aus.

8. – 12.3.04 Spiele gegeneinander

Ich hatte als zweite Aktion geplant, mit den Kindern in die Bücherei zu gehen, um Informationen über Schachregeln zu holen. Dies klappte aber aus organisatorischen Gründen nicht. Also haben wir unser (geringes) Wissen für den Anfang zusammen geworfen.

Lukas hatte schon mal mit seinem Vater, und Peter hatte mal mit seinem Opa gespielt. Manuela und ich hatten geringe Kenntnisse. Christian und Philip hatten noch nie Schach gespielt.

Als wir dann später zur Bücherei gingen, war das Interesse an den Büchern sehr groß.

Ich denke, dass die Kinder am Anfang um den Spaß am Spielen gespielt haben und dass sich das mit der Zeit zum Drang des „richtig“ Spielens gewendet hat.

Durch Zufall haben wir in dieser Zeit einen PC von einem Vater geschenkt bekommen. Der Opa von Manuela schenkte uns Schachspiele für den PC, so konnten wir den PC auch für das Schachspielen nutzen. Dies kam bei den Kindern sehr gut an. Sie nutzten den Raum zu mehreren, aber auch einzeln.

Die Kinder haben es genossen, einen Raum für sich zu haben. Auch an den nachfolgenden Tagen haben sie sich den Schlüssel geholt und sind Schach spielen gegangen. Sie konnten ihr Spiel jederzeit unterbrechen, da sie den Raum abschließen konnten.

Beim Spiel der Kinder war zu beobachten, dass Peter (5) sehr schnell Neues lernte; er konnte auch sehr bald Züge vorausplanen. Dies war für uns ein Zeichen, dass sich hier ein Talent zeigte und er weitere Anregungen brauchte.

Er kam morgens in die Kita gerannt, wollte dann immer gleich Schach spielen und brachte schließlich auch seine Mutter zum Schachspiel.

Und so sollte es weiter gehen:

Liebe Eltern der Schachclubkinder!

Folgende Termine geben wir bekannt:
Am Do, 25.3.04, besuchen wir die Bücherei, um uns Bücher über Schach auszuleihen.
Am Fr, 26.3.04, besuchen wir den Schachverein „Schwarz-Weiß“. Wir treffen uns um 18 Uhr an der Alleestr. 122. Sie können Ihr Kind um 19 Uhr abholen.
Am Fr, 2.4.04, kommt der Schachprofi, um uns Geheimnisse der Schachwelt zuzuflüstern.
Am Do, 8.4.05, ist es so weit! Jetzt dürfen auch Sie in unserem Schachclubraum mit Begleitung von Kaffee und Plätzchen gegen Ihr Kind Schach spielen. Es dürfen natürlich auch interessierte Opas und Omas mitmachen.

25.3.04 Bücherei

An diesem Tag sind wir endlich in die Bücherei gefahren. Die Kinder haben ausgeliehen: Schachlehrbuch für Kinder von Markus Spindler und Tessloffs Schachbuch von Daniel King.

Zufällig gab es in der Bücherei gerade ein Schachspiel zwischen zwei älteren Männern. Wir haben bis zum Schluss zugesehen.

26.3.04 Schachverein

Eine Mutter gab uns die Telefonnummer des Schachvereins Schwarz-Weiß. In diesem Verein spielen außer den Erwachsenen auch Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren. Wir wurden sofort eingeladen.

Um 18 Uhr haben wir uns vor dem Schachverein getroffen. Die Kinder haben sich dort an die Tische gesetzt und angefangen zu spielen. Einige benutzten auch die Schachuhr. Sie wurden auch von den Kindern des Schachvereins zu Spielen eingeladen. Unsere Kinder waren aufgeregt, neugierig und zeigten ein langes Durchhaltevermögen und eine große Konzentration. Sicherlich haben sie an diesem Abend einige Niederlagen eingesteckt, doch am nächsten Tag wurde im Kindergarten wieder gespielt und geübt.

In der nächsten Woche haben wir über dieses Erlebnis ausführlich gesprochen, es hatte den Kindern sehr gut gefallen. Der Besuch eines Schachvereines war für sie sehr interessant. Hier hatten sie die Möglichkeit, mit gleichaltrigen und älteren Kindern das gemeinsame Interesse auszuüben. Sie hatten schnell Kontakt zu den fremden Kindern. Die Begleiter des Vereines waren sehr offen und zugewandt zu unseren Kindern. Philip und Christian erklärten, dass sie unbedingt in den Verein eintreten möchten. Philip wurde auch tatsächlich angemeldet.

2.4.04 Der Schachprofi

Über eine Kollegin organisierte ich einen Termin mit einem Schachmeister, den die Kinder ab sofort den Schachprofi nannten. Er spielt seit seinem 6. Lebensjahr. Der Schachprofi spielte eine Partie mit den Kindern. Lukas und Manuela spielten gemeinsam gegen Peter und den Profi. Er erklärte den Kindern während des Spiels seine Überlegungen zu den einzelnen Zügen und gab ihnen Tipps. Es war eine ruhige Atmosphäre. Das Spiel dauerte eine Stunde, die Kinder waren die ganze Zeit über konzentriert bei der Sache.

Der Schachprofi sagte, dass er gerne noch einmal kommen würde, um die Fortschritte der Kinder zu sehen.

Durch den Besuch des Schachprofis haben die Kinder neue Spielzüge und Regeln kennen gelernt, zum Beispiel die Rochade. Dies wendeten sie dann auch immer wieder an.

Die Kinder hatten Respekt vor dem Schachprofi. Die Atmosphäre lockerte sich dadurch, dass der Schachprofi sehr offen und freundlich den Kindern gegenüber war. Ich hatte das Gefühl, dass er Spaß am Zusammensein mit den Kindern hatte. Die Kinder haben später noch viel von ihm erzählt. Auch auf beim Elterntreffen wendeten die Kinder die neu gelernten Methoden an und überzeugten ihre Eltern von der Richtigkeit.

8.4.04 Elternbesuch

Das Elterntreffen verlief in einer angenehmen Atmosphäre mit Kaffee, Kakao und Kuchen und ganz viel Schachspiel. Alle Eltern der Schachclubkinder waren nachmittags anwesend und pünktlich. Sie nutzten den Schachraum, den PC und drei Schachbretter im Gruppenraum.

Einige Eltern waren aufgeregt, und einige lernten von ihrem Kind Schach. Es gab auch Spiele zwischen Erwachsenen, bei denen die Kinder mit Rat an der Seite ihrer Eltern standen. Es gab viel Begeisterung. Einige Eltern surften im Internet, um uns neue Informationen zu holen.

13.4.04 Flyer und offizielle Eröffnung des Schachclubs

Den ersten Schritt zur Eröffnung des Clubs haben wir mit dem Erstellen eines Flyers an einem Laptop gemacht. Lukas und Peter (5) haben den Flyer erstellt. Ich gab ihnen Hilfestellung beim Umgang mit dem Laptop. Die Kinder hatten Spaß am Experimentieren am PC.

Den Flyer haben wir in den Gruppen ausgeteilt. Wir haben vor, jeder städtischen Kita einen Flyer zu senden, so dass sie die Möglichkeit haben, mit uns Kontakt aufzunehmen und unsere Räumlichkeiten und unser Wissen zu nutzten. Leider hat sich keine Kita gemeldet, und auch auf unsere Nachfragen hat sich nichts ergeben.

Es fand dann eine offizielle Eröffnung des Schachclubs statt, zu der wir mit dem Flyer eingeladen hatten. Kinder aus den anderen Gruppen, viele Eltern und Freunde nahmen teil. Auch ergab sich ein intensives Spiel zwischen dem Oberbürgermeister und den Kindern.

So hoch frequentiert wie am Anfang ist der Schachraum jetzt nicht mehr, aber Peter und seine vier Freunde bleiben dabei. Peter spielt noch fast täglich, und unser Schachmeister kommt weiterhin vorbei, um die interessierten Kinder anzuleiten und zu fördern.

Mittlerweile wird in drei von vier unserer Kita-Gruppen Schach gespielt.

Mit dem Projekt Schachclub hatte ich das Ziel, Peter mit älteren Kindern mit demselben Interesse zusammenzubringen. Dies ist gelungen. Er hatte die Möglichkeit, seinem Interesse nachzugehen, sich selbstständig Wissen anzueignen und sein Können mit dem der Anderen zu messen.

Auch für die gesamte Kita ist ein wichtiges Ziel erreicht. Mit den Kindern zusammen habe ich einen Raum erschaffen, wo sie die Möglichkeit haben, ungestört Schach zu spielen. Sie haben andere Möglichkeiten zum Ausleben ihres Interesses außerhalb der Einrichtung kennen gelernt.

Durch die vielfältigen Projektaktivitäten ist jetzt das Interesse einiger anderer Kinder aus meiner und auch aus anderen Gruppen geweckt.

Das Projekt hat mir großen Spaß gemacht und ich denke, den Kindern auch. Ich werde den Schachclub weiterlaufen lassen, da ich denke, dass noch Kinder nachkommen werden, die Interesse daran haben.

 

Schachspiel

 von Hanna Vock

 

Schach ist ein Spiel, das Kinder interessant finden, die besonders große Lust und besonders gute Fähigkeiten haben, abstrakt und strategisch zu denken. Die Regeln des Spiels sind einfach, aber die möglichen Spielverläufe und die möglichen Strategien sind unglaublich vielfältig.

Im Vorteil ist, wer komplex denken kann und ein gutes Gedächtnis hat. Komplex denken: sich die verschiedenen möglichen nächsten Züge und die jeweils möglichen Reaktionen darauf ausdenken, und dies möglichst noch mehr als einen Zug im Voraus. Gutes Gedächtnis: sich das gerade Ausgedachte so lange merken und damit gedanklich jonglieren, bis die Entscheidung für den eigenen nächsten Zug gefallen ist. Und Spaß genau daran haben!

Hieraus erklärt sich, dass etliche hoch begabte Kinder sich früh für das Schachspiel interessieren, sofern sie denn Jemanden haben, der es ihnen nahe bringt.

Das Schachspiel hat auch noch den Vorteil, dass über das Spiel eine anspruchsvolle geistige Kommunikation möglich ist, die nicht sprachgebunden ist.

 

Hier ein Beispiel aus einer Kita:

Schachclub von Nazlı Baykuş

 

Und was sie alles denken!

von Hanna Vock

 

 

Hier sind einige bemerkenswerte Beispiele zusammengetragen, aus denen ersichtlich wird, was junge Kinder so alles denken.

1.

Ein Junge (2;9) erlebt mit, wie die Mutter bemerkt, dass ihr Rucksack gestohlen wurde. Sie ist aufgebracht und erklärt ihm, dass ein gemeiner Mensch den Rucksack einfach weg genommen hat und dass das Klauen ist. Sie erklärt ihm, was alles in dem Rucksack drin war und dass sie die Sachen vermisst.

Nach kurzer Zeit sagt der Junge: „Wenn wir einen Mann mit einem Rucksack sehen, dann nehmen wir den auch weg.“ Die Mutter antwortet, dass sie das nicht machen werden, weil sie ja keine Diebe sind, die anderen einfach etwas wegnehmen. Der Junge denkt wieder nach und äußert einen neuen Gedanken: „Aber wenn wir den Mann sehen, der unseren Rucksack hat, dann nehmen wir den dem weg.“

Am nächsten Tag fragt er: „Ist der Rucksack wieder da?“

2.

Anna (Name geändert), grade vier Jahre alt geworden, hört, wie ein achtjähriges Hortkind sagt: „Ich will aber immer leben. Ich will nie sterben.“ – Anna sagt dazu: „Aber dann sind doch wir alle tot, alle deine Freunde, und dann bist du ganz alleine.“

Das Hortkind: „Ist doch egal, dann bin ich eben alleine.“ – Anna: „Aber das ist ungerecht, wenn wir alle sterben müssen und du nicht.“

Hortkind: „Alle können immer weiter leben.“ – Anna: „Aber so viele Häuser gibt es doch gar nicht … und nicht so viel zu essen.“

3.

Ein kognitiv und sprachlich hoch begabtes Kind fällt durch eine frühe exzellente Sprachbeherrschung auf. Mit seiner Sprachkompetenz drückt es komplexe Gedanken aus. Ein Beispiel:

Evelin überraschte mich im Alter von 3;5 Jahren im Kindergarten mit einer Äußerung, die für Dreijährige sehr ungewöhnlich ist. Ich hatte Evelin und drei anderen dreijährigen Kindern das Märchen “Hänsel und Gretel” vorgelesen. Evelin kannte das Märchen vorher nicht, was ihre Mutter auf Nachfrage auch bestätigte. Evelins Äußerung nach dem Ende des Märchens: „Aber warum gehen denn die Kinder zu dem Vater zurück, da gibt es doch nichts zu essen. Die könnten doch in dem Hexenhaus bleiben, die Hexe ist doch tot. …Der Vater war doch böse.“

Evelin zeigt mit dieser Äußerung nicht nur, dass sie den Inhalt des Märchens auf Anhieb erfasst hat. Sie beweist auch eine für Dreijährige erstaunliche, unabhängige und flexible Denkfähigkeit. Sie kann sich von der Geschichte lösen und macht sich eigene Gedanken dazu, die im Widerspruch zur Aussage der Geschichte stehen.

In ihrer Äußerung ist auch bereits ein Konzept erkennbar, das Kindern unabhängige und selbstständige Entscheidungen zutraut: Hänsel und Gretel sollen nicht das traditionell Nächstliegende (schnell zurück nach Hause zu den Eltern), sondern das unkonventionelle, aber logisch Nächstliegende tun, nämlich da bleiben, wo es etwas zu essen gibt und kein böser Erwachsener sein Unwesen treibt.

Evelin bewertet die Handlungsweise des Vaters ganz klar als böse. Auf meine Nachfrage „Wieso ist denn der Vater böse?“ antwortet sie: “Weil er seine Kinder im Wald allein gelassen hat. Er hätte ja auch sagen können zu der Mutter: Nein, das machen wir nicht.“

Evelins Sprachkompetenz reicht nicht nur aus, um das Märchen voll zu erfassen, sondern auch um ihre eigenen Gedanken präzise auszudrücken.

Zum Vergleich:

Die anderen dreijährigen (kognitiv und sprachlich normal entwickelten) Kinder beantworteten folgende Fragen:

Erzieherin: “Was für ein Tier hat denn die Hexe?”

Kind 1: “Eine Katze.” / Kind 2: “Und Vögel.”

Erzieherin: “Was machen denn die Vögel?”

Kind 2: “Die sind bei der Hexe.”

Erzieherin: “Und fressen die auch was?”

Kind 2: “Nein. Doch! Die essen Würmer.”

Erzieherin fragt Kind 3: “Was meinst du: fressen die Vögel in der Geschichte auch noch was anderes?”

Kind 3: “Ja.”

Erzieherin: “Was ist das denn, was die fressen?”

Kind 3: “Weiß ich nicht.”

Evelin:
“Die picken die Brotkrumen auf und deshalb können die Kinder den Weg nicht finden. Weil die Brotkrumen nicht mehr da sind. Die haben die Vögel aufgegessen.”

Kindergartenkinder können auch in anderen Entwicklungsbereichen völlig von den gewohnten Altersnormen abweichen, zum Beispiel im logisch-mathematischen Bereich:

4.

Die Situation:

Am Fenster des Gruppenraumes hängt der Adventskalender. Für jedes Kind ist eine Tüte daran geknüpft. Jeden Tag darf ein anderes Kind seine Tüte abschneiden und auspacken.
Wer dran kommt, entscheidet am Vortag das Los: In einer Dose ist für jedes Kind ein Kärtchen mit dem Bild, das auch seinen Garderobenhaken kennzeichnet. Jeden Tag zieht ein Kind aus dieser Dose ein Kärtchen, ohne hinzusehen. Das Kind, dessen Kärtchen gezogen wird, kommt am nächsten Tag dran und darf sich dann seine Tüte holen.

Daniel (3;5) und Leo (3;6) erleben diese jährliche Prozedur zum ersten Mal. Leo ist ein ganz normal entwickeltes und gut gefördertes Kind, Daniel ist hoch begabt, mit einer Vorliebe für Mengen, Zahlen und logische Zusammenhänge, was sich im Kindergartenalltag später immer wieder bemerkbar macht. Wenn ich nun frage: „Na, wer ist denn heute dran?“, wissen die älteren Kinder Bescheid und rufen den Namen. Daniel bleibt dann ruhig und gelassen, Leo ist jedes Mal tief enttäuscht und fragt mich immer wieder: „Warum nimmst du mich nicht dran?“

Eines Tages bitte ich die beiden Jungen, noch kurz da zu bleiben und stelle (vor der Auslosung für den nächsten Tag) zuerst Leo die Frage: „Na, Leo, glaubst du, dass du morgen dran kommst?” Leo (strahlend): „Jaaa!“ Nachfrage: „Warum glaubst du das?“ Leo: „Weil ich das haben will.“

Daniel antwortet auf dieselbe Frage: „Kann sein, kann auch nicht sein.“ Und auf die Nachfrage: „Wie meinst du das?“ Daniel: „Na, wenn ich nachher gezogen werde, komme ich dran, und wenn nicht, dann nicht. …Vielleicht komme ich aber auch erst als Allerletzter dran.“

Leo zeigt eine völlig alterstypische Reaktion: Sein Denken ist von seinem starken Wunsch beherrscht, endlich dran zu kommen. An jedem Tag ist er aufs Neue gespannt und erwartungsfroh und dann wieder enttäuscht und zunehmend böse auf mich als Erzieherin. Er fordert von mir, dass ich ihn dran nehmen soll, sodass ich schließlich schummele, um Leo und seine Beziehung zu mir zu entlasten. Die ältesten Kinder lächeln dazu nachsichtig und verständnisvoll.

Das Prinzip des Zufalls versteht Leo noch nicht. Er versteht auch nicht die Erklärungsversuche der älteren Kinder, fühlt sich aber durch ihre Zuwendung teilweise getröstet. Er ist ebenfalls geistig aktiv und versucht sich das Geschehen zu erklären. Da ihm aber das Zufallsprinzip als Erklärungsmuster nicht zur Verfügung steht und er auch noch keinen klaren Überblick über die Zeitbezüge zwischen den Begriffen “gestern”, “heute” und “morgen” hat, kann er sich die Tatsache, dass er jetzt wieder nicht dran kommt, nur so erklären, dass irgendwer willkürlich und grade jetzt sein Drankommen verhindert hat. Naheliegenderweise wird die Erzieherin als die mächtigste anwesende Person dafür verantwortlich gemacht.

Daniel durchschaut das System dagegen klar. Auch er zeigt (in den nächsten Tagen) immer wieder Enttäuschung, äußert sie aber anders: “Schon wieder Pech!” / “O nein, kann denn nicht mal wer mein Bild ziehen?”

5.

Beispiel von der Erzieherin und Kita-Leiterin Beate Kroeger-Müller:

Eine Mutter, die im Kindergarten Elterndienst macht, fragt ein vierjähriges Kind: „Worüber machst du dir gerade Gedanken?“ Das Kind  schweigt. Ein Vorschuljunge (5;6) beobachtet die Situation und fragt den Vierjährigen: „Weißt du eigentlich, was Gedanken heißt?“ Der Gefragte verneint.

Ich wiederhole die Frage an die acht Kinder die mit mir am Tisch sitzen und nähen. „Was sind denn Gedanken?“  Während der Web- und Näharbeiten entsteht eine wohlige Unruhe innerhalb der Kleingruppe. Sofort werden die Assoziationen, die mit diesem Wort in Verbindung gebracht werden, geäußert. Und in weniger als drei Minuten entstand dieses kleine Gespräch.

Junge (5;6): „Gedanken sind Ideen in meinem Kopf.“

Mädchen (6;3): „Gedanken sind Hoffnungen in mir drinnen.“

Mädchen (5;8): „Gedanken können auch Träume sein!“

Junge (6;1): „Gedanken sind, wenn man sich Sorgen macht.“

Junge (5;9): „Gedanken sind immer da und gehen wieder.“

Junge: (5;3): „Gedanken sind immer da – wenn man nachdenkt – sonst nicht.“

Junge (5;4) Jahre: „Gedanken bestehen aus 8 Buchstaben. Erst das G dann das E und D und A und N und K und E und zum Schluss ein N. Also Gedanken sind einfach im Gehirn drinnen.“

Junge (5;8): „Gedanken sind die Ideen in meinem Kopf, die für mich eigentlich ganz normal sind, denn sie sind immer da, auch wenn ich träume. Ich bin der Meinung, ohne Gedanken zu haben, kann man nicht leben.“

Der Vorschuljunge, der den Gedankenaustausch angestoßen hat, stellt am Ende befriedigt fest: „So viele Antworten und alle sind richtig, das gefällt mir an dem Wort am besten.“
Jeder wendet sich wieder seiner Handarbeit zu und tut so, als wäre nichts gewesen.

Wie ich finde: Nette Erklärungen von sechs Vorschulkindern und zwei mittelalten – und nur drei hoch begabte darunter. Welche wohl?

Diese und noch mehr Beispiele finden Sie in:

Komplexe Gedankengänge

Originelle, ungewöhnliche Gedanken

Schnelles Erkennen von Gesetzmäßigkeiten

Großes Interesse an Systematik, an logischen Gedankengängen

Divergentes Denken

 

 

Checkliste: Kognitive Förderung

von Hanna Vock

 

Diese Checkliste kann Ihnen helfen, entweder allein oder in Ihrem Team regelmäßig zu reflektieren, wie es um die kognitive Förderung in Ihrer Gruppe / in Ihrer Kita bestellt ist – und wo noch Reserven schlummern oder wo mal wieder etwas intensiviert werden kann.

Bitte benutzen Sie die Checkliste im inhaltlichen Zusammenhang mit den übrigen Texten zur kognitiven Förderung:

Kognitive Förderung in der Kita. Wissen gewinnen, Denken trainieren

Passgenaue Förderung

************************************************************************************************************

1.
Was weiß ich über das Denken einzelner Kinder und insbesondere der (möglicherweise) hoch begabten Kinder?

    • Sagen sie mir, was sie denken?
    • Frage ich sie, was sie denken?

2.
Welche Strategien zum eigenständigen Wissenserwerb bauen die Kinder auf?

    • Wie helfe ich ihnen dabei?

3.
Wann, wo und wie üben die Kinder planmäßiges Handeln ein?

    • Welche Unterstützung / Anleitung erhalten sie von mir?

4.
Welche wichtigen Routinen bauen die Kinder im Kindergarten auf?

    • Welche Routinen wären noch wichtig?

5.
Wie weit verstehen die Kinder unsere Liedtexte und Geschichten und Bilderbücher wirklich?

    • Wie verschaffe ich mir Gewissheit darüber?

6.
Wie weit verstehen die Kinder die Inhalte unserer Gesprächsrunden wirklich?

    • Wie verschaffe ich mir Gewissheit darüber?

7.
Wie sicher beherrschen die Kinder die Spielregeln unserer Spiele (Gesellschaftsspiele, Gruppenspiele…)? Wie viele Kinder sind in der Lage, die Spielregeln an andere Kinder weiter zu geben?

8.
Haben wir klare und sinnvolle Rederegeln für die Gruppe? Sind diese für die Kinder verständlich und einleuchtend?

9.
Wie spüren wir Fragen auf, die die Kinder bewegen? Kenne ich die Fragen, mit denen sich die besonders begabten Kinder der Gruppe befassen? Welches sind zur Zeit diese Fragen?

10.
Stelle ich an die Kinder gewöhnlich Fragen unterschiedlicher Schwierigkeit – auch viele Fragen, die die eigene Meinung der Kinder herausfordern und Fragen, die nicht nur zum Erinnern, sondern zum eigenständigen Denken herausfordern?

11.
Ist der Wissenserwerb der Kinder bei uns „organisch“ in den Kita-Alltag eingefügt (z.B. in Projekten) – oder geschieht Wissens“vermittlung“ eher „aufgesetzt“?

12.
Haben wir die Möglichkeit, mit den Kindern in Kleingruppen zu arbeiten, zusammengestellt nach Interessen, Entwicklungsstand oder nach anderen pädagogischen Überlegungen?

    • Nutzen wir diese Möglichkeit ausreichend?

13.
Machen wir (neben geplanten Ausflügen) auch mit kleinen Gruppen spontane Erkundungsgänge in die Umgebung der Kita, um Interessantes zu finden und zu erkunden, Menschen zu befragen?

    • Was hindert uns, dies öfter zu tun?
    • Haben und nutzen wir die Gelegenheit, diese Erlebnisse auch mit den Kindern zu erinnern, zu reflektieren und auszuwerten?

14.
Haben die Kinder immer/ oft ein Projekt und daraus entstehende Fragen im Kopf?

    • Wie stelle ich das sicher?
    • Wer unterstützt mich dabei?

15.
Haben wir eine Expertenkartei (Eltern, Großeltern, Bekannte…, die etwas besonders gut können und die fähig sind, Kinder davon zu begeistern)?

    • Wird die Kartei genutzt?
    • Müsste sie mal wieder ergänzt werden?

 

 

Passgenaue kognitive Förderung

Entwicklungsstand und Potenzial erkennen

von Hanna Vock

 

Man kann zu Hause oder in der Kita so viel kognitive Förderung machen, wie man will – sie wird das hoch begabte Kind nicht erreichen,

    • wenn sie nicht zu dem geistigen Entwicklungsstand des Kindes passt und
    • wenn sie nicht das Potenzial des Kindes berücksichtigt, blitzschnell Neues zu begreifen und dazu zu lernen.

In der Kindergartengruppe müssen wenigstens einige „Häppchen“ dabei sein, an denen das Kind herum kauen kann – und es muss wenigstens ein Impuls dabei sein, an dem das Kind sein Denken entzünden kann.

Ansonsten wird es sich langweilen, herumzappeln, Unsinn machen oder abschalten oder alles zusammen.

Besser wäre natürlich eine kontinuierliche passgenaue Förderung in anspruchsvollen Gesprächen, Kleingruppen und Projekten – nur lassen das die Arbeitsbedingungen in den Kitas oft nicht zu.

An zwei Beispielen will ich deutlich machen, was ich unter passgenauer kognitiver Förderung hoch begabter Kinder verstehe.

Im ersten Beispiel hat sich ein kleines Mädchen eine eigene Aufgabe gesucht und wird dabei von ihren Eltern klug begleitet.

Im zweiten Beispiel langweilte sich ein kleiner Junge in meiner Kindergartengruppe; die Personalsituation war zu dem Zeitpunkt desolat und ich musste eine Möglichkeit finden, Daniel mit minimalem Aufwand so gut es eben ging, gerecht zu werden.

… kurz gefasst …

Kognitive Förderung muss zum Entwicklungsstand und zum Lerntempo des Kindes passen – man muss also das Kind „da abholen, wo es steht“.
Die Autorin berichtet an zwei ganz unterschiedlichen Beispielen mit einem vierjährigen Mädchen und einem fünfjährigen Jungen, wie eine solche Förderung aussehen kann.

Beispiel 1: Carolin (4) zählt Autos

Es ist spät am Nachmittag. Carolin, vier Jahre alt, sitzt am Fenster und guckt vom 1. Stock hinunter auf die Straße.

Vor kurzem hat sie gelernt, Zahlen zu schreiben, und zwar dadurch, dass sie ihrer großen Schwester bei den Hausaufgaben zugesehen und die Zahlen abgemalt hat.

Jetzt holt Carolin sich Papier und Buntstift und notiert, wie viele Autos auf der Straße vorbeifahren.

Und zwar schreibt sie für jedes Auto, das vorbeifährt, eine nächstgrößere Zahl aufs Papier: 1, 2, 3, 4, usw.

Nach einer Weile kommt die Mutter ins Zimmer und sieht, was das Kind macht.

Allmählich gerät Carolin in Schwierigkeiten. Als die Zahlen zweistellig und immer größer werden, kann sie die Zahlen nicht so schnell aufschreiben wie die Autos durchfahren.

An dieser Stelle könnte Carolins Projekt schon zu Ende sein.

 

Die Mutter gibt ihr aber einen entscheidenden Tipp, der Carolin weiter führt. Sie sagt: „Du brauchst gar nicht die Zahlen zu schreiben, du kannst einfach für jedes Auto einen Strich machen und hinterher die Striche zählen.“

Carolin stutzt und geht sofort zur Methode der Strichliste über.

Bis hierhin hat die Vierjährige schon eine außergewöhnliche Leistung erbracht.

Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende.

Carolin zeigt keinerlei Ermüdungserscheinungen, sondern stellt sich selbst eine neue geistige Aufgabe: Sie will die Autos nun offenbar nach Farbe sortieren.
Auf einem neuen Blatt macht sie oben links Striche für rote Autos, oben rechts für weiße Autos und darunter in der Mitte macht sie Striche für alle übrigen Autos.

Danach zählt sie, wie viele rote, wie viele weiße und wie viele Autos anderer Farbe sie notiert hat und zählt dann noch mal alle Striche, um die Gesamtmenge festzustellen.

Lesen Sie hierzu auch: Grundideen der Mathematik.

Carolin zeigt ihrer Mutter das Blatt und erklärt ihr alles.

Die Mutter sieht, wie ernsthaft Carolin mit ihrem selbst-erdachten Projekt befasst ist und gibt ihrem Kind einen weiteren Denkanstoß. Sie bringt den Zeitfaktor ins Spiel. Sie sagt: „Ja, jetzt weißt du, wie viele Autos durchgefahren sind, aber du weißt nicht, wie lange das gedauert hat.“

Carolin läuft nach kurzem Nachdenken in die Küche und holt sich den Küchenwecker. Sie stellt die Zeit auf 10 Minuten ein.

Und dann beginnt sie die ganze Arbeit mit großer Konzentration noch einmal und führt sie auch zu Ende.

Was haben wir gesehen?

    • Carolin hat aus eigenem Antrieb sehr ausdauernd geistig gearbeitet.
    • Sie hat eigenständig eine großartige Entdeckung gemacht: die wissenschaftliche Methode der Notierung von Beobachtungen. Dieses versucht man in der Schule Kindern später oft mühsam beizubringen.
      Jetzt könnte man sagen: Toll, wenn Kinder von sich aus so was machen. Was hat das mit gezielter Förderung zu tun? Und wo liegt das Problem?
    • In der Geschichte sind mehrere Förderschritte enthalten, die alle auf bestimmten Haltungen und Überlegungen der Erwachsenen beruhen. Manche dieser Förderschritte passieren aktuell, während das Kind am Fenster sitzt und Autos zählt, und manche liegen schon in der Vergangenheit, sind aber, wie wir sehen können, genauso wichtig für das Gelingen des Projekts.

Welches sind die Förderschritte?

Da ist zunächst und 1. die Tatsache, dass die Eltern und die große Schwester offensichtlich zugelassen haben, dass das kleine Geschwister bei den Hausaufgaben dabei saß und das Zahlen-Schreiben mit vier Jahren gelernt hat.

2. kann man es durchaus als Förderung werten, dass in diesem Haushalt ständig Papier und Stifte für das Kind zugänglich sind. Auch wenn manche es vielleicht nicht glauben mögen, ist dies längst nicht für alle Kinder in unserem Land selbstverständlich.

3. steckt eine Menge intellektuelle Förderung darin, wenn ein Kind im Alltag immer wieder erlebt, wie seine Familienmitglieder sich in allen möglichen Situationen Notizen machen, wenn sie etwas nicht vergessen wollen.

Dann kommt 4. eine ganz wesentliche und unverzichtbare Sache:
Die Mutter versucht zu keiner Zeit, das Kind in seiner Tätigkeit zu stören oder es davon abzulenken. Sie misst der Tätigkeit des Kindes einen hohen Stellenwert zu.

Stattdessen könnte sie auch irgendwann so etwas sagen wie: „Komm vom Fenster weg, geh lieber nach draußen bei dem schönen Wetter, musst du nicht noch dein Zimmer aufräumen, wasch dir erst mal die Hände, mal doch lieber ein schönes Bild…“ Was alles heißen kann: mal doch nicht schon wieder Zahlen, sondern tu, was Deinem Alter entspricht. Offenbar empfindet sie kein Unbehagen und lässt das Kind gewähren.

5. Als Carolin in Schwierigkeiten kommt, weil sie die zweistelligen Zahlen nicht schnell genug schreiben kann, greift die Mutter klug ein. Sie gibt dem Kind genau die Hilfestellung, die es in diesem Moment braucht, um mit seinem Vorhaben weiter zu kommen. Sie gibt ihm den Tipp mit der Strichliste. Damit gibt sie ihm gleichzeitig ein neues geistiges Werkzeug in die Hand.

Das Kind eignet sich dieses Werkzeug im Handumdrehen an und kann, wie man so sagt, zu neuen Ufern aufbrechen. Als Carolin die Autos fertig nach Farben sortiert hat, geht sie mit ihrem Blatt zur Mutter. Hier zeigt sich

6., dass das Kind daran glaubt, dass die Mutter sich dafür interessieren wird, dass sie versteht, was das Kind tun wollte, und dass sie seine Leistung angstfrei und positiv annehmen kann und sie nicht als verfrüht und unangemessen abweisen oder bagatellisieren muss.
Hinter diesem Zutrauen des Kindes steckt viel kluge Zuwendung durch die Mutter. Das ist Förderung, die in der Vergangenheit stattgefunden hat.

7. Carolin wählt die Farben Rot und Weiß, als sie die Autos nach Farben sortiert. Die Bildung der Kategorie „alle übrigen“ ist eine weitere ganz erstaunliche geistige Leistung für ein vierjähriges Kind. Die Mutter versteht auch dies und zeigt das Blatt abends dem Vater, der ebenfalls diesen großen geistigen Schritt des Kindes erkennt und würdigt, indem er sich darüber freut. Er bestätigt das Kind genauso selbstverständlich für diese Leistung, so wie er es auch bestätigen würde, wenn es im Schwimmbad zum ersten Mal vom Rand ins Wasser springt.

8. Carolin beschäftigt sich lange und ausdauernd mit ihrem Projekt. Die Mutter erkennt, dass sie noch voll bei der Sache ist und entschließt sich, ihr einen weiteren Denkanstoß zu geben, den das Kind begierig aufnimmt, als es den Küchenwecker holt.

Schließlich deutet 9. auch das selbstverständliche Hantieren mit dem Küchenwecker auf vorausgegangene Förderung hin.

Es war also nicht nur das aktuelle Verhalten der Mutter, das dem Kind geholfen hat, sein Vorhaben glücklich zu Ende zu bringen. Wir haben gesehen, dass es auch auf früheren Förderschritten durch die Eltern aufbauen konnte.

Es ist bei der Geschichte nicht so wichtig, ob Carolin auf diese Weise später vielleicht einmal eine kreative Wissenschaftlerin wird oder nicht. Es ist aber wichtig, dass das Mädchen an diesem Nachmittag eine intensive, geistig kreative Zeit verbringen konnte. Wenn man es fragen würde, würde es das vielleicht als besonders glückliche Zeit bezeichnen.

Dieses Beispiel ist ein Beleg dafür, dass einfühlsame und intelligente Förderung schon im Vorschulalter beginnen sollte. Malen Sie sich bitte die Frustration aus, die dieses kleine Mädchen ertragen müsste, wenn es nicht auf so viel Verständnis für seine Interessen treffen würde.

Beispiel 2 a: Malte langweilt sich

Ohne spezifisches Wissen zum Thema Hochbegabung geben Erzieherinnen gewollt oder ungewollt viele negative Signale an die Kinder. Kinder erfahren zum Beispiel immer wieder durch Reaktionen von Erzieherinnen, dass ihr Wissen und auch ihr Wissensdrang fehl am Platze sind.

Eine Situation, wie ich sie so oder so ähnlich des Öfteren beobachten konnte und in die ich zu Beginn meiner Arbeit als Erzieherin auch immer wieder mal verstrickt war:

Im Stuhlkreis wird über Tiere auf dem Bauernhof gesprochen. Die drei- bis sechsjährigen Kinder wollen alle mal dran kommen und etwas dazu sagen. Die jüngeren Kinder lernen zum Teil erst die Namen der Hoftiere und die zugehörigen Tierlaute. Einige Kinder wollen erzählen, was sie auf einem Bauernhof oder im Fernsehen gesehen haben. Ihre Erzählungen erschöpfen sich nach zwei bis drei einfachen Sätzen.

Der sechsjährige Malte war noch nie auf einem Bauernhof, aber er kennt ein detailreiches Bilderbuch, das er sich genau angesehen hat, und seine Eltern haben mit ihm über die „Eierproduktion“ gesprochen.
Er möchte darüber diskutieren, dass die Tiere in seinem Bilderbuch draußen auf der Wiese herumlaufen, dass aber die meisten Eier, die man kaufen kann, aus Legebatterien kommen. Er verwickelt die Erzieherin in ein Zwiegespräch darüber und erklärt ihr, was das für das „Glück“ der Hühner bedeutet und was „artgerecht“ heißt, nämlich dass Tiere so leben können, wie es ihren Instinkten entspricht. Er will wissen, wie das bei den anderen Hoftieren ist… Er ist noch lange nicht am Ende angekommen, sein Wissen darzulegen und seine Fragen zu stellen, aber die anderen Kinder werden unruhig, hören nicht mehr zu und machen Unsinn. Die Erzieherin ist beeindruckt, aber auch verstimmt, weil ihr der Stuhlkreis „aus dem Ruder läuft“ und weil sie auch Malte nicht gerecht werden kann. Sie stoppt ihn: „Ja, Malte, ist gut, wir wollen jetzt noch das Lied vom Hühnerhof singen.“

Maltes Bedürfnis nach längeren Gesprächen, die er mit der Erzieherin sucht, weil die anderen Kinder ihm erst recht nicht zuhören, ist riesig. Aber höchst selten ist Zeit dafür übrig. Er wird ganz oft „abgewimmelt“ oder vertröstet.
Er empfängt die Botschaft, lästig zu sein und sich unbotmäßig zu benehmen.
Oft besteht eine solche Situation der negativen Signale über Jahre, ohne dass das Kind eine ausgesprochen positive Reaktion der Erzieherin erhält.

Beispiel 2 b: Daniel langweilt sich auch

Der fünfjährige Daniel in meiner Gruppe reagierte zum Glück rebellisch. Zunächst gab er es auf, im Stuhlkreis lange Reden zu halten; stattdessen störte er immer mehr, machte Faxen, und irgendwann verweigerte er die Teilnahme und kam einfach nicht mehr in den Kreis, störte aber von außen.

In unserem Ganztagskindergarten war fast alles wirklich freiwillig, nur zum Stuhlkreis (und zum Mittagessen) sollten alle Kinder regelmäßig für eine halbe Stunde zusammen kommen. Ich wollte nicht zulassen, dass Daniel sich ganz und gar aus dem Stuhlkreis raus zieht, ich wollte ihn natürlich noch weniger in den Stuhlkreis zwingen.

Zu dieser Zeit war ich wochenlang alleine in der Gruppe, konnte also auch außerhalb des Stuhlkreises keine ausführlichen, ungestörten Gespräche mit Daniel führen oder ihn in spannende Kleingruppenarbeit einbinden.
In dieser Situation erwies sich folgendes Vorgehen als hilfreich:

    • Verständnis für Daniels Frustration zeigen,
    • ein positives Signal senden,
    • einen Vertrag schließen und einhalten,
    • ein zusätzliches Angebot, eine zusätzliche geistige
      Herausforderung in den Stuhlkreis einbauen.

Der Lösungsversuch entwickelte sich folgendermaßen:

Ich konnte einsehen, dass Daniel durch seine Erlebnisse im Stuhlkreis allmählich dauerfrustriert wurde. Alles, was dort gespielt oder gesungen wurde, war für ihn zu einfach und zum Teil lange bekannt. Weil gerade einige dreijährige Kinder neu in die Gruppe gekommen waren, wurden auch die aktuellen Ereignisse für ihn zu schlicht, zu einfach und zu langsam besprochen. Deshalb langweilte er sich oft.

Siehe auch: Dauerfrustration wegen Unterforderung und Unverständnis

Auch die kurzen Momente, in denen er schwierige Dinge erklären konnte, trösteten ihn nicht darüber hinweg, dass er den Stuhlkreis „ätzend“ fand.
Das Verständnis der Erzieherin nützt nichts, so lange es das Kind nicht erreicht. Also sprach ich mit Daniel und sagte ihm: „Ich verstehe, dass du dich im Stuhlkreis langweilst und nicht mehr mitmachen willst.“
Da ich seine Gefühle und seine Schlussfolgerung (nicht mehr mitmachen wollen) akzeptieren konnte, wirkte ich wohl glaubwürdig, und er unterstellte mir offenbar keinen pädagogischen Trick.

Als nächstes hatte ich das Bedürfnis, ihm ein positives Signal zu senden. Also sagte ich ihm: „Ich weiß, dass du vieles schon kennst und es dir oft alles zu langsam geht.“ Damit wurden seine eigene Wahrnehmung und sein Urteilsvermögen bestätigt.

Auf meine Frage, was wir machen könnten, damit es besser wird, antwortete er: „Ich kann ja, wenn Morgenkreis ist, nach draußen gehen.“ (Er meinte: ins Außengelände.)

Da konnte ich ihm nur sagen: „Ja, das könntest du und ich weiß auch, dass du alleine draußen keinen Unsinn machen würdest.“ Daniel nickte und sah mich ernst und mit großen Augen an.

Mir wurde inzwischen klar, dass es mir nicht gefallen würde, wenn er überhaupt nicht mehr beim Morgenkreis mitmachen würde. Aber wie sollte ich ihm das erklären?
Ich sagte ihm schließlich offen: „Ich möchte nicht, dass du überhaupt nicht mehr beim Morgenkreis mitmachst; denn dann würdest du doch manches nicht mitkriegen, was wir besprechen. Und es ist doch auch die einzige Gelegenheit am Tag, bei der mal alle zusammen im Kreis sitzen und sich als ganze Gruppe erleben.“
Diesen Argumenten verschloss sich Daniel nicht. Er sah mich weiter erwartungsvoll an.

Der Vertrag

Ich musste also einen Kompromiss finden. Nun schlug ich ihm vor, einen Vertrag auszuhandeln.

Ich fragte ihn: „Wie wäre denn das: Montag, Mittwoch und Freitag kommst du in den Morgenkreis, Dienstag und Donnerstag kannst du nach draußen gehen. Daniel überlegte und stellte sachlich fest, dass ich dann aber im Vorteil wäre, „weil das eine wären drei und das andere nur zwei Tage“.

Er hatte Recht, der Vertragsvorschlag war unausgewogen. Also sagte ich es ihm auch: „Da hast du Recht; da muss ich wohl noch was drauf legen.“
Nach kurzem Nachdenken versprach ich ihm, mir montags, mittwochs und freitags für den Morgenkreis eine ganz spezielle Frage nur für ihn auszudenken – egal welches Thema wir gerade haben. Wenn ich es vergessen sollte, müsste er mich daran erinnern.

Daniel stimmte zu.

Dieser Vertrag funktionierte. Daniel kam zuverlässig dreimal in der Woche in den Stuhlkreis, er wusste immer genau, welchen Wochentag wir hatten, und verhielt sich entsprechend. Zu meinem Erstaunen und meiner Erleichterung war es ihm sofort ab Vertragsabschluss plötzlich wieder möglich, sich konstruktiv zu verhalten. Er störte nicht mehr, sondern übernahm willig kleine Aufgaben, wozu er ohne den Vertrag nicht bereit gewesen war, zum Beispiel eine Kindergarten-Regel noch mal für die Kleinen erklären.

Er merkte sofort auf, wenn „seine Spezialfrage“ kam. Dann blickte er kurz zu mir, schmunzelte und antwortete.

Ich hatte von nun an das Problem, montags, mittwochs und freitags etwas für ihn parat zu haben. Es war nicht immer eine Frage, manchmal auch nur eine kleine zusätzliche Bemerkung, die mir spontan einfiel. Ich muss sagen, es machte mir großen Spaß.

Ein Beispiel:
Vor Ostern verzierten einige Kinder Eier und wir kamen im Morgenkreis auf das Leben der Hühner zu sprechen, ähnlich wie im oben stehenden Beispiel von Malte. Nur dass Daniel mit seinen knapp 5 Jahren noch kein Wissen zu den verschiedenen Arten der Hühnerhaltung hatte.

Jedenfalls „schickte“ ich ihm die Bemerkung: „Ja, und manche Legehennen sitzen in Käfigen mit einer Grundfläche eines DIN A4-Blattes.“ Die anderen Kinder überhörten diese schnelle Bemerkung, aber Daniel sandte einen fragenden Blick.

Nach dem Morgenkreis kam er zu mir, ein Blatt Papier in der Hand und fragte: „Das ist doch DIN A 4, oder?“ – „Ja.“ – „Aber da passt doch gar kein Huhn drauf, oder?“ – Doch, es ist wirklich so, und es ist eine üble Tierquälerei, die dringend verboten werden muss.“

Dann war die Ruhe zum Gespräch wieder vorbei – aber Daniel hatte etwas zum Nachdenken und ging mit seinen Gedanken und Fragen auch zu seinen Eltern.

Bemerkenswert fand ich, dass Daniel mit so wenig zusätzlicher Förderung zufrieden war.

Er war sogar so entspannt, dass er großzügig reagieren konnte, wenn ich die „Spezialbemerkung“ mal vergessen hatte.

Er nahm es nicht übel und stellte deswegen seine Vertragserfüllung nicht in Frage.

Offenbar war es ihm wichtig, sich verstanden und ernst genommen zu fühlen. Und ich gab ihm zu jedem Thema einen besonderen kleinen Impuls zum Denken – für mich eine Minutensache, für ihn wohl mehr.

Dann kamen – was die Personalsituation angeht – wieder bessere Zeiten und eine intensivere Förderung wurde wieder möglich.

 

Datum der Veröffentlichung: Oktober 2013
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.

 

Quality Criteria for the Advancement of Gifted Pre-School Children in Kindergarten

 

by Hanna Vock

 

An attitude that is supportive of giftedness

  • appreciating giftedness and thereby promoting a trusting relationship.

Targeted individual observation

  • by the use of applicable guidelines for observations,

as best soon after the beginning of attendance in kindergarten

  • in order to identify the fortes, skills and interests of the child
  • in order to determine what the child is intellectually occupying itself with, what it is fascinated by, what it is pondering and the way it thinks
  • documentation of these observations

Continuous observation of everyday life in kindergarten

  • and evocative observations in order to verify and substantiate early impressions

Appreciation

  • of the extraordinary fortes and interests of the child
  • even if these are „intellectual“ interests and dealing with academic topics

Active communication of that appreciation

  • directed at the gifted child, its parents and the other children in the group.

Casual research

  • in cases of noticeably aggressive or depressive moods
  • considering as a possible cause for these that the child is permanently not challenged enough
  • put an end to this not being challenged enough and watch whether the child then becomes more balanced, happier and more active

Integrating the child in the group

  • by enhancing communication between the gifted child and the other children
  • by incorporating the gifted child’s interests and ideas for playing in projects
  • by taking into account the child’s possibly asynchronous cognitive and emotional development

Organising „clusters“ of gifted children,

  • in order to provide positive group experiences
  • in order to experience encouragement and stimulation by other gifted children
  • in order to promote satisfying playing and learning experiences for the child

Deliberately holistic advancement

  • in projects – regardless of who initiates them, children or teachers
  • always addressing several developmental domains simultaneously

Facilities and equipment at the kindergarten

  • games and materials for playing, books and other media which are apt to provide stimuli and challenges even for a gifted child

Experts

  • Invite them to kindergarten or go and meet them outside of kindergarten .

An athmosphere of genuine voluntariness

  • should be created in activities.
  • Any kind of pressure to perform should be avoided.
  • As long as the child is always free to withdraw and does not have to fulfill the adults’ expectations there is hardly a chance that it will feel overwhelmed

Avoid too little challenge

  • Ascertain the child’s potentials.
  • Fully utilize the gifted child’s potential at its individual pace of learning.

Allow for „race tracks“

  • Overcome your own reservations
  • Encourage parents not to decelerate their child’s developmental pace.

Find a favourable time for school enrolment

  • together with the child, the parents and the school.

Supportive cooperation with primary school

  • is to be sought actively.

At best the entire team of a kindergarten assumes an attitude that is supportive of giftedness.

It is also vital that professional openness and competent communication prevail among the team. But even if it is only one person in the team who implements measures of advancement for gifted children, this is a great gain for these children.

 

This article was written in collaboration with the “Kita Sedanstraße” in Remscheid, which was certified “Integrative Focus Kindergarten for the Advancement of Gifted Children” in 2006.

The translation of this article was made possible by
Heike Miethig, Alsdorf, und Helma Dressen, Aachen.

Die Kita als guter Lernort

 von Hanna Vock

 

Der Kindergarten ist ein guter Ort zum Lernen…

… und für die Förderung hoch begabter Kinder.

Die Ursachen dafür sind:

1. Die Strukturen des Kindergartens sind (im Vergleich zur Schule) günstig. Der Kindergarten – und hier insbesondere der Ganztagskindergarten – bietet unzerteilte Zeiträume, die für Projekte jeder Dauer und Intensität genutzt werden können. Es gibt keine Pausenklingel, keine Fächergrenzen, Kinder und Erzieherin können ein Thema oder einen Gegenstand von allen Seiten praktisch und theoretisch beleuchten.

2. Die Kinder haben Freiräume in Form des Freispiels. Sie können sich ihre Tätigkeit, ihr Material und ihre Spielgefährten in großen zusammenhängenden Zeiträumen frei aussuchen und ihre eigenen Ziele verfolgen.

3. Die engagierte Erzieherin begreift sich als Beobachterin und Unterstützerin von Lernprozessen der Kinder, gibt aber durch thematische Angebote Anregungen in die Gruppe. Der Kindergarten ist offen für vielfältiges Spiel- und Arbeitsmaterial.

4. Die Erzieherin kann immer wieder, auch spontan, mit einer nach Fähigkeiten und Bedürfnissen zusammengestellten Kleingruppe konzentriert arbeiten. Sie muss dabei nicht die ganze Gruppe im Auge haben, da sie an vielen Tagen eine zweite pädagogische Fachkraft in der Gruppe hat.

5. Das Herausgehen aus dem Kindergarten, hinein in die weitere Umgebung zum Zwecke des erkundenden Lernens ist im Kindergarten vergleichsweise einfach und spontan zu verwirklichen.

6. Die Eltern sind im Kindergarten häufig anwesend; Gespräche “zwischen Tür und Angel”, bei denen Erzieherin und Eltern ihre Eindrücke und Ideen austauschen können, sind im Prinzip täglich möglich.

Der Kindergarten hat hiermit Möglichkeiten, um die Pädagogen in vielen Schulen erst mühsam ringen müssen.

Weiter ist bedeutsam, dass die Kindergartenpädagogik (Elementarpädagogik) in Deutschland grundsätzlich postuliert, an den Bedürfnissen und also auch an den Lernbedürfnissen der Kinder anzusetzen.

Ganzheitliches Lernen, Lernen in Lebenszusammenhängen, Wahrnehmen des einzelnen Kindes in der Gruppe sind von daher für engagierte Erzieherinnen selbstverständlich.

Merkmale eines angemessenen Spiel- und Lernumfeldes im Kindergarten

Damit diese guten strukturellen Voraussetzungen des Kindergartens in eine effektive Hochbegabtenförderung umgesetzt werden können, müssen weitere Bedingungen erfüllt sein:

  • Forschendes Lernen muss eine wichtige Rolle spielen.
  • An Stelle von Altersnormen muss der Entwicklungsstand des einzelnen Kindes über das kognitive Niveau der Angebote an das Kind entscheiden.
  • Intellektuelle Fähigkeiten und Tätigkeiten der Kinder müssen wertgeschätzt und unterstützt werden.
  • Kinder dürfen nicht mit der Begründung der Defizitaufarbeitung zu Tätigkeiten gedrängt werden, für die sie keine innere Bereitschaft spüren.
  • Geistige Tätigkeit ist als Aktivität zu werten. Ein beobachtendes und nachdenkendes Kind soll nicht zu anderen Tätigkeiten (“Spiel doch mal was!”) gedrängt werden.
  • Es muss aktiv nach Spielpartnern Ausschau gehalten werden, die sich auf einem ähnlichen intellektuellen Niveau austauschen können.
  • Im Rahmen der Kleingruppenarbeit muss es möglich sein, nicht nur, aber doch immer wieder auch Kleingruppen mit ähnlich begabten Kindern zu bilden.
  • Es ist die Bildung integrativer Gruppen mit mehreren hoch begabten Kindern in Angriff zu nehmen.
  • Erzieherinnen müssen über spezifisches Wissen zum Thema Hochbegabung verfügen und Möglichkeiten zum fachlichen Austausch darüber erhalten, damit sie auch gegenüber den hoch begabten Kindern den Bildungsauftrag des Kindergartens erfüllen können.
  • Die Zusammenarbeit mit den aufnehmenden Grundschulen muss von beiden Seiten qualifiziert werden, um den Übergang hoch begabter Kinder in die Schule fördernd und für die Familien stressarm zu gestalten.
  • Die Standards zur Ausgestaltung von Kindergärten (Personalbesetzung, Gruppengrößen, Raumangebot, Größe des Außengeländes, materielle Ausstattung) dürfen nicht verschlechtert, sondern sollten weiter verbessert werden, da sonst die Aufgabe der Hochbegabtenförderung nicht zufrieden stellend geleistet werden kann.

Siehe auch:
Was können wir im Kindergarten tun?

Drei Ebenen der Hochbegabtenförderung

Rahmenbedingungen verbessern!

Integrative Schwerpunktkindergärten

Märchenprojekt mit Carina

– Ein Mädchen zeigt und entwickelt seine Talente –

von Silke Boden

 

Carina, 6 Jahre alt, ist ein vielseitig interessiertes und begabtes Kind. Wir hatten ihre Einschulung empfohlen, die Eltern hatten aber anders entschieden. Nach den Sommerferien hatte sie wieder enorme Schwierigkeiten. Sie wirkte schlecht orientiert, unlustig, demotiviert; sie langweilte sich, schlug Spielangebote aus. Die Kommunikation mit ihr war sehr reduziert. Sie zog sich in Spielecken oder den Malraum zurück.

Bedingt durch die Neuaufnahme von zwei Säuglingen waren wir Erzieherinnen gut ausgelastet, und wir und die Kinder brauchten einige Wochen, um wieder einen Rhythmus zu finden.

Carinas Situation machte mir große Sorgen, und ich füllte mit ihr gemeinsam den Kinder-Fragebogen von Huser aus. Danach hatte ich den Eindruck, dass es ihr besser ging. Sie kam morgens wieder freudig auf mich zu und erzählte Erlebnisse aus ihrem Alltag.

Die Idee, ein Märchen zu spielen, kam von Carina. Sie hatte den Wunsch, Rotkäppchen zu spielen, und sie wollte das Rotkäppchen sein. Schon zu diesem Zeitpunkt war ihr auch die Präsentation vor Zuschauern wichtig. (Es wurden dann dazu später die Kinder und Erzieherinnen der Einrichtung eingeladen.)

1. Vorbereitungen

Carina hatte klare Vorstellungen über die Requisiten. Sie zeichnete eine Utensilienliste und gab sie an uns weiter. Sie konnte die Geschichte gut erzählen und schmückte sie mit reichem Wortschatz sowie guter Betonung beim Erzählen in der Gruppe aus.

Sie hatte Vorschläge für Mitschauspieler, zum Beispiel „Noah als Jäger“ oder „Selin als Mutter“ und hatte auch Ideen zum Bühnenbild. So schlug sie zum Beispiel vor, Krepp-Papier-Blumen zu basteln, die Rotkäppchen dann pflücken könne.

Wir – die Erzieherinnen – unterstützten Carina in der Auswahl der übrigen „Darsteller“, wobei wir auf die Fähigkeiten achteten. Außer Carina war noch Lasse, der den Wolf spielte, in der Lage, den Text völlig alleine zu sprechen. Bei Selin, die Mutter und Oma spielte, sowie bei Noah, der den Jäger spielte, war dies nur mit unserer Unterstützung (Text erzählen) möglich.

Sehr wichtig waren Carina die Kostüme. Sie freute sich, nach einigen „Trockenproben“ richtig über die erste Kostümprobe! Sie zeigte schauspielerisches Talent, was sich schon in den Proben in Sprache, Mimik und Gestik ausdrückte.

Alle Kinder waren in die Vorbereitungen einbezogen. Sogar die zweijährige Jennifer bemalte einen Tannenbaum. Antonia malte die Einladungskarten für die übrigen Gruppen.

2. Vorführung

Leider musste der erste geplante Termin für die Vorführung verlegt werden, da an dem Tag Carina und Lasse krank waren.

So verzögerte sich die Aufführung um zwei Wochen. Alle Kinder waren dennoch motiviert, das Stück auch später noch zu spielen.

Carina spielte ihre Rolle sehr konzentriert.

Sie hielt sich an den Ablauf der Geschichte und kannte genau die Abfolge der Handlungen. Sie half Selin, die leichte Textschwierigkeiten hatte, zum Beispiel durch leises Zuflüstern. Carina versuchte auch immer während der Vorführung zum Publikum gewandt zu sein, wie wir es bei den Proben versucht hatten. Sie nahm am Ende des Stückes den Applaus zufrieden lächelnd entgegen.

3. Zusammenfassende Auswertung

Carina hat selbst eine Idee mitgebracht, welche für sie eine Herausforderung bedeutete und bei der sie ihre Fähigkeiten präsentieren konnte.

Sie spielte gerne die Hauptrolle in diesem Stück, weil dies bedeutet, dass sie ihre Fähigkeit, darstellerisch zu agieren, präsentieren konnte. Ebenso konnte sie ihre sprachlichen Fähigkeiten zeigen. Sie war in der Lage – mit kleinen Hinweisen – die Geschichte folgerichtig in eigener Sprache fortzusetzen und gleichzeitig darstellerisch zu präsentieren. Carina brauchte nur wenige Proben.

Vorstellungskraft und Überblick über den Handlungsablauf sind bei ihr sehr gut ausgeprägt, und sie setzt alles sofort in Spielhandlung um. Die anderen Kinder benötigten mehrere Proben, welche für Carina langweilig wurden. (Sie wird dann schnell albern und lenkt die anderen ab.) Nach Ermahnung von unserer Seite lenkte sie wieder ein, da sie wohl einsah, dass die anderen die Proben brauchten.

Wie wäre es für sie wohl gewesen, wenn sie kongeniale Spielpartner gehabt hätte?

Carina fragte schon früh immer wieder nach den Kostümen, die dann – als sie dazu kamen – Carinas Konzentration noch einmal stärkten und ihr darstellerisches Talent noch deutlicher werden ließen.

Carina bewegte sich tänzerisch anmutig im Rotkäppchenkleid und spielte wieder konzentrierter mit. Sie zeigte Ausdauer beim Herstellen von Papierblumen und beim Malen der Kulissen.

Während des Projektes zeigte sie ein hohes Maß an Geduld mit den anderen Mitspielerinnen, welche längere Zeit zum Üben benötigten.

Sie versuchte, sie zu unterstützen, indem sie z. B. vorsichtige Zeichen gab oder Text vorflüsterte. Sie zeigte sich kooperativ anderen gegenüber und konnte abwarten, bis die anderen ihre Rolle „erlernt“ hatten.

Ich glaube, dass Carina durch ihre Idee und das Spielen der Hauptrolle so viel Gelassenheit bekam, die Fehler und Unzulänglichkeiten der anderen hinnehmen und aushalten zu können. Das kann sie sonst im Alltag häufig nicht.

Während des Projektes war sie plötzlich sehr entgegenkommend. Sie konzentrierte sich auf ihre Rolle und füllte sie sprachlich, mimisch und darstellerisch sehr gut aus. Carina präsentierte sich gerne vor Publikum und hatte keine Ängste, vor vielen Menschen zu stehen und zu agieren. Sie wollte ihre Rolle perfekt spielen und hatte eine genaue Vorstellung davon, was „perfekt“ ist.

Im Gegensatz zu den anderen Kindern brauchte Carina von uns Erwachsenen nur wenig Hilfestellung.

Club der starken Mädchen

Vortrag bei der 4. IHVO-Fachtagung am 5.5.07

von Gabriele Drescher-Krumrey

Der „Club der starken Mädchen“ war eine Arbeitsgemeinschaft in meinem Kindergarten, die ich im Rahmen des IHVO-Zertifikatskurses Köln 2 entwickelt habe.

Ausgangspunkt war meine Beobachtung über viele Jahre, dass Mädchen oft

  • sehr vernünftig sind,
  • brav sind,
  • angepasst sind,
  • immer hilfsbereit sind,
  • leichter zu überzeugen sind,
  • sich im Spiel leiser verhalten,
  • mehr Verständnis für andere zeigen (müssen? sollen?),
  • durch Einfluss von außen ihre eigenen Bedürfnisse relativ schnell zurückstellen.

Mit meinem Club wollte ich Mädchen ein neues Umfeld zum Lernen zur Verfügung stellen. Sie sollten Erfahrungen sammeln, wie es ist, wenn sie nur mit Mädchen zusammen auf Entdeckungsreise gehen können.

Zur Beschreibung der einzelnen Clubstunden:

1.-5. Clubstunde: Was ist ein starkes Mädchen?

6. Clubstunde: Möhren-Experiment

7.-11., 15.-18., 21. Clubstunde: Welt der Berufe

 

Für mich persönlich konnte ich im Rahmen meiner Zusatzqualifikation am IHVO meine Vorstellung ausprobieren, eine gleichgeschlechtliche Gruppe im Kindergartenalter zu leiten. Ich entschied mich bewusst für die Mädchengruppe, da mich dieses Thema schon länger interessierte. Gleichzeitig bedauerte ich, dass ich aus Zeitgründen nicht parallel dazu die Jungengruppe leiten konnte, diese leitete eine Kollegin von mir.

Meine Erfahrungen wären ansonsten sicher vielfältiger und aussagekräftiger in Bezug zum unterschiedlichen Verhalten von Jungen und Mädchen in gleichgeschlechtlichen Kindergarten-Lerngruppen geworden. Inzwischen habe ich über zwei Monate eine reine Jungengruppe geleitet und auch dazu einige Erfahrungen gesammelt.

Warum Lina?

Als ich unsere Kindergartenkinder intensiv beobachtete, machte ich insbesondere bei Lina (Name geändert) eine interessante Entdeckung: Ich stellte fest, dass Lina sich, man kann sagen, perfekt auf ihre „Umwelt“ und deren Erwartungen an ihre Person einstellte und diese erfüllte.

Im Kindergarten fiel Lina durch ihr sehr ruhiges, zuverlässiges, ausdauerndes, besonnenes, beobachtendes, soziales und auch ehrgeiziges Verhalten auf. Lina äußerte nicht, dass es ihr langweilig war, sie fiel auch nicht durch aggressives Verhalten auf.

Sie war die Älteste von drei Geschwistern (zwei Mädchen und ein Junge), Lina war, als der Club startete, 5;4 Jahre alt. Die Eltern teilten uns in einem Gespräch mit, dass Lina zu Hause alle Anforderungen sicher und zuverlässig erfüllt. Sie haben keine besonderen Interessen und Begabungen beobachtet, ihnen war nur aufgefallen, dass Lina alle Bilderbücher langweilen und sie den Eltern oder Geschwistern die Buchauswahl überlässt.

Meinen Kolleginnen war seit einigen Wochen aufgefallen, dass Lina oft die Aufgabe der Erzieherinnen übernommen hatte, indem sie die Kinder aufforderte, sich an Regeln und Grenzen zu halten. Die Kinder akzeptierten Lina in ihrer Rolle, aber meine Kolleginnen waren besorgt, ob die Kinder dies auf Dauer annehmen würden. Sie versuchten Lina zu entlasten und ihr durch Gespräche deutlich zu machen, dass sie nicht für die anderen Kinder und deren Verhalten verantwortlich ist.

In den vier Wochen zuvor hatte sie sehr viel gewebt und gestickt. Ab und zu war sie auch in unserem Bewegungsraum und hatte dort mitgetanzt, Hütten gebaut, war fröhlich, ausgelassen und hatte auch mit gesungen und laut gerufen.

Dies war ein verändertes Verhalten von Lina, unserer Meinung nach ein wichtiger Entwicklungsschritt für sie.

Ich wollte durch meine Beobachtungen im Alltagsgeschehen und während meiner Angebote im Freispiel Linas verborgene Fähigkeiten und Begabungen erkennen und Begründungen für ihr Verhalten herausfinden.

Durch meine gezielten Beobachtungen wollte ich eine möglicherweise besondere Begabung oder möglicherweise eine Hochbegabung erkennen, um Lina angemessen in ihrer Entwicklung begleiten und fördern zu können.

Bei meinen Beobachtungen hatte ich bei Lina noch keine besonderen Interessen oder Begabungen festgestellt, und auch Lina stellte keine eigenen Forderungen oder teilte ihre besonderen Interessen mit. Diese Erfahrung motivierte mich, den „Club der starken Mädchen“ zu gründen. Ich wollte Lina und den anderen Mädchen die Möglichkeit bieten, ihre besonderen Interessen, Begabungen und Fähigkeiten herauszufinden.

Folgende Punkte haben mich zu der Ansicht gebracht, Lina in den Mittelpunkt meiner Überlegungen zu stellen:

  • Lina ist ein Mädchen.
  • Lina bleibt noch längere Zeit in unserer Einrichtung.
  • Lina findet ihre Bilderbücher zu Hause uninteressant.
  • Lina ist bei neuen Aufgaben, die sie interessieren, sehr ehrgeizig, ausdauernd und zielstrebig.
  • Lina beobachtet intensiv, was um sie herum passiert.
  • Lina zeigt eine große soziale Kompetenz.
  • Lina wirkt sehr ernst und introvertiert.
  • Lina stellt keine besonderen Forderungen an die Eltern und Erzieherinnen.

Ich wollte durch meine Beobachtungen im Alltagsgeschehen und während meiner Angebote im Freispiel Linas verborgene Fähigkeiten und Begabungen erkennen und Begründungen für ihr Verhalten herausfinden.

Zwei Beobachtungen zu Linas sozialer Kompetenz finden Sie unter dem Titel
Lina hat pädagogisches Talent.

Durch gezielte Beobachtungen kann ich eine mögliche besondere Begabung oder eine mögliche Hochbegabung erkennen, um Lina dann angemessen in ihrer Entwicklung begleiten und fördern zu können.

Lernmöglichkeiten, die ich für Lina schaffen wollte:

Lina soll durch die ganzheitlichen Erfahrungen mit ihrer Person und den Erfahrungen mit den anderen Mädchen der Gruppe lernen:

  • ihr Selbstbewusstsein zu spüren und anzunehmen
  • mutig ihre Bedürfnisse einzufordern
  • sich für ihre Bedürfnisse einzusetzen

Sie sollte nicht ihre Fähigkeit, sich auf andere einstellen zu können vertiefen, sondern erfahren:

  • Was kann ich mit mir, für mich, mit anderen Mädchen zusammen erleben?
  • Was macht mir dabei Freude?
  • Was spricht dabei meine Bedürfnisse an und befriedigt mich?
  • Welche Wünsche habe ich dabei entdeckt, die mir noch nicht deutlich waren?

Meine Beobachtungen von Lina nach nur wenigen Clubangeboten waren sehr positiv für mich und vor allem für Lina. Ich sah Lina öfter Spiele spielen, die ihren Fähigkeiten entsprachen, und sie spielte sie vermehrt mit gleichaltrigen Kindern der Gruppe.

Sie war beim Spielen fröhlicher, lachte und hüpfte öfters zwischen den Spielschritten durch den Raum. Dieses Verhalten hatte ich zuvor so nicht beobachten können, sie war eher ernst und verschlossen gewesen.

Zielsetzung für alle Kinder im „Club der starken Mädchen“:

Ich wollte durch meine Angebote bei Lina und allen „Starken Mädchen“ besondere Begabungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse bewusst machen, fördern und stärken. (Das Alter der anderen Mädchen war: 5,0 bis 5,9 Jahre.)

Vor allem diese Ziele waren mir wichtig:

  • Stärken des Selbstwertgefühles.
  • Erkennen der eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse.
  • Welche Sinne und Eigenschaften stehen ihnen zur Umsetzung ihrer Bedürfnisse zur Verfügung?
  • Was und wie können sie ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse für sich einsetzen?
  • Wer kann sie bei der Umsetzung ihrer Bedürfnisse unterstützen?
  • Mit welchen eigenen Mitteln und Fähigkeiten können sie sich Hilfe anfordern?
  • Welche Fähigkeiten haben sie bei sich geweckt, was macht ihnen auch noch viel Freude und was interessiert sie auch noch?
  • Wie können sie ihrer Umwelt zeigen, welche Interessen, Bedürfnisse und Fähigkeiten in ihnen vorhanden sind?
  • Fähigkeiten zur Kontaktaufnahme fördern und stärken.
  • Das anstehende Gruppenthema vertiefen.
  • Wissen erweitern.
  • Lernprozesse in einer gleichgeschlechtlichen Gruppe erfahren.

Aufbau und Methoden der Angebote:

Bei meinen Angeboten war es mir wichtig, folgende Punkte zu beachten:

  • Zielgruppe und Kind
  • Themenauswahl
  • Begründungen für das Thema
  • Zielsetzungen zum Thema in Bezug zum einzelnen Kind und zur Gruppe
  • Fragestellungen aus der Sicht des Kindes / der Kinder
  • Förderung aller Sinne durch ganzheitliche Erfahrungen
  • Wissenserweiterung durch Freude am Lernen erreichen

Die Angebote umfassten folgende Tätigkeiten:

  • malen, basteln,
  • sprechen, singen, rufen, schreien
  • spielen,
  • springen, laufen, tanzen toben
  • meditieren, träumen, fühlen, erspüren
  • überlegen, nachdenken, ausdenken
  • nichts tun, da sein
  • erfinden, erforschen, erkennen
  • Exkursionen,
  • Theater spielen, aufführen
  • sich selbst zeigen, darstellen
  • Freude am und beim Lernen erleben
  • Ich sein

Die Clubstunden:

Der „Club der starken Mädchen“ fand regelmäßig einmal pro Woche im Kindergartenjahr 2005/2006 statt. Diesen Zeitrahmen würde ich nach meinen Erfahrungen auch empfehlen.

Die Arbeit mit den „Starken Mädchen“ war geprägt durch Neugierde – bei den Mädchen wie auch bei mir selbst -, was wir als nächstes entdecken und ausprobieren würden. Dadurch war es in keiner Phase erforderlich, die Mädchen besonders zu motivieren, am Club teilzunehmen.

Der Aufbau der Clubstunden hatte folgende Schwerpunkte

  • Wissenserweiterung
  • Spiel
  • Selbsterfahrung
  • Selbstwahrnehmung

Diese Punkte sind nicht immer klar zu trennen, da sie fließend ineinander übergehen und für mich Grundlage einer ganzheitlichen Förderung sind.

Der Erfolg des Clubs bestätigt diese Methode.

Der Club entwickelte eine Eigendynamik, und mir wurde nochmals deutlich, dass wir Kindern nur ein ideales Umfeld bieten und ihr Selbstbewusstsein gezielt stärken müssen. Dadurch kann Lernen als Lust und mit Freude erfahren, wahrgenommen und gelebt werden.

Im „Club der starken Mädchen“ haben die Mädchen ihr Lernfeld gefunden und wahrgenommen. Im Club waren sieben Mädchen, davon waren sechs Mädchen sehr fit, nur ein Mädchen hatte durch ihre Sprachprobleme teilweise Schwierigkeiten. Die anderen Mädchen haben ihr durch ihre soziale Kompetenz immer Unterstützung angeboten. Ich habe keine Situation beobachtet, in der die pfiffigen Mädchen sie ausgegrenzt hätten.

Die weiteren Themen in unserem Club orientierten sich an unseren Kita–Themen:

„Fühlen, wie es schmeckt!“ und „Forscher, Künstler und Erfinder, ja das interessiert uns Kinder!“

Anlage, Verlauf und Auswertung der einzelnen Clubstunden sind hier beschrieben:

1.-5. Clubstunde: Was ist ein starkes Mädchen?

6. Clubstunde: Möhren-Experiment

7.-10. Clubstunde: Welt der Berufe

Schlussfolgerungen zum „Club der Starken Mädchen“:

Die „starken Mädchen“ machten vielfältige Erfahrungen im Club. Sie experimentierten, entdeckten, hinterfragten, spielten, malten, bewegten sich, tanzten, erzählten, besuchten, besichtigten, lernten kennen, hatten Spaß, erweiterten ihr Wissen, erweiterten ihr Selbstbewusstsein und entwickelten sich zu noch stärkeren Mädchen.

Lina hat durch den Club sicher am deutlichsten an Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Mut zum unabhängigem Denken und Handeln gewonnen. Sie ist aufgeschlossener, fröhlicher geworden und kann ihre Gefühle besser wahrnehmen, äußern und ausleben. Sie kann dadurch auch offener und unbedenklicher auf Andere zugehen. Lina hat zu zwei Mädchen aus dem Club eine Beziehung aufgebaut, und ich hoffe diese Beziehungen bestehen noch weiter.

Sie zeigte im Club großes Interesse, schreiben und lesen zu lernen und sie hat ein sehr gutes mathematisches Verständnis. Lina erkennt wesentliche Zusammenhänge in kurzer Zeit und kann diese zusammenfassen und wiedergeben.

Nachdem sie sich im Club sicher fühlte, beteiligte sie sich immer schneller am Gespräch und meldete sich auch als Erste zu Wort. Ihre anfänglich abwartende Haltung und Rücksichtnahme veränderten sich, und sie konnte für sich und ihre Bedürfnisse Raum einnehmen.

Sie malt gerne, aber sie zeigt keine besondere Begabung beim Malen. Ihr besonderes Interesse gilt der Musik, Lina singt sehr gerne und auch sehr gut.

Weitere Themen, die ihr Interesse ansprechen, habe ich nicht beobachten können, aber sie ist allen aktuellen Themen gegenüber aufgeschlossen und arbeitet aktiv daran mit. Sie stellt sich allen Herausforderungen, denkt gerne darüber nach und teilt ihre Überlegungen der Gruppe mit.

Diese Sicherheit, dass ihre Gedanken und ihr Wissen für andere interessant sind, hat sie in den Clubstunden erfahren und gewonnen.

Lina hat die Aufgaben beim Schultest sehr selbstbewusst, zügig und perfekt durchgeführt. Nach Aussage der Mutter war die Ärztin von Lina und ihrer Arbeitsweise überrascht und begeistert. Bei unserem Schulbesuch mit allen Vorschulkindern konnte Lina alle Aufgaben selbstständig – und schneller als die sie begleitende Schülerin – erledigen. Die Schülerin fragte mich, warum Lina schon soviel lesen und rechnen kann, da sie doch noch nicht in die Schule gehen würde. Lina sagte, ich kann das eben schon, aber sie freute sich sehr über diese Erfahrung. In der folgenden Zeit teilte sie mir oft mit: „Ich freue mich auf die Schule“.

Insgesamt wollten alle starken Mädchen endlich zur Schule gehen, was für alle Mädchen außer einem „Kann-Kind“ auch bevorstand, da sie schulreif und schulpflichtig waren.

Die „starken Mädchen“ und auch ich erfuhren, dass Mädchen in einer gleichgeschlechtlichen Gruppe sehr partnerschaftlich, unterstützend, verständnisvoll und kommunikativ lernen können.

Lernen funktioniert auch ohne Konkurrenz, Kampf, Herabsetzung und Missachtung. Mit gegenseitigem Verständnis, Hilfestellungen und gemeinsamen Zielen ist Lernen durch Freude und nachhaltiges Wissen geprägt.

Mein „Club der starken Mädchen“ ist ein Angebot, das hoch begabten Kindern, aber auch allen Kindern der Gruppe eine angemessene Förderung ihrer Fähigkeiten, Begabungen und Interessen anbietet.

Wir Erzieherinnen sollten über die Möglichkeiten nachdenken, wie wir unseren Kindern in den Kitas nach unterschiedlichen Kriterien Projekte anbieten könnten:

  • Entwicklungsstand
  • Geschlecht
  • Fähigkeiten
  • Interessen
  • Begabungen
  • Ressourcen der Erzieherinnen
  • Ressourcen der Eltern
  • Ressourcen der Einrichtungen

(Siehe auch: Förderung in Kleingruppen – Möglichkeiten und Vorteile.)

Mein Projekt „Club der Starken Mädchen“ ist für mich selbst mit immer neuen Herausforderungen in meiner Arbeit verbunden. Sie macht mich lebendig und macht mir sehr viel Freude (nicht nur den Kindern).

Deshalb möchte ich diesen Weg weiter entwickeln und hoffe, dass durch die zurzeit stattfindende öffentliche Diskussion um Jungenförderung nicht wieder die Mädchen vergessen werden. Für mich steht die Förderung aller Kinder im Mittelpunkt.

Mehr zu Lina lesen Sie hier:

Was ist ein starkes Mädchen?

Lina hat pädagogisches Talent

Möhren-Experiment

Welt der Berufe

 

Copyright © Gabriele Drescher-Krumrey, siehe Impressum.
Datum der Veröffentlichung: 5.5.07

Mädchen setzen sich durch

 

Alle Kindernamen wurden verändert.

Durchsetzungsfreudige Mädchen:
Das ist immer noch ein heikles Thema.

Um sich damit intensiver auseinander zu setzen und vielleicht eigene (zu zurückhaltende?) Haltungen und Vorstellungen zu hinterfragen, empfehle ich den Klassiker:

Ute Ehrhardt, Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin.

– Und von derselben Autorin die Fortsetzung: Und jeden Tag ein bißchen böser.

Beide als Taschenbücher erschienen im Wolfgang Krüger Verlag.