Alle Kindernamen wurden verändert.

Beispiel von Claudia Flaig, Bonn:

Ich bearbeite mit Alena (4;6) den Interessen-Fragebogen.

Auf die Frage, was sie „gern noch ein bisschen besser können“ würde, betont Alena: „Ich möchte gerne können, dass ich schreiben kann.“
Auf eine weitere Frage, was sie gerne lernen möchte, antwortet Alena: „Flugzeug selber fahren, ein Riesenrad selber drehen.“ Auf meine Rückfrage zum Riesenrad erklärt sie, dass sie lernen möchte, die Technik in Gang zu setzen und zu verstehen, was dort passiert.

Alena antwortet auf die Frage: „Du triffst eine alte Frau, die alles über die Welt und das Leben weiß. Was würdest Du sie fragen?“ – „… Ich würde sie fragen, wie man ein Auto steuert oder eine Rakete.“

Datum der Veröffentlichung: November 2021

Anonymes Beispiel, aus den Notizen einer Mutter:

Iris sitzt auf der Toilette. „Hinter dem Spiegel ist mein Zimmer.“ Stimmt, die Wand, an der der Spiegel hängt, ist die Trennwand zu ihrem Zimmer. (3;6 Jahre.)

„Und die Oma ist eine Mama. Die Mama von Papa.“  Ich: „Und eine Oma. Von wem?“ – „Von mir.“ (3;6 Jahre.)

„Ist jetzt  Abend?“ –  „Ja.“ –  „Das habe ich mir schon gedacht (= zurzeit Iris´ Lieblingssatz). Drüben (im Esszimmer) war es schon so dunkel und hier im Badezimmer ist es noch ein bisschen hell. Das ist, weil hier die Sonne untergeht.“ Das stimmt, die Sonne geht am Badezimmerfenster unter. (3;8 Jahre.)

„Die Möhren wachsen in der Erde. Und dann kommen die in die Packung. Die kommt dann in den Supermarkt. Und da kaufst Du die dann.“ (3;8 Jahre.)

Heute ist Gas geliefert worden. Mit einem langen Schlauch (Tankwagen) wurde der Tank aufgefüllt. Iris erklärt uns später ganz begeistert, wie der Schlauch wieder aufgerollt wurde. „Der Schlauch ist noch länger. Wenn dann jemand noch weiter weg wohnt, dass der dann noch passt.“ (3;8 Jahre.)

Datum der Veröffentlichung: Mai 2021

Beispiel von Ellen Görg, Kürten

Isabel (2;3) hat den Durchblick.
In unserer Einrichtung hat jedes Kind ein Schildchen, auf dem „sein“ Symbol zu sehen ist. Isabel hat ein Schäfchen – das ist zugleich ihr Lieblingskuscheltier, das sie täglich mitbringt.

Zu den Schildchen heißt es im Pädagogischen Konzept unserer Einrichtung:
„Angelehnt an die Freinet-Pädagogik arbeiten wir mit einer An- und Abmeldetafel. Sie hängt zentral im Gruppenraum und ist mit Fotos aus allen Bereichen der Einrichtung versehen, zum Beispiel: Gruppenraum, Funktionsräume, Küche, Büro, Außengelände, Schlafraum. Zudem gibt es noch Fotos, auf denen symbolisch Urlaub, Kranksein, (rotes Kreuz), zu Hause, Einkaufen u.a. zu sehen ist. Die Anzahl der Haken neben den Bildern bestimmt die Anzahl der Kinder, die den jeweiligen Bereich zur gleichen Zeit nutzen können. Dies bedeutet, dass sich die Kinder anhand ihrer Symbolschilder frei nach ihren Bedürfnissen einem Bereich zuordnen. Für jeden Bereich sind mit den Kindern Regeln aufgestellt worden, die eigenverantwortlich einzuhalten sind.“

Isabel hat mit gerade mal zwei Jahren das Prinzip der An- und Abmeldetafel schnell erfasst. Jeden Morgen, wenn sie in die Gruppe kommt, sucht sie ihr Schild und hängt es an das Foto vom Gruppenraum. Sie ist meistens als Erste da und achtet darauf, dass jedes Kind sein Schild aufhängt. Wird es von einem Kind vergessen, macht Isabel es darauf aufmerksam – oder Isabel hängt es für das Kind an. In unserer Gruppe sind derzeit 18 Kinder, davon fünf Schulkinder. Von den 13 ein- bis sechsjährigen Kindern und von uns drei Erzieherinnen kennt sie alle Schilder, kann sie zuordnen und benennen.

Wird im Morgenkreis besprochen, welche Kinder wegen Krankheit fehlen, ist Isabel in der Lage, deren Schildchen an das Foto mit dem roten Kreuz zu hängen.
Frage an Isabel: „Welche Kinder sind heute noch nicht da?“ Sie gibt die richtige Antwort: „Marian, Meike, Benjamin“. Ich erkläre, dass die Kinder nicht da sind, weil sie krank sind.
„Isabel, hänge bitte die Schildchen an unsere Tafel an!“ Sie führt diesen Auftrag richtig aus, kommt zurück in den Morgenkreis und verfolgt weiter das Geschehen.

Veröffentlicht im Mai 2015

Siehe auch die Beiträge zu Isabel:
Hinweise auf Hochbegabung bei einer Zweijährigen
Eine Zweieinhalbjährige meistert schwierige Aufgaben
Isabel (2;10) und die Zahlen
Isabel (3;3) lernt „Halli Galli“
Bei ZahlenSpielen findet Isabel (3;8) passende Spielgefährten

Beispiel von Bettina Ulrich, Düsseldorf

Kinder, die diese Interessen zeigen, spielen oft besonders früh und besonders gerne schwierige Spiele (Spiele für Erwachsene). Während ihres IHVO-Zertifikatskurses berichtete Bettina Ulrich:

Wichtig finde ich, die Selbstständigkeit und Neugier jedes Kindes zu stärken, sich von Altersnormen zu verabschieden und alle Kinder so anzunehmen, wie sie sind. Nicht das Kind muss sich der Kindertagesstätte, sondern die Kindertagesstätte muss sich dem Kind anpassen.

Darunter verstehe ich zum Beispiel: Spielmaterial nicht nach Kinderalter zu ordnen und auch schwieriges Material anzubieten.
Als in unserer Gruppe ein vom Trödelmarkt übrig gebliebenes Monopoly-Spiel herumlag, war ein Junge ganz begeistert, nahm es und bat jede Erzieherin und die Praktikanten, das Spiel mit ihm zu spielen.

Er verfolgte das sehr ausdauernd und mit anhaltender Begeisterung, bis er in die Schule kam. Inzwischen hat er auf Grund seiner mathematischen Hochbegabung eine Klasse übersprungen.

Doch ich muss sagen, damals war ich noch unsicherer, was den Umgang mit ihm anbelangt. Ich ließ es dabei und suchte nicht bewusst noch mehr Anregungen für ihn.

Andere Bereiche, wie zum Beispiel Geschicklichkeit (sich ein Glas Wasser eingießen oder zeichnen), ließen bei ihm zu wünschen übrig. Ich achtete mehr darauf, diese Defizite auszugleichen. Heute würde ich anders mit ihm umgehen.

Veröffentlicht im Dezember 2014

Beispiel von Hanna Vock, Bonn

In der Kindergartengruppe sitzen die Kinder beim Adventskalender. Für jedes Kind hängt eine Tüte an einer Schnur. Jeden Tag darf ein anderes Kind seine Tüte abschneiden und auspacken.

Wer dran kommt, entscheidet am Vortag das Los: in einer Dose ist für jedes Kind ein Kärtchen mit seinem Garderobenbild. Mittags zieht ein Kind aus dieser Dose ein Kärtchen, ohne hinzusehen. Das Kind, dessen Kärtchen gezogen wird, kommt am nächsten Tag dran und darf sich dann seine Tüte holen.

Daniel (3;5) und Leo (3;6) erleben diese jährliche Prozedur zum ersten Mal. Leo ist ein ganz normal entwickeltes und gut gefördertes Kind, Daniel ist hoch begabt, mit einer Vorliebe für Mengen, Zahlen und logische Zusammenhänge, was sich im Kindergartenalltag später immer wieder bemerkbar macht.

Wenn ich nun frage: „Na, wer ist denn heute dran?“, wissen die älteren Kinder Bescheid und rufen den Namen. Daniel bleibt dann ruhig und gelassen, Leo ist jedes Mal tief enttäuscht, heult auf und fragt mich immer wieder: „Warum nimmst du mich nicht dran?“

Eines Tages bitte ich die beiden Jungen, noch kurz da zu bleiben und stelle (vor der Auslosung für den nächsten Tag) zuerst Leo die Frage: „Na, Leo, glaubst du, dass du morgen dran kommst?“ Leo (strahlend): „Jaaa!“ Nachfrage: „Warum glaubst du das?“ Leo:

„Weil ich das haben will.“

Daniel antwortet auf dieselbe Frage:

„Kann sein, kann auch nicht sein.“

Und auf die Nachfrage: „Wie meinst du das?“ Daniel: „Na, wenn ich nachher gezogen werde, komme ich morgen dran, und wenn nicht, dann nicht. …Vielleicht komme ich aber auch erst als Allerletzter dran.“

Leo zeigt eine völlig alterstypische Reaktion: sein Denken ist von seinem starken Wunsch beherrscht, endlich dran zu kommen. An jedem Tag ist er aufs Neue gespannt und erwartungsfroh und dann wieder enttäuscht und zunehmend böse auf mich als Erzieherin und fordert von mir, dass ich ihn dran nehmen soll, sodass ich schließlich schummele, um Leo und seine Beziehung zu mir zu entlasten. Die ältesten Kinder merken es, denken sich ihr Teil, lächeln nachsichtig und verständnisvoll.

Das Prinzip des Zufalls versteht Leo noch nicht. Er versteht auch nicht die Erklärungsversuche der älteren Kinder, fühlt sich aber durch ihre Zuwendung teilweise getröstet. Er ist ebenfalls geistig aktiv und versucht sich das Geschehen zu erklären. Da ihm aber das Zufallsprinzip als Erklärungsmuster (noch) nicht zur Verfügung steht und er auch noch keinen klaren Überblick über die Zeitbezüge zwischen den Begriffen „gestern“, „heute“ und „morgen“ hat, ist er sehr im Nachteil. Er kann sich die Tatsache, dass er jetzt wieder nicht dran kommt, nur so erklären, dass irgendwer willkürlich und grade jetzt sein Drankommen verhindert hat. Nahe liegender Weise wird die Erzieherin dafür verantwortlich gemacht.

Daniel durchschaut das System dagegen klar. Auch er zeigt (in den nächsten Tagen) immer wieder Enttäuschung, äußert sie aber anders: „Schon wieder Pech!“ / „O nein, kann denn nicht mal wer mein Bild ziehen?“

Datum der Veröffentlichung: 30.10.08

Beispiel von Hanna Vock, Bonn

Jan (Name geändert) war 6 Jahre alt und in der Grundschule hoffnungslos geistig unterfordert. Er besaß eine Schülerfahrkarte für den Nahverkehr einer Stadt mit über einer halben Million Einwohnern.

Aus dem Besitz der Monatskarte, aus seinem frühen Interesse für Systeme und aus seinem außergewöhnlich guten Gedächtnis bastelte er sich ganz allein eine geistige Herausforderung:

Er fuhr nach Schulschluss nicht nach Hause, sondern begann auf eigene Faust das Nahverkehrsnetz der Großstadt zu erkunden. Darauf verwandte er täglich mehrere Stunden und fuhr erst nach Hause, wenn er genug erkundet hatte, oder wenn Hunger oder Durst zu groß wurden.

Für seine Mutter war dies eine harte Prüfung. Sie hatte den bei Müttern weit verbreiteten und auch verständlichen Drang, dieses unübliche Tun des kleinen Sohnes zu unterbinden.

Jan zeigte sich zwar momentan beeindruckt, aber der Wunsch, dem gespeicherten „Netz“ immer neue Bausteine hinzuzufügen und auf ganz eigene, abenteuerliche Weise etwas zu lernen, erwies sich am nächsten Mittag stets als stärker.

Jedenfalls bildete sich Jan zum Experten, der auch mit Straßenbahn- und Busfahrern ins Gespräch kam und von ihnen auch schon mal um Auskunft für andere Fahrgäste gebeten wurde. Denn in seinem Kopf hatte er alle Linien mit allen Haltestellen und Umsteigemöglichkeiten gespeichert.

Später fühlte er sich genauso stark zur Informatik mit ihren Informations“netzen“ hingezogen.

Jan zeigt uns, dass komplexe Netze für manche hoch begabte Kinder extrem interessant sein können. Und er zeigt auch, dass manche hoch begabte Kinder für sich ganz andere Lernstrategien entwickeln können, als die Grundschule in ihrem Angebot hat. Und Jan zeigt, dass er bei dieser selbst gestellten Aufgabe eine sehr große Ausdauer und Beharrlichkeit entwickeln konnte.