Ist es für hoch begabte Grundschüler heute besser?

von Hanna Vock

 

Neulich fand ich eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa wieder. Sie stammt aus dem Jahre 1998.

Ich hoffe sehr, dass diese Erwartung für Adrian in Erfüllung gegangen ist – und er nicht erkennen musste, dass der Unterricht auch dort für ihn nicht richtig spannend und herausfordernd war.

Bemerkenswert finde ich an der Meldung, dass Adrian sich so klar äussern konnte. Dies ist sicher das Verdienst seiner Eltern.

Er sagt es, wie es für ihn ist – ohne Unsicherheit und ohne dass er Andere abwertet.

Ich möchte alle Eltern hoch begabter Kinder ermutigen, mit ihrem Kind über seine Schulerfahrungen gerade in den ersten Jahren offen und klar zu sprechen, auch wenn das System Schule oder auch einzelne Lehrer dabei mehr oder weniger stark kritisiert werden.

 

  • Fragen Sie Ihr Kind immer wieder und unterhalten Sie sich mit ihm darüber, was es am letzten Tag in der Schule Neues erfahren / gelernt hat.
  • Beziehen Sie Ihrem Kind gegenüber klar Stellung, wenn Ihr Kind Recht damit hat, dass es in seiner Schule nichts oder nur wenig Neues lernen kann.
    Bestätigen Sie es in seiner Einschätzung.
  • Gehen Sie ins Gespräch mit der Schule und legen Sie das Problem dar, das Sie und Ihr Kind damit haben.
  • Betonen Sie, dass Sie gemeinsam mit der Lehrerin / der Schule nach Lösungen suchen möchten, um die Situation zu verbessern.
  • Lassen Sie sich nicht damit beschwichtigen oder verunsichern, wenn Ihnen gesagt wird, Ihr Kind könne sehr wohl etwas Neues lernen, nämlich zum Beispiel
    – sich in der Klassengemeinschaft zurückzunehmen / einzufügen,
    – still zu sitzen,
    – sauber zu schreiben,
    – sich die Stunde über konzentriert zu beteiligen.

Ein kleines Beispiel aus der Praxis, in dem das oft Absurde solcher Antworten zutage tritt:

Ein Junge der zweiten Klasse, der seit 3 Jahren (!) fließend und viele Bücher las,
wurde von der Lehrerin stark kritisiert, weil er nicht still saß und nicht zuhörte, als Folgendes in der Klasse geschah:

Fast die ganze Stunde über sollten abwechselnd die schwächsten „Lesekinder“ der Klasse einfache Texte vorlesen, die anderen Kinder sollten zuhören.

Nicht nur, dass es nach Aussage des Jungen „alberne Geschichten“ waren. Es ging logischerweise sehr langsam, holperig und ohne sinnvolle  Betonung vonstatten.

Versetzen Sie sich bitte in die Lage des Jungen und prüfen Sie sich, ob Sie nicht auch auf dem Stuhl herumgerutscht wären und gestöhnt hätten.

Die Lehrerin bewertete (gegenüber den Eltern) dieses Verhalten des Jungen als mangelnden Respekt vor seinen schwächeren Mitschülern. Ich bewerte die Anforderungen der Lehrerin als mangelnden Respekt vor den leseschwachen Schülern, vor dem hoch begabten Kind und allen anderen Kindern der Klasse.

Frage: Wer sollte dabei was lernen?

Bitte lesen Sie auch:

Es braucht Mut, um die Ängste zu überwinden

Wie finden Eltern eine passende Grundschule?

Mein erstes Schuljahr – Gespräche mit Kindern

Wie soll Schule mit Hochbegabten umgehen?

Gute Beispiele aus der Schule

 

Datum der Veröffentlichung: Juli 2016
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.

 

 

Tamara (5;5) und die Buchstaben

von Brigitte Gudat

 

Nachdem Tamara (5;5) sich in den letzten Monaten immer stärker mit Buchstaben beschäftigt hatte, zeigte sie Interesse, schon früher als gleichaltrige Kinder am Sprachtraining der angehenden Schulkinder teilzunehmen.

Wir haben ihre Teilnahme am Sprachtraining zur Beobachtung ihrer Fortschritte im Lese- und Schreib-Lernprozess und zur speziellen Förderung genutzt.

Mehr zu Tamara:
Tamara, 4;4 Jahre alt
Vierjährige Geschichten-Erfinder
Tamara (5;2) erfindet Quiz-Fragen

Lese-Frühförderung

Das Programm zur vorschulischen Sprachförderung

Seit einigen Jahren wird in unserer Kita das Aachener Programm zur vorschulischen Sprachförderung und LRS-Prävention durchgeführt.

Ziel ist die Förderung der phonologischen Bewusstheit im Kindergarten. Dabei soll jedes Kind gemäß seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten die Chance bekommen, auf spielerischer Basis Grundlagen für seine späteren Lese- und Rechtschreibkenntnisse zu erwerben.

Das Programm beginnt mit Lauschspielen, danach geht es weiter mit Reimen, Silben, Anlauten, Phonemen und Spielen zur Buchstaben-Laut-Verknüpfung. Die Buchstaben werden mit den Kindern als Laut-Wahrnehmung erarbeitet.

Die Kinder freuen sich immer, wenn sie endlich beim Sprachtraining mitmachen dürfen. Wir haben dieses Programm zunächst in seiner vorgegeben Form durchgeführt und später mit eigenen Ideen erweitert.

Die Kinder haben viele Dinge, die sie gelernt haben oder die sie interessierten, mit in die Gruppe genommen. Dort gehören heute Reimwörter oder Silbenklatschen zum Alltag der Drei- bis Vierjährigen. Spiele des Sprachprogramms sind mittlerweile Gruppenspiele geworden.

Der Wunsch, den eigenen Namen zu schreiben, ist auch bei den kleineren Kindern schon vorhanden. Im Rahmen unserer Erweiterung sind Arbeitsblätter und Geschichten hinzugekommen. Inzwischen kombinieren wir die verschiedenen Sprachfördermaterialien, die wir in der Kita haben.

Tamara macht schon mit

Tamara war zunächst mit Begeisterung dabei. Die ersten Phasen wie Lauschspiele, Reime, Silben und Anlauten machten ihr sehr viel Spaß. Auch als dann einzelne Buchstaben vorgestellt wurden, machte sie gut mit. Der Buchstabe wurde meist in einer Tiergeschichte vorgestellt. Dabei hörte sie aufmerksam zu. Danach wurde noch einmal über die Geschichte gesprochen.

Anschließend erhielt jedes Kind die Geschichte nochmals in Kurzform für seine Vorschulmappe. Auf diesem Blatt war der Buchstabe, um den es ging, noch einmal in Groß- und Kleinschrift dargestellt. Einige Kinder haben selbstständig die Buchstaben im Text gesucht, angemalt und sogar gezählt.

Dieser immer gleiche Vorgang
im Anschluss an das Erlernen eines neuen Buchstabens
war für Tamara offensichtlich dann nicht sehr interessant.

Stattdessen hat Tamara eigene Wege gefunden, ihre neu gewonnenen Kenntnisse anzuwenden. Während des Freispiels schrieb sie immer wieder Buchstaben und Zahlen.

Tamara geht eigene (Lern-) Wege

Oft nahm sie sich unsere Buchstabentafeln (rechteckige Holztafeln mit aufgeklebten Großbuchstaben aus Sandpapier). Sie schrieb sie ab, pauste sie durch oder legte ihren Namen. Dabei fiel ihr beispielsweise auf, dass sie das „A“ dreimal verwenden musste.

Tamara schrieb immer wieder Buchstaben in ihre gemalten Bilder, darunter auch solche, die wir noch nicht besprochen hatten. Meistens konnte sie sie auch benennen. Oft kam sie während des Freispiels und ließ sich Wörter vorschreiben, die sie sich immer wieder vorlas und mit dem Stift den einzelnen Buchstaben nachging.

Tamara hat ihr Wissen auch an andere Kinder weitergegeben. So nahm sie sich kleine Kärtchen und schrieb auf jedes Kärtchen einen Buchstaben. Kindern, die am Maltisch saßen, nannte sie erst die einzelnen Buchstaben und zeigte sie ihnen. Dann vermischte sie die Karten, drehte sie so, dass kein Buchstabe zu sehen war, und ließ ein Kind eine Karte ziehen. Das Kind sollte nun sagen, welcher Buchstabe auf der Karte zu sehen war. Dieses Spiel dauerte eine ganze Weile und wurde auch mit vertauschten Rollen weitergespielt.

An dem Spiel beteiligten sich auch zwei dreieinhalbjährige Mädchen. Beiden hat Tamara immer wieder in aller Ruhe die Buchstaben erklärt. Das Spiel wurde tagelang immer wieder gespielt, selbst von den Kleineren. Tamara spielte aber nicht immer mit.

Sie hatte etwas Neues initiiert, in der Gruppe eingeführt und dann offensichtlich das Interesse verloren, nachdem das Thema für sie erfolgreich abgeschlossen war.

Da das Interesse der Kinder an Buchstaben so groß ist, habe ich ihnen weitere Möglichkeiten zum Experimentieren an die Hand gegeben. Ich habe also Buchstabenkarten gemacht und diese dann laminiert. Die mengenmäßige Verteilung der einzelnen Buchstaben habe ich dem Scrabble-Spiel entnommen.

Da ich eine Weile mit Laminieren und Ausschneiden beschäftigt war, fragten die Kinder immer wieder nach, wofür wir all diese Buchstaben brauchen würden. Ich habe Ihnen dann erklärt, dass wir aus den Buchstaben zum Beispiel unsere Namen legen könnten. Zwei Mädchen, die in diesem Jahr in die Schule kommen, suchten sofort die passenden Buchstaben ihrer Namen heraus. Das Interesse war also geweckt. Danach wurden die Buchstaben von den Kindern in einzelne Kästchen sortiert.

Am nächsten Tag wollte ich dies mit Tamara und drei Jungen aus unserer Gruppe, alle fünf Jahre alt, ebenfalls ausprobieren.
Zuerst habe ich gefragt, welche Buchstaben sie schon kennen. Es waren den Kindern schon sehr viele Buchstaben bekannt. Auf meine Frage, was wir damit machen könnten, kam die Antwort: „Wörter legen“.

Dies gestaltete sich erst einmal schwierig, weil sie nicht wussten, welches Wort sie nehmen sollten. Ich habe dann erzählt, dass die Kinder am Vortag die Buchstaben ihres Namens herausgesucht hätten. Die Buchstaben waren schnell gefunden.

Den drei Jungen fiel es schwer, die Buchstaben aus der Menge der Kästchen heraus zu suchen. Tamara hatte schnell die passenden Buchstaben gefunden und ihren Namen gelegt. Danach legte sie die Namen ihrer Schwester, ihrer Mutter und ihres Kuscheltiers.

Wenn sie nicht weiter kam und ich ihr das Wort langsam vorsprach, hörte sie die entsprechenden Buchstaben heraus und konnte das Wort legen. Danach legte sie noch Wörter wie „Mama“, „Papa“, „Oma“. Die Jungen legten ebenfalls ihre Namen und übernahmen dann Wörter, die Tamara gelegt hatte.

Als sie damit fertig waren, zeigte ich ihnen eine alte elektrische Schreibmaschine. Dabei war aber erst einmal das Gerät interessant, weil die Kinder eine Schreibmaschine gar nicht kannten. Nachdem ich ihnen die Funktionen erklärt hatte, wurde das Gerät zunächst getestet.

Die Schreib-Ecke entsteht

Das Gerät blieb im Gruppenraum und konnte von allen Kindern benutzt werden. Die andere Kinder, vor allem die fünf angehenden Schulkinder (alles Mädchen), waren sehr interessiert. Da Tamara schnell begriffen hatte, wie das Gerät funktioniert, hat sie die Unterweisung der anderen Kinder übernommen.

Dann wurde um die Schreibmaschine herum eine Schreibecke eingerichtet. Die Kinder holten sich Stifte, Papier, Klebstoff, Radiergummi, usw. Es wurden Briefe gefaltet und geklebt. Sie schrieben Buchstaben mit der Maschine und malten später Bilder dazu.

Am nächsten Tag malten sie auf einem Blatt die Tastatur der Schreibmaschine ab und klebten am oberen Rand ein weiteres Blatt fest. Das Blatt wurde so geknickt, dass das Ganze an einen Laptop erinnert. Damit fanden im Laufe des Vormittags die verschiedensten Rollenspiele statt.

Ein paar Tage später habe ich beobachtet, wie Tamara und Nele (auch fünf Jahre alt) sich die Buchstabenkästchen nahmen. Sie versuchten, bestimmte Wörter zu legen. Sie kamen zu mir und wollten wissen, ob dies richtig sei. Ich habe dann die Wörter langsam und deutlich mit Betonung der einzelnen Buchstaben vorgesprochen. Dabei hörten sie, in welcher Reihenfolge die Buchstaben angeordnet werden mussten.

Danach holten sie sich kleine Karten und schrieben die Worte darauf ab. Ich machte ihnen den Vorschlag, zu jedem Wort das passende Bild zu malen. Tamara meinte, man könne die Karten aufhängen, damit die Kinder, die noch nicht lesen können, sehen, was dort geschrieben steht. Die Idee wurde mit den Beiden umgesetzt. Es entstanden etliche Karten.

Auswertung

Tamara bereits vorzeitig am Sprachtrainingsprogramm teilnehmen zu lassen, war eine gute Erfahrung. Bald reichte ihr das (langsame) Lernen aber nicht mehr. Richtig Spaß haben ihr die Spiele und das freie Arbeiten gemacht. Immer wenn sich Dinge wiederholten oder gleich abliefen, ließ ihre Konzentration nach, sie störte, oder sie äußerte, sie habe keine Lust mehr.
Stattdessen hat sie selbst kreative Wege gefunden, neu Erlerntes anzuwenden und sogar an andere Kinder weiterzugeben.

Sie hat allerdings viele der für sie weniger interessanten Übungen offensichtlich auch deshalb mitgemacht, weil es ihr enorm wichtig ist, dazu zu gehören und nicht ausgeschlossen zu sein.

Dies wird durch eine Reihe von Beobachtungen bestätigt. Eine Zeitlang schaute Tamara morgens, bevor sie ihre Jacke auszog, ins Gruppenzimmer, um zu sehen, wer von ihren Freundinnen schon da war und mit wem sie spielten. Hatten sich schon zwei Kinder gefunden, kam die Frage an ihre Mutter: „Und mit wem soll ich jetzt spielen?“

Im Moment hat sie, glaube ich, Angst, von den anderen Kindern ausgeschlossen zu werden. Sie hat in letzter Zeit öfter feststellen müssen, dass sie ihren Freundinnen nicht immer ihren Willen aufzwingen kann. Oft ist es so, dass sie dann auch nur mit einem Kind alleine spielen möchte und Andere zurückweist.

Um dazu zu gehören, beteiligt sie sich meines Erachtens oft an Dingen, die sie eigentlich nicht so mag (wie zum Beispiel Buchstaben im Text suchen), die andere Kinder aber gerne machen.

Die weitere Förderung Tamaras nach den Sommerferien

Das Sprachtraining, das sie eigentlich als angehendes Schulkind erst jetzt absolvieren würde, hat sie fast komplett mitgemacht und ist wesentlich weiter als die anderen Kinder.

Dies werde ich also mit ihr nicht noch einmal von vorne beginnen. Ich werde stattdessen weiter mit den Buchstabenkarten arbeiten. Eine weitere Möglichkeit wäre, ein Lesebuch aus dem 1. Schuljahr einzuführen, da Tamara in der Lage ist, Buchstaben aneinander zu reihen und somit der Schritt zum Lesen und Schreiben nicht mehr weit ist.

Ich muss jedoch darauf achten, dass Tamara sich aus der Gruppe der angehenden Schulkinder nicht ausgeschlossen fühlt, weil sie andere Dinge macht.

Zum Thema Lese-Frühförderung besuche ich mit zwei Grundschullehrerinnen demnächst eine Fortbildung. Dort werde ich sicher Anregungen erhalten. Da der Kontakt zu den beiden Lehrerinnen in den letzten Wochen sehr gut geworden ist, kann ich mir vorstellen, vielleicht auch von dort Unterstützung zu bekommen.

So ging’s weiter:

Lese-Frühförderung

 

Datum der Veröffentlichung: Juli 2016
Copyright © Brigitte Gudat, siehe Impressum.

Lese-Frühförderung

von Brigitte Gudat

 

Mein Beobachtungskind Tamara ist inzwischen 5;10 Jahre alt.

Mehr zu Tamara siehe:

Tamara, 4;4 Jahre alt

Vierjährige Geschichten-Erfinder

Tamara (5;2) erfindet Quiz-Fragen

Wie zum Abschluss der letzten Ausarbeitung (Tamara (5;5) und die Buchstaben)
angekündigt, wollten wir für Tamara (5;10 Jahre) ein Lesebuch aus dem 1. Schuljahr einführen, ohne dass Tamara sich aus der Gruppe der Vorschulkinder ausgeschlossen fühlt.

Es sollte sich zeigen, dass das Projekt eine andere, im Sinne der Lesefrühförderung aber sehr positive Richtung genommen hat.

Zunächst haben wir im Team überlegt, welche Kinder die gleichen Interessen zeigen wie Tamara und immer wieder Buchstaben und schon einzelne Wörter schreiben. Weitere Kriterien sollten andere gemeinsame Interessen und Fertigkeiten sein wie zum Beispiel Malfreude, Ausdauer, Konzentration und natürlich auch gegenseitige Sympathie.

So haben wir eine Gruppe aus sechs Kindern aus beiden Kindergartengruppen gebildet, darunter auch drei Kinder, mit denen Tamara sehr gut befreundet ist. Alle Kinder hatten im Vorjahr am Sprachtrainingsprogramm teilgenommen und kannten die Buchstaben schon, die das Programm beinhaltet.

Geplant war, zwei bis drei Mal in der Woche speziell mit diesen Kindern zu arbeiten. Dies konnten wir auch meistens verwirklichen.

Eine Fibel (Schul-Lesebuch) wird eingesetzt

Das Lesebuch heißt „Mimi die Lesemaus“ aus dem Oldenbourg Verlag. Dazu gehören ein Arbeitsheft mit einem Druckschriftlehrgang und eine Anlaut-Tabelle.

Jedes Kind sollte zum Beginn des Projekts die Wörter aufschreiben, die es bereits beherrscht. Dies waren zunächst hauptsächlich der eigene Name, MAMA, PAPA, OMA, OPA oder auch die Namen der Geschwister. Danach haben die Kinder untereinander ihre Blätter ausgetauscht und versucht, die Wörter der anderen zu lesen.

Auffallend war, dass alle Kinder ihre Wörter in Großbuchstaben geschrieben hatten und nur der Buchstabe i als Kleinbuchstabe mit i-Punkt geschrieben wurde. Ein Grund dafür könnte sein, dass viele Wörter, die den Kindern in ihrer Umwelt begegnen, in Großbuchstaben geschrieben sind, wie zum Beispiel Reklameschilder. Deshalb haben wir auch schon vorher die Namen der Kinder zur Kennzeichnung ihrer Bilder in Großbuchstaben geschrieben, weil so auch die kleineren ihre Namen am besten selbst erkennen.

Als nächsten Schritt haben wir uns das Lesebuch gemeinsam angeschaut. Einige Kinder haben sofort versucht, einzelne Wörter zu lesen. Großes Interesse bei den Kindern fand das Arbeitsheft. Die Kinder wollten unbedingt schreiben, aber auch noch malen.

Zu Beginn haben wir gemeinsam die Aufgaben der einzelnen Seite durchgesprochen. Dabei fanden die Kinder es sehr schön, dass sie schon einzelne Wörter erkennen konnten. Ein entsprechendes kleines Bildchen war neben dem Wort abgebildet. Meist haben wir ein bis zwei Seiten bearbeitet. Dabei spielte die Konzentration der Kinder natürlich eine wichtige Rolle. Manche hörten nach einer Seite auf und gingen zurück in ihre Gruppe oder spielten etwas anderes.

Tamara nahm die Sache sehr ernst. Am Anfang war sie aufgeregt, weil sie meinte, sie könnte etwas falsch machen. Hier merkte man wieder, dass sie sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellt. Nachdem ich sie beruhigt hatte, arbeitete sie konzentriert und zügig. Sie ließ sich auch nicht durch den vorzeitigen Ausstieg anderer Kinder beeinflussen.

Die Treffen mit der Gruppe wurden in dieser Form weitergeführt, bis Tamara und Nele (6 Jahre) sich plötzlich wieder die Buchstabenkarten holten, mit denen wir vorher gearbeitet hatten. Sie legten die Buchstaben aneinander und versuchten sie zu lesen. Hatten sie ein Wort gefunden, schrieben sie es auf. Tamara malte dann noch das entsprechende Bild dazu.

Buchstabenblätter

Tamara fragte, warum wir nicht wie im letzten Jahr die Buchstaben an der Wand aufgehängt hatten. Seinerzeit hatte ich alle Buchstaben des Sprachtrainingsprogramms ausgedruckt und an die Wand geklebt. Die Kinder hatten dazu Bilder von Dingen gemalt, die mit dem gleichen Anlaut anfingen.

Also wurde ich gebeten, wieder die Buchstaben auszudrucken, aber ich sollte Linien dazu machen, damit sie auch noch Wörter aufschreiben können. Damit hatte ich meinen Arbeitsauftrag erhalten. Gleichzeitig wurde mir gesagt, welche Buchstaben in welcher Farbe zuerst ausgedruckt werden mussten.

Nachdem wir einige Buchstaben ausgedruckt hatten, fing die Arbeit erst richtig an. Hinzu gesellten sich noch zwei weitere Vorschulkinder Svenja (5;7) und Finn (5;5), die plötzlich auch mitmachen wollten.

Es wurde überlegt, man müsste zuerst ein Bild malen von einem Wort, das mit dem entsprechenden Buchstaben beginnt. Die Erklärung dafür war, dass damit auch die kleinen Kinder in der Gruppe die Buchstaben lernen konnten. Tamara meinte, ihr Name beginne mit T, also würde sie einen Tiger malen.

Damit ging es los. Es wurde gemalt, und es wurde überlegt, welche Wörter es zu den einzelnen Buchstaben gibt. Nun tauchte die Schwierigkeit auf, wie die einzelnen Wörter geschrieben werden. Da ich nicht vorsagen, aber auch nicht vorschreiben wollte, habe ich die Anlauttabelle zu Hilfe genommen. Zuerst haben wir uns die Tabelle zusammen angeschaut und sind die einzelnen Buchstaben durchgegangen.

Hatten die Kinder ein Wort gefunden, das sie schreiben wollten, habe ich sie gefragt, welche Buchstaben sie hören, wenn man das Wort langsam spricht. So konnten die Kinder ihre Wörter selbst schreiben.

Erstaunlich für mich war, wie gut die Kinder mit der Tabelle umgehen konnten. Man sah immer wieder, wie sie das Bild auf der Tabelle benannten und sich dann den Anlaut immer wieder vorsprachen.

Mit dieser Aktion ist ein Prozess in Gang gekommen,
der sich mittlerweile verselbständigt hat.

Inzwischen haben wir über die Hälfte des Alphabets im Gruppenraum aufgehängt. Immer wieder werden Wörter dazu geschrieben. Die Kinder können die Blätter selbst nehmen und etwas dazu schreiben. Dabei achten sie jedoch peinlich genau darauf, ob das Wort auch zu dem Buchstaben passt.

Mittlerweile sind alle sieben Vorschulkinder aus meiner Gruppe an dem Projekt beteiligt. Die „Kleinen“, die ihren Namen schon schreiben können, dürfen ihn mit auf das Buchstabenblatt schreiben. Dadurch wurden die „Kleinen“ natürlich vom Ehrgeiz gepackt. Mittlerweile können fast alle ihren Namen schreiben. Und wenn sie es nicht alleine können, helfen die „Großen“.

Bei einem Namen hatten Tamara und Nele allerdings ihre Schwierigkeiten. Das Mädchen heißt Phoebe (engl.), „Fibi“ gesprochen. Tamara und Nele haben den Namen nach der Lautschrift geschrieben, also Fibi. Phoebe meinte aber immer wieder, es stimmt nicht.

Mit dieser Entwicklung hatte ich nicht gerechnet.
Die Vielzahl von Wörtern, die mittlerweile an der Wand aufgeschrieben sind, motivieren immer wieder Kinder, sie zu lesen. Die Größeren lesen sie den kleineren Kindern vor, und die Kleineren erkennen manche Wörter wieder und „lesen“ sie nach.

Ein Hosentaschenbuch

Mit Tamara und Nele habe ich noch etwas Anderes ausprobiert. Wir haben ein „Hosentaschenbuch“ gemacht.
Die Vorlagen dazu gibt es beim Verlag an der Ruhr mit dem Titel „36 Hosentaschenbücher“. (Siehe: Literaturverzeichnis.)

Hierbei handelt es sich um Geschichten mit kleinen Aufgaben, an deren Lösung man auch erkennt, ob die Kinder den Text verstanden haben. Die Geschichten bestehen aus kurzen Sätzen, die die Kinder versuchen sollen zu lesen. Teilweise müssen Wörter ergänzt oder hinzugefügt werden. Die Bilder können die Kinder anmalen. Später wird das Buch dann zusammengeheftet.

Wir haben mit einem einfachen Büchlein, das heißt: mit einfachen Wörtern, angefangen. Mit Hilfe der Anlauttabelle haben Tamara und Nele die Sätze des Buches zusammen entschlüsselt und gelesen.

Bewertung und Fortführung des Projekts

Ich finde es toll, wie die Kinder, hauptsächlich Tamara und Nele, einen Prozess des selbstständigen Lesenlernens in Gang gesetzt haben und dabei auch noch andere Kinder motivieren. Besser als die Beiden hätte ich es nicht machen können.

Ich glaube, dass wir vielleicht bis zum Schulbeginn sogar selbst kleine Geschichten oder Hosentaschenbücher schreiben können.

Mittlerweile arbeiten alle Vorschulkinder aus meiner Gruppe auch an den Buchstaben aus dem Arbeitsheft mit. Natürlich jeder nach seinem Tempo. Es ist zwar manchmal etwas schwierig, dies zu koordinieren, aber es funktioniert meistens.

Die Richtung, die ich mit der ursprünglichen Gruppe eingeschlagen hatte, konnte ich nun so nicht mehr beibehalten.

Als schwierig hat sich der Versuch herausgestellt, die Förderung gruppenübergreifend anzubieten. Gründe hierfür waren, dass wir die Kinder aus ihrer gewohnten Gruppensituation herausgenommen haben. Sie waren es einfach nicht gewohnt. Manchmal haben sie sich beeilt, um fertig zu werden, um wieder in ihre Gruppe zu kommen.

In der Vergangenheit haben wir kaum gruppenübergreifend gearbeitet, weil die zweite Gruppe in der 1. Etage untergebracht und das Treppenhaus sehr unübersichtlich ist. Außerdem ließ die personelle Ausstattung dies in der Regel nicht zu.

Außerdem hat das Projekt über die teilnehmenden Kinder hinaus in den beiden Gruppen unterschiedliche Wirkung gezeigt. Während in meiner Gruppe der Wunsch zu lesen alle Kinder motiviert und vor allem die Vorschulkinder auch intensiv einbezogen hat, war dies in der zweiten Gruppe nicht der Fall.

Wir sind deshalb dazu übergegangen, in der zweiten Gruppe ebenfalls die Vorschulkinder zu integrieren und dort den Prozess, der sich in meiner Gruppe selbstständig entwickelt hat, in gleicher Weise nachzuvollziehen.

 

Datum der Veröffentlichung: Juli 2016
Copyright © Brigitte Gudat, siehe Impressum.

Tamara (5;2) erfindet Quiz-Fragen

von Brigitte Gudat

 

Zu Beginn meiner Praxisaufgabe hat meine Kollegin mit einer Kleingruppe von Kindern, darunter Tamara, das Märchen von Hänsel und Gretel erzählt.

Mehr zu Tamara lesen Sie hier:
Tamara, 4;4 Jahre alt

Vierjährige Geschichten-Erfinder

Tamara (5;5) und die Buchstaben

Lese-Frühförderung

 

Wir wollten herausfinden, wie die Kinder auf Quizfragen zu diesem Märchen reagieren. Die Kinder waren fasziniert, weil wir auch schon sehr lange keine Märchen mehr vorgelesen hatten. In den nächsten Tagen war das Märchen immer wieder Gesprächsthema bei den Kindern.

…kurz gefasst…

Im ersten Schritt verwendet die Autorin vorgefundene Quizfragen zu „Hänsel und Gretel“ und notiert die Antworten ihres Beobachtungskindes Tamara (5;2).

Im zweiten Schritt erarbeitet sie zusammen mit dem Mädchen eigene Quizfragen zum Märchen „Schneewittchen“. Diese Aufgabe ist für Tamara weitaus schwieriger, sie ist eine echte Herausforderung für das begabte Kind.

 

Erster Schritt

Zwei Tage später haben wir Tamara und anderen Kindern die Quiz-Fragen zum Märchen „Hänsel und Gretel“ gestellt.
Hier sind nur Tamaras Antworten wiedergegeben.

Wo lassen die Eltern Hänsel und Gretel allein?

    • – auf dem Spielplatz?
    • im Wald?
    • – bei der Oma?

Tamara: „Im Wald.“

Warum lassen die Eltern Hänsel und Gretel im Wald allein?

Tamara: „Damit die Eltern mehr Brot für sich selber haben und die Tiere sie fressen.“

Dürfen die Eltern das denn?

Tamara: —

Hänsel schleicht sich nachts aus dem Haus.
Was sammelt er draußen auf und steckt es in seine Hosentasche?

    • – Tannenzapfen?
    • – Stöckchen?
    • Kieselsteine?

Tamara: „Kieselsteine.“

Ist es draußen hell oder dunkel, als Hänsel Kieselsteine sammelt?

Tamara: „Dunkel.“

Warum sammelt er die Kieselsteine? Wozu braucht er sie?

Tamara: „Damit sie den Weg zurück finden; der legt die Steine auf den Boden.“

Was hat Hänsel mit den Kieselsteinen vor?

Tamara: —

Was versteckt die böse Stiefmutter, als Hänsel und Gretel wieder nach Hause zurück gefunden haben?

    • den Schlüssel?
    • – den Kuchen?
    • – Ostereier?

Tamara: „Den Schlüssel.“

Warum versteckt die Stiefmutter den Schlüssel?

Tamara: „Damit die Kinder nicht mehr reinkommen.“

(Das ist nicht ganz richtig, sie sollen nicht raus kommen.)

Wieso klettert Hänsel nicht einfach aus dem Fenster?

Tamara: „Weil er keine Lust hat, vielleicht ist das ja auch zu laut, wenn er da rausklettert. Und wenn er durch den Kamin klettert, ist er ganz schwarz, wie ein Schornsteinfeger.

Was fehlt dem Vater von Hänsel und Gretel?

    • Geld?
    • – der rechte Schuh?
    • Mut?

Tamara: „Das Geld, das Brot und der Schlüssel.“

(Hier hat Tamara sich teilweise von der Frage gelöst; und es zeigt sich hier auch, dass ihr die Sache mit dem versteckten Schlüssel nicht ganz klar geworden ist.)

Was könnte der Vater machen, wenn er Geld hätte?

Tamara: „Der Vater will dann Brot kaufen und die Kinder müssten nicht in den Wald.“

Wer pickt die Brotkrumen auf, die Hänsel und Gretel
auf den Weg gestreut haben?

    • die schwarze Katze?
    • – ein Drache?
    • die Vögel?

Tamara: „Die Vögel haben das Brot aufgepickt, und dann haben die Kinder das Haus von der Hexe gefunden. Die Hexe hat das Haus nur gebaut, damit sie Kinder anlocken kann.“

Was für ein Haus finden Hänsel und Gretel im Wald?

(Diese Frage hatte Tamara schon vorweg beantwortet.)

Was antworten Hänsel und Gretel, als die Hexe „Knusper, knusper knäuschen…“ ruft?

    • „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“?
    • – „Die Eule, die Eule, die machte viel Geheule“?
    • – „Der Hund, der Hund, der stopft sich voll den Mund“?

Tamara: —

Was passiert danach?

Tamara: „Nur Hänsel hat leckeres Essen bekommen, dann wird der dick und fett und die Hexe kann ihn braten.“

Wie schmecken Lebkuchen?

    • – bitter?
    • sauer?
    • süß?

Tamara: „Lecker.“

Kennst du etwas, das sauer schmeckt?

Tamara: „Sauer sind diese kleinen Sauerstangen, die sind lecker, Äpfel sind auch manchmal sauer.“

Kennst du etwas, das bitter schmeckt?

Tamara: „Schwarze Schokolade.“

Einmal konnten Hänsel und Gretel wieder nach Hause finden,
weil die Kieselsteine ihnen den Weg zeigten.
Warum fanden sie beim zweiten Mal nicht nach Hause?

    • weil sie die Brotkrumen nicht finden konnten?
    • – weil sie ihre Brille vergessen hatten?
    • weil die böse Stiefmutter die Tür abgeschlossen hatte und Hänsel deshalb keine Kieselsteine sammeln konnte?

Tamara: „Einmal haben sie nach Hause gefunden, weil die Vögel die Kieselsteine nicht aufpicken konnten.“

Hast du eine Idee, wie man wieder nach Hause finden kann, wenn
man sich verlaufen hat?

Tamara: —

Und dann sagt sie noch:

„Du hast vergessen zu fragen, wie das Märchen zu Ende gegangen ist. Die Hexe hat den Kopf in den Ofen gesteckt. Dann hat Gretel sie geschubst, dann hat die geschrieen, und Hänsel und Gretel sind weggelaufen. Vorher haben sie aber noch Edelsteine aus dem Hexenhaus geholt. Damit konnten sie viel Brot und anderes Essen kaufen.“

Anmerkung der Kursleitung:
Zum Wert von Quizspielen für die kognitive Förderung aller Kinder und speziell für die Hochbegabtenförderung lesen Sie den Beitrag Quizspiele. Hier finden Sie auch eine Spielregel für das Spielen mit einer größeren Kindergruppe.

Tamara haben die Quizfragen sehr viel Spaß gemacht. Sie war sehr konzentriert. Meistens war sie mit ihrer Antwort sehr schnell und hat keine Dinge wiederholt, die andere Kinder schon gesagt hatten. Sie hat sich meistens auf das Wesentliche konzentriert.

Zweiter Schritt

Wir fragten die Kinder, ob sie ein weiteres Märchen hören wollten. Sie wünschten sich „Schneewittchen“.
Am nächsten Tag hat meine Kollegin den Kindern das Märchen von Schneewittchen vorgelesen.

Zwei Tage später habe ich mit Tamara Fragen sowie zutreffende und unzutreffende Varianten der Antworten formuliert. Ich habe ihr erklärt, dass wir den anderen Kindern aus der Gruppe Fragen stellen und die Kinder dann erraten müssen, welche Antwort die richtige ist.

Folgende Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten sind erarbeitet worden:

Was hat sich die Königin gewünscht?
1- Ein Kind so rot wie Blut, so weiß wie Schnee und so schwarzhaarig wie Ebenholz.
2- Ein Kind so grün wie Gummibärchen.
3- Ein Kind so rot wie Kirschen.

Was hat die böse Königin den Spiegel immer gefragt?
1- Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat das meiste Brot im Land?
2- Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat das meiste Geld im Land?
3- Spieglein, Spieglein an der Wand wer ist die Schönste im ganzen Land?

Wie oft ist Schneewittchen schöner als die Königin?
1- 5 mal
2- 1000 mal
3- 13 mal

Warum wurde die Königin gelb und grün vor Neid?
1- Weil sie einen Mann gesehen hat, der rot im Gesicht war und gelbe Haare hatte.
2- Weil eine Katze um ihre Beine geschlichen ist.
3- Weil Schneewittchen tausendmal schöner ist als sie.

Warum ließ der Jäger Schneewittchen laufen?
1- Weil sie so schön war.
2- Weil sie sich gezankt hatten.
3- Weil er Mitleid hatte.

Wo ist Schneewittchen hingelaufen?
1- Zum Zwergenhäuschen.
2- Zur Hundehütte.
3- Zu McDonald’s.

Wie viele Zwerge wohnten dort?
1- 7
2- 101
3- 70

Was haben die Zwerge gesagt, als sie nach Hause gekommen sind?
1- Wer hat aus meinem Gläschen getrunken?
2- Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?
3- Wer hat den Fußboden schmutzig gemacht?
4- Wer hat auf meinem Bett gelegen?

Was hat die böse Königin verkauft?
1- Einen Schnürriemen.
2- Gläser.
3- Einen vergifteten Kamm.
4- Lutscher.
5- Einen Staubsauger.
6- Lappen.

Die böse Königin hat Schneewittchen etwas geschenkt. Was war das?
1- Schokolade.
2- Ein Buch.
3- Kerzenständer.
4- Einen vergifteten Apfel.

Wieso ist Schneewittchen wieder aufgewacht?
1- Weil der Apfel aus dem Mund gesprungen ist.
2- Weil sie ausgeschlafen war.
3- Weil der Prinz sie wach geküsst hat.

Fazit

Anfangs war es sehr schwierig für Tamara, zu einer Fragestellung zu kommen. Ich habe dann gesagt, ich könne mich nicht mehr richtig erinnern, was in dem Märchen von Schneewittchen passiert ist, weil ich nicht dabei war, als es vorgelesen wurde.

Tamara konnte einzelne Passagen des Märchens fast wortgetreu wiederholen.

Danach habe ich sie gebeten, mir Fragen zu stellen. Dies fiel ihr sehr schwer.

Als ich dann anfing, Teile des Märchens falsch zu erzählen, verstand sie, was ich wollte.

Bei einigen Fragen, bei denen wir nach falschen Antworten gesucht haben, erzählte sie von eigenen Erfahrungen, zum Beispiel:

    • Sie erschrickt immer, wenn ihr plötzlich die Nachbarskatze um die Beine schleicht.
    • Der Mann mit dem roten Gesicht entstammt einer Kindersendung, die sie gesehen hatte.
    • Staubsauger und Lappen wären nach ihrer Erfahrung Dinge, die Schneewittchen hätte brauchen können, um im Haus der Zwerge alles sauber zu machen.

Erstaunlich war, dass Tamara das Märchen nach zwei Tagen noch so detailliert wiedergeben konnte. Von Zuhause her kannte sie das Märchen nicht. Sie hat zu Hause erzählt, dass wir das Märchen in der Kita vorgelesen haben. Auf konkrete Fragen der Eltern antwortete sie, sie wisse das nicht mehr und habe es vergessen. Damit war das Thema zu Hause erledigt.

Eigentlich hatte ich mir die Aufgabe einfacher vorgestellt. Vielleicht waren auch meine Erwartungen zu hoch. Für Kinder ist es offenbar einfacher, frei heraus zu erzählen statt Fragen zu einem bestimmten Thema zu formulieren.

Anmerkung der Kursleitung:
Wir lieben Erzieherinnen wollen gerne, dass alles leicht für die Kinder ist. Aber Kinder – und insbesondere hoch begabte – strengen sich oft gerne an, um Neues zu lernen, sofern das Umfeld und die Kommunikation stimmen. Das zeigt auch Dein letzter Satz. 

Bei Spielen, bei denen es zum Beispiel darum geht, Begriffe zu erraten und zu umschreiben, hat Tamara überhaupt kein Problem. Vielleicht war die Informationsfülle des Märchens zunächst zu komplex. Sie hat sich gedanklich aber offensichtlich intensiv damit beschäftigt, sonst hätte sie es in dieser Form nicht wiedergeben können. Wir haben für die Ausarbeitung der Fragen und Antwortmöglichkeiten eine dreiviertel Stunde benötigt. Die ganze Zeit über hat sie konzentriert mitgemacht.

Anmerkung der Kursleitung:
Es ist eine recht abstrakte Anforderung für ein gerade mal fünfjähriges Kind, Fragen (für andere Kinder) zu formulieren, obwohl man selbst gerade gar keine Fragen dazu hat – und sich dann auch noch absichtlich falsche Antworten auszudenken. Das ist wie zweimal um die Ecke gedacht.
Sie konnte also mit Deiner Hilfe zwei für sie ganz neue Denkstrategien kennenlernen und hat sie bewältigt. 

Weitere Beobachtungen zu Tamara

Als sie einmal sagte, sie könne schon einige Wörter lesen und ich ihr anbot, mir etwas vorzulesen, meinte sie: „Ich kann noch nicht alle Buchstaben“. Darauf schlug ich vor, ihr einige Buchstaben zu zeigen. Das wollte sie nicht. Damit war das Thema für sie erst einmal erledigt.

Anmerkung der Kursleitung:
Möglicherweise wäre es hier geschickter gewesen, ganz genau auf ihre Botschaft einzugehen und sie zu fragen, welche Wörter sie denn schon lesen kann.

Ein paar Tage später habe ich sie gefragt, ob sie nicht Lust habe, mit noch zwei anderen Kindern im gleichen Alter beim Sprachtraining der Vorschulkinder mitzumachen. Dies war dann kein Problem. Seit wir versuchen, die Kleingruppenarbeit mit den Kindern nicht mehr nur nach Alter, sondern nach ihren Interessen und Fähigkeiten zu bilden, ist es für die Kinder normal, dass so genannte „Vorschulkinder“ mit jüngeren Kindern spezielle Dinge zusammen machen.

Mittlerweile haben wir mit der Vermittlung von Buchstaben angefangen und die Drei sind eifrig bei der Sache. Beim Sprachtraining werden die Buchstaben mit den Kindern erarbeitet, es wird dazu gemalt, es werden Geschichten erzählt, Spiele dazu gespielt, und die Buchstaben werden auch schon geschrieben. Seitdem finden sie sich auf sämtlichen gemalten Bildern der Kinder wieder. Tamara macht fast alles mit. Bei einigen Arbeitsblättern ist sie langsamer als die anderen, weil es ihr wichtig ist, sehr ordentlich und akkurat zu arbeiten. Dies stört sie jedoch nicht. Sie bleibt oft noch länger sitzen, um etwas fertig zu machen, auch wenn die anderen schon weg gegangen sind.
Manchmal unterhält sie sich noch mit mir oder ist sehr vertieft in ihre Arbeit.

Abschließend ist zu sagen, dass Tamara im Moment an vielen Dingen interessiert ist und wir versuchen, ihr möglichst gerecht zu werden.

 

Datum der Veröffentlichung: Juli 2016
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