Aggressiv-übergriffiges Verhalten und Hochbegabung

von Hanna Vock

 

Vor drei Jahren erschien hier im Handbuch der Beitrag „Dauerfrustration wegen Unterforderung und Unverständnis“.

Darin steht unter anderem, dass hoch begabte Kinder, die eine Dauerfrustration erleiden, weil sie immer wieder auf Unverständnis stoßen und zu wenig passgenaue Anregung und Förderung erhalten, mit einer aggressiven Verstimmtheit reagieren können. Daraus kann aggressives Verhalten entstehen.

In den drei Jahren seit der Veröffentlichung berichteten mir Erzieherinnen, dass sie mit Eltern zu tun haben, die aggressiv-übergriffiges Verhalten ihres Kindes mit seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Hochbegabung „entschuldigen“ – und sich dabei auf meinen Artikel zur Dauerfrustration beziehen.

Vielleicht sind es nur Einzelfälle, vielleicht sind es aber auch viele. Jedenfalls will ich darauf eingehen.

… kurz gefasst …

Hoch begabte Kinder, die sich unverstanden fühlen und die unterfördert sind, können in eine aggressive Verstimmung geraten. Aber ist damit gemeint, dass ein Vierjähriger quasi gewohnheitsmäßig brutal mit seinen Spielgefährten in der Kita umgeht?
Lesen Sie hier den Versuch einer Klärung.

Als Beispiel möchte ich die Schilderung einer besorgten Mutter nehmen, die mir in einer sehr ausführlichen E-Mail die problematische Atmosphäre in der Kita ihres Kindes beschrieben hat. Mit Erlaubnis der Verfasserin zitiere ich daraus in anonymisierter Form.

Es geht um das Verhalten eines vierjährigen Jungen, bei dem eine besondere Begabung im mathematischen Bereich getestet wurde.

Aus der E-Mail:

„Das anti-soziale Verhalten (des Jungen – HV) äußert sich seit über 1,5 Jahren einerseits auf der körperlichen Ebene durch massives Treten, Schlagen, Beißen, sodass viele Kinder nicht mehr mit Freude – wenn nicht sogar mit Angst – täglich in die Kita gehen. Besonders das Beißen gehört aus meiner Sicht nicht mehr zu den typischen Reaktionen auf Frustration selbst bei einem durchschnittlich begabten, sprachlich durchschnittlich entwickelten 4-Jährigen.
Von den Eltern wurde es damit erklärt, dass sich das Kind „auf das Niveau“ des anderen Kindes (3 Jahre alt, normal entwickelt) herab begibt, damit es besser verstanden wird.

Solche Beißangriffe des Jungen hat es aus meiner Sicht (Eltern berichten mir als Elternvertreterin davon) und in einer sehr starken Intensität oft gegeben – und das nicht nur gegenüber kleineren und damit vermeintlich schwächeren Kindern, sondern auch gegenüber Gleichaltrigen. Besonders merk-würdig jedoch finde ich die Aktion, eine 2-Jährige im Nacken gepackt mit dem Kopf gegen eine 1 m entfernte Wand zu werfen.

Zusätzlich agiert das Kind auf der psychischen Ebene. Mit jüngeren und älteren Kindern werden in unbeobachteten Momenten Psycho-Spielchen gespielt. Einer 5-Jährigen, deren Mutter gerade erst einen neuen Job bekommen hatte, wurde erzählt, dass der automatisch bald verloren geht, weil es ja ihre Mutter ist und die bis jetzt nichts geleistet hat. Nachdem die Familie verständlicher Weise froh über den neuen Arbeitsplatz war, musste die Mutter die nächtlichen Angstattacken ihrer Tochter mit tragen und hatte ein schlechtes Gewissen, arbeiten zu gehen.

Einem fast 4-Jährigen wurde eingeredet, dass seine Mutter (aktiv in der Freiwilligen Feuerwehr) sterben wird, sobald er 4 Jahre wird. Dementsprechend hat sich der Junge mit all seiner Kraft aus Verlustängsten gegen seinen Geburtstag gewehrt.

Die Kinder haben Ängste, die von den Eltern ohne das Hintergrundwissen um diese Psycho-Spielchen nicht verstanden werden. Die Kinder wehren sich, wenn es in die Kita gehen soll und entwickeln Spontan-Fieber, Spontan-Erbrechen oder Wein-Krämpfe.“

1. Die Situation ist schlimm

Ein Kind hat mit 4 Jahren noch nicht gelernt, dass man nicht beißen, nicht schlagen, nicht treten darf. Und dass man andere Menschen nicht in böse Ängste versetzen darf.

Zwar sind körperliche Auseinandersetzungen im Kita-Alter noch recht häufig, aber hier handelt es sich ja darum, dass andere Kinder vor diesem Kind Angst haben, weil es immer wieder heftig angreift, auch wenn gar keine Auseinandersetzung zu erkennen ist, wie mir die E-Mail-Verfasserin am Telefon ergänzend berichtete. Es hat sich also ein Täter-Opfer-Feld entwickelt, was die Atmosphäre in der Kita-Gruppe nachhaltig belastet.

Hier kommt die Vermutung auf, dass im sozialen Lernprozess des Kindes bereits etwas gründlich schief gegangen ist.

Die Situation ist für alle Kinder der Gruppe schlimm, auch für den 4-jährigen Jungen selbst. Sie ist für die Eltern der anderen Kinder beängstigend, für die Erzieherinnen beunruhigend und frustrierend. Ich finde, die Situation ist auf Dauer überhaupt nicht tragbar.

Später dazu mehr.

2. Mein Text „Dauerfrustration…“ und der Umgang damit:

Es stellte sich heraus, dass die E-Mail-Verfasserin von den Eltern nicht den kompletten Text des Beitrags „Dauerfrustration…“ erhalten hatte. Er war gekürzt u.a. um die folgende Passage:

„Eine Dauerfrustration kann ja auch viele andere Ursachen haben, zum Beispiel ungünstiges Erziehungsverhalten eines Elternteils oder den Verlust einer geliebten Person (was außer Trauer auch immer eine große Frustration – das Fehlen der Person im Alltag – zur Folge hat).

In letzter Zeit sind Eltern manchmal versucht, die Verhaltensprobleme ihrer Kinder mit Hochbegabung zu erklären – auch wenn vielleicht gar keine Hochbegabung vorhanden ist oder wenn das Kind erkennbar große Probleme in seiner Familie hat.

Hier müssen wir Erzieherinnen kritisch bleiben und auch andere Ursachen in Betracht ziehen, vor allem wenn wir auch bei qualifizierter Beobachtung keine Hinweise auf eine hohe Begabung erkennen können.“

Wenn Eltern wegen Kritik am Verhalten ihres Kindes unter Druck geraten sind, dann können sie, glaube ich, eine solche Passage auch „überlesen“.

Aber auch die Eltern (und Erzieherinnen) erwiesenermaßen hoch begabter Kinder müssen sich fragen:
Gibt es vielleicht (noch) andere Ursachen für das aggressive Verhalten unseres Kindes?

Hier erkennt die E-Mail-Schreiberin keine Bereitschaft bei den Eltern des Jungen. Sie schreibt:

„Die Eltern des Jungen gehen mit klaren Vorstellungen in jedes Gespräch – ihr Kind muss noch mehr (kognitiv) gefördert werden – und vernachlässigen oder entschuldigen die destruktiven Verhaltensweisen ihres Kindes. Bei Gesprächen im kleinen und großen Kreis wird das Verhalten des Kindes mit Dauerfrustration (gemäß Ihrem Text – weshalb ich ihn überhaupt erhalten habe) begründet.“

3. Ist das Kind in der Kita unterfordert / unterfördert und unverstanden?

Diese Frage ist genauso wichtig wie die nach möglichen anderen Ursachen des aggressiven Verhaltens. Sie ist für den konkreten Fall schwer aus der Ferne zu beurteilen.

Die Verfasserin der E-Mail schreibt:

Aus Ihrem Text geht hervor, dass „hoch begabte Kinder auf entsprechende konkrete Hilfe und Unterstützung durch die Erzieherin angewiesen“ sind. Seit über einem Jahr sind die Erzieher dabei, durch Extra-Förderung den betreffenden Jungen zu fördern. Dieses „exklusive Recht“ wird den anderen Kindern nicht in diesem Rahmen eingeräumt und sorgt(e) bei manchen Eltern für Verstimmung.

Ich persönlich schließe mich voll und ganz Ihrer Meinung an, dass es ohne die Erzieher nicht geht, jedoch sind diese Beiden mittlerweile an Ihren gesundheitlichen Grenzen angelangt und können (so finde ich) nicht noch mehr leisten.“

Im Telefongespräch, das auf die E-Mail folgte, berichtete die E-Mail-Verfasserin: Die Erzieher hatten die besonderen Rechenfähigkeiten des Kindes schon vor der Testung bemerkt und dem Jungen Mathe-Aufgaben aus dem 2. und 3. Schuljahr gegeben, die er freudig gemacht hat. Wenn er daran saß, wirkte er zufrieden.

Auf meine Nachfrage berichtete sie allerdings, dass das aggressiv-übergriffige Verhalten sich dadurch aber grundsätzlich nicht gebessert habe, eher sei es noch schlimmer geworden.

Leider kann ich aus der Ferne wiederum nicht beurteilen, ob der Junge diese Mathe-Aufgaben und vielleicht auch weitere Förder-Angebote verlässlich und über längere Zeit erhalten hat. Aber wenn es denn so ist, dann ist es untypisch, dass das aggressive Verhalten weiterhin besteht und sich sogar noch verstärkt.

Hoch begabte Kindergartenkinder, deren Begabung erkannt wird, die sich von der Erzieherin in ihren besonderen Spiel- und Lernbedürfnissen erkannt fühlen und zusätzliche Förderung erhalten (in Form von interessiertem Eingehen auf ihre Fragen und Ansichten oder in Form von zusätzlichen Angeboten oder in Form von Einbeziehung in die Angebote für die älteren Kinder) – diese Kinder kehren eigentlich immer zu einem sozialverträglichen Verhalten zurück.

Es sei denn, sie haben noch ganz andere Probleme…
Es ergibt sich also die dringende Vermutung, dass das sehr problematische Verhalten des Kindes andere Ursachen hat.

4. Wie ist das beschriebene Verhalten des Kindes zu beurteilen?

Die E-Mail-Verfasserin fragt, bezogen auf das Verhalten des Jungen:

„Ist das wirklich normal bei hoch begabten Kindern?“

Und sie fragt: 
„Sind solche Psycho-Spielchen normale „Begleiterscheinungen“ bei dauerfrustrierten Hochbegabten?“

Diese Fragen kann ich aus meiner langjährigen Erfahrung mit einem klaren Nein beantworten.

Denn 1.:
Wenn es bei einem jungen (!) hoch begabten Kind zu einer aggressiven Verstimmung mit aggressivem Verhalten gekommen ist, verschwindet dieses Verhalten in aller Regel, sobald auf die Hochbegabung eingegangen wird. Dies erfordert keine umfangreiche und dauerhafte Einzelförderung in der Kita, die ja auch gar nicht zu leisten ist.

2.
Das gut erzogene hoch begabte vierjährige Kind kennt bereits die Normen für ein gedeihliches Zusammenleben und versucht, sich dementsprechend zu verhalten. Wenn es dauerfrustriert ist, passieren ihm „Ausraster“, aber diese bestimmen nicht grundsätzlich das Verhalten des Kindes.

3.
Das gut erzogene hoch begabte Kind zeigt in aller Regel Zerknirschung, entweder sofort oder zumindest eine Weile später, wenn es sich aggressiv verhalten hat. Oft sind auch Scham oder Verlegenheit zu erkennen.
Zudem zeigen viele hoch begabte Kinder (auch Jungen!) vor allem die „harmloseren“ Varianten aggressiven Verhaltens: Stören, Kaspern, Schreien, Trotzen, Verweigern…

(Siehe: Was ist Erziehung? Und wann beginnt sie?)

5. Die Verstimmung der anderen Eltern

Die Verstimmung – abgesehen von der Beunruhigung und Sorge – finde ich verständlich, frage mich aber, was der hauptsächliche Grund für die Verärgerung ist.

Die E-Mail-Verfasserin schreibt dazu ja, wie bereits unter 3. zu lesen ist:

„Seit über einem Jahr sind die Erzieher dabei, durch Extra-Förderung den betreffenden Jungen zu fördern. Dieses „exklusive Recht“ wird den anderen Kindern nicht in diesem Rahmen eingeräumt und sorgt(e) bei manchen Eltern für Verstimmung.“

Es wäre zu überlegen, ob die anderen Kita-Eltern über die besondere Förderung des Kindes auch dann dermaßen verärgert wären, wenn diese Maßnahmen zu einer spürbaren Entspannung der Situation geführt hätten.
Vielleicht sind es nicht so sehr die besonderen Fördermaßnahmen für dieses Kind, die die Eltern verärgert haben; vielleicht ist es eher die fortbestehende Beunruhigung und Sorge der Eltern, die das als gemeingefährlich erlebte Verhalten des Kindes betreffen.

Es gibt etliche gute Beispiele dafür, wie an den Interessen und Fähigkeiten eines hoch begabten Kindes in der Weise angeknüpft werden kann, so dass auch andere Kinder davon profitieren können.

Solche Beispiele finden Sie hier im Handbuch im 4. Kapitel.

6. Wann hat Erziehung versagt?

Ich verwende hier den Begriff „gut erzogene hoch begabte Kinder“. Wann ist ein Vierjähriger denn nicht gut erzogen?
Die Verfasserin der E-Mail berichtete mir telefonisch, dass das Kind auch noch auf kleinere Kinder, die schon weinend auf dem Boden liegen, weiter eintritt – und auch nicht bereit ist, sich für ein solches Verhalten oder für Beißattacken („die stand mir im Weg“) zu entschuldigen. Zuhause würden die Eltern das Kind darin bekräftigen, dass es sich nicht entschuldigen müsse.

Wenn das tatsächlich so zutrifft, heißt das ja, dass das Kind bisher nicht gelernt hat und so vermutlich auch weiterhin nicht lernen wird, dass sein Verhalten untragbar ist.

Hierzu empfehle ich den Beitrag: Was ist Erziehung? Und wann beginnt sie?
In Kürze zusammengefasst steht darin:
Im 2. und 3. Lebensjahr sollten die Erziehungsberechtigten und die Kita darauf achten, dass das Kind Grenzen erfährt und beachten lernt. Es braucht dafür klare Stellungnahmen der Erwachsenen zu seinem Verhalten.

Parallel dazu und vor allem im 4. und 5. Lebensjahr erfährt das Kind viel über die Regeln des Zusammenlebens und die dahinter liegenden Normen.

Und wenn das versäumt wird oder nur unzureichend gelingt, dann „entsteht“ ein verhaltensgestörtes – ich würde lieber sagen verhaltens-ver-störtes – Kind.

Wir haben hier die Situation, dass das Kind seine überlegenen geistigen Fähigkeiten einsetzt, um andere Kinder in schlimme Ängste zu versetzen (Psycho-Spielchen). Auch hier gibt es offenbar im Kind noch kein Gewissen, das Alarm schlägt.

Aber bitte, lesen Sie doch den ganzen Beitrag

… und prüfen Sie, ob dadurch die Situation dieses Kindes oder von Kindern, die Sie kennen, erhellt wird.

 

7. Ein scheinbarer Widerspruch

Kinder müssen also lernen, welches Verhalten sozial erwünscht ist, was im Einzelfall noch hinnehmbar ist und was gar nicht toleriert wird.
Kindern – auch hoch begabten – muss es immer wieder gesagt werden, wenn ihr Verhalten gegen die geltenden Normen der Gemeinschaft verstößt. Und auch an der Mimik und der Stimme der Erwachsenen sollten sie es erkennen können.

Nun führte die Familie des Jungen aber wiederum meinen Beitrag „Dauerfrustration…“ ins Feld, in dem ich geschrieben habe:

„Hoch begabte Kinder im Kindergartenalter empfinden und erkennen meist selbst das Problematische an ihrem Verhalten. Deshalb hilft es oft wenig, sie immer wieder auf die Destruktivität ihres Verhaltens hinzuweisen; meistens sind sie sich darüber im Klaren.“

Hier ergibt sich ein scheinbarer Widerspruch. Den gilt es aufzulösen.

Immer wieder müssen wir die Kinder darauf hinweisen, solange sie die akut betroffenen Normen und Regeln noch nicht (zuverlässig) kennen und verinnerlicht haben. Das ist nötige Hilfe im Lernprozess und gilt auch für hoch begabte Kinder.


Dieses muss aber zur richtigen Zeit geschehen.

(Siehe auch hierzu wieder: Was ist Erziehung? Und wann beginnt sie?)

Sobald das Kind dann genau weiß, was Sache ist, mutiert jeder Erklärungsversuch zur nutzlosen „Predigt“. Dann geht es nicht mehr darum zu erlernen, was sozial und was unsozial ist. Die Normverletzung geschieht dann nicht aus Unklarheit über die Normen, sondern sie hat andere Gründe, zum Beispiel starke negative Gefühle, noch unzureichende Impulskontrolle, oder aber es handelt sich um eine bereits gelernte (sozial unverträgliche!) Strategie.

Hoch begabte Kinder lernen nun aber besonders schnell. Und es gibt auch Kinder, die zwar nicht hoch begabt, aber im sozialen Bereich besonders sensibel sind, auf die das Folgende zutrifft.

Erzieherinnen in Fortbildungen berichten immer wieder, dass die hoch begabten Kinder die Regeln des Zusammenlebens in der Kita sehr schnell erfassen und sich auch große Mühe geben, „alles richtig zu machen“. Oft wird beschrieben, dass sie über ein erstaunliches Gerechtigkeitsempfinden verfügen und unter Übergriffen leiden, auch wenn sie selbst nicht unmittelbar betroffen sind – oder dass sie den Drang haben, angegriffenen oder ungerecht behandelten Kindern beizustehen.

Diese Kinder zeigen auch oft Verlegenheit, wenn sie selbst eine Regel übertreten oder eine Norm verletzt haben. Sie merken es oft im selben Moment, in dem sie gehandelt haben. Dann ist es, wie im obigen Zitat ausgeführt, nicht zielführend, sie – womöglich vor der ganzen Gruppe – auf ihr Verhalten hinzuweisen.

Dann ist es angebrachter, sie zu fragen, was sie nun tun können (entschuldigen, wieder gut machen).

Von diesem Entwicklungsstand ist aber der Junge, über den in der E-Mail berichtet wird, anscheinend meilenweit entfernt. Deshalb müssten die Eltern ihr Verhalten verändern und ihm beim Erlernen sozialer Normen helfen. Und die Kita hat nicht nur das Recht, sondern auch die erzieherische Pflicht, zum Verhalten des Jungen klar Stellung zu beziehen (und zwar den Eltern und dem Kind gegenüber und bezogen auf ganz konkrete Situationen).

Da bei dem Jungen vermutlich eine starke Verwirrung über die Normen sozialen Zusammenlebens herrscht, müsste ihm zunächst aus dieser Verwirrung heraus geholfen werden, ehe die Forderung nach Entschuldigung Sinn macht.

Es ist aber immer die Frage, wie weit Eltern zur Zusammenarbeit und zur Übernahme und Vertretung der Normen bereit sind, die in der Kita gelten. Ist hier gar keine Zusammenarbeit zu erreichen, bröckelt meines Erachtens das vertragliche Fundament zwischen Kita und Eltern.

8. Die Situation ist nicht tragbar

Weder für die Erzieherinnen noch für die Kinder der Kita erscheint die oben beschriebene Situation weiter tragbar.
Da die Grundüberzeugung in der Kita herrscht, dass dort auch verhaltensauffällige Kinder betreut werden sollen – eine Kündigung des Betreuungsvertrages also nicht in Betracht gezogen wird – habe ich zu einem raschen Gruppenwechsel geraten. Denn dann muss die besondere Belastung und die Gefährdung der Kinder auch gemeinschaftlich getragen und gerecht verteilt werden.

So erhalten die Gruppenerzieher, die bisher die Belastung tragen mussten, Entlastung und die Kinder in dieser Gruppe können aufatmen und zu einem normalen Sicherheitsgefühl zurückfinden.

Die Gesamtsituation wäre damit allein aber absolut nicht zufriedenstellend gelöst; deshalb rate ich in ähnlichen Fällen zusätzlich dazu, das Weiterbestehen des Betreuungsvertrages an Auflagen zu knüpfen. Dies könnte zum Beispiel heißen, dass die Eltern innerhalb einer bestimmten Frist Erziehungsberatung in Anspruch nehmen müssen und sich eine Änderung im Verhalten des Kindes und der Haltung der Eltern wenigstens ansatzweise erkennen lassen muss.

9. Was könnten Hilfen für das Kind und die Eltern sein?

Vielleicht könnte es in einem weiteren Elterngespräch zu einer Klärung darüber kommen, welches der Anspruch der Kita an das soziale Zusammenleben in den Gruppen ist.
Ich mache hier einen Vorschlag, der darauf beruht, wie ich es in meiner Kita gehalten habe:

Alle Kinder sollen Folgendes erfahren können:

    • Es gibt ein Zusammenleben jenseits eines Täter-Opfer-Feldes, auch wenn in unserer Gesellschaft noch viel Gewalt ausgeübt wird.
    • Es ist wichtig, dass man sich im Notfall wehren kann, wenn man selbst angegriffen wird.
    • Außer Schlagen, Beißen, Treten usw. gibt es auch noch andere Möglichkeiten, sich zu wehren, wenn es kein Notfall ist. Beispiel: Ein anderes Kind hat mir den Buntstift weg genommen, den ich mir gerade genommen hatte. Das berechtigt mich nicht, das Kind zu schlagen.
    • Einem Kind absichtlich Angst zu machen (durch Drohungen, Drohgebärden oder durch „Geschichten“), ist ein Angriff auf das Kind, der nicht geduldet werden kann.

Allen Eltern sollte vermittelt werden:

    • Wir verstehen, dass Erwachsene, die selbst Gewalt erfahren haben, ohne sich einschüchtern zu lassen, manchmal der Versuchung erliegen, ihren Kindern das Gefühl zu vermitteln: Es ist besser Täter als Opfer zu sein. Aber wir teilen diese Ansicht keineswegs.
    • Wir ermutigen die Kinder, sich gegen aggressive Übergriffe zu wehren und uns darüber zu berichten. (Das ist kein „Petzen“, sondern Achtsamkeit!)
    • Wir wollen in der Kita weder Täter noch Opfer, die Kinder sollen sich sicher fühlen und keine Angst vor Erwachsenen oder anderen Kindern haben.
      So können alle Kinder eine Vorstellung davon entwickeln und die Erfahrung machen, dass gewaltfreies Zusammenleben möglich ist – und wie gut es sich anfühlt.
    • Wenn dieses in der Familie nicht gelingt, kann es sein, dass die Familie therapeutische Hilfen benötigt.

 

Datum der Veröffentlichung: Dezember 2014
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