Divergentes Denken

von Hanna Vock

 

Junge hoch begabte Kinder haben viele verschiedene außergewöhnliche Denkfähigkeiten. Besonders wichtig erscheint mir ihre oft sehr große Fähigkeit, divergent zu denken, die sich schon früh, also im Kita-Alter, äußern kann.

Das Gegenteil vom divergenten ist das konvergente Denken; es ist nachvollziehend und bewegt sich in „üblichen“ Bahnen. Für viele Bereiche des Lebens, für Teile des Lernens, für viele Berufe, für die Wissenschaften ist es unverzichtbar. Und auch der begabteste Mensch denkt immer wieder konvergent.

Als aneignendes, nachvollziehendes Lernen ist es auch eine wichtige Basis, auf der kreative Leistungen erst möglich werden.
Trotzdem können wir beobachten, dass hoch begabte Kinder schon früh „doppelgleisig“ fahren: Wenn ihnen Neues begegnet und in ihren Aufmerksamkeitsfokus gerät, laufen im Rahmen des Aneignungsprozesses gleichzeitig divergente Denkprozesse ab. Sie setzen sich kritisch mit den neuen Informationen auseinander und suchen nach einer kreativen Einpassung in ihr Weltbild. Dabei loten sie Möglichkeiten aus, die Dinge auf andere Art zu betrachten und zu verstehen.

Dies tritt besonders deutlich hervor, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen. (Dabei meint der Begriff „Problem“ hier nicht unbedingt eine unerfreuliche Situation, sondern generell den Wunsch, etwas Bestimmtes zu begreifen oder zu verändern.)

Für diese Art kreativen Denkens erfand Joy Paul Guilford, ein US-amerikanischer Psychologe, den Begriff „divergentes Denken“.

Im Unterschied zum kritischen Denken wird hier oft die (eventuell bessere) Alternative oder sogar mehrere andere Lösungen mitgedacht. Es hat also einen hohen kreativen Anteil.

Das divergente Denken ist für das Kind (wie auch für Erwachsene) mit Risiken verbunden:
– Es kann sich „verzetteln“ und verliert vor lauter abweichenden – oder auch weiter führenden – Ideen das (Lern-) Ziel aus den Augen. Für Schüler kann das heißen, dass sie vor lauter Nachdenken, zum Beispiel über ein Kapitel aus dem Geschichtsbuch, nicht mehr dazu kommen, sich die für den Test verlangten Inhalte einzuprägen.
– Es kann die Anderen überfordern und sich dadurch unbeliebt machen.
– Es kann schmerzlich spüren, dass es mit seinen Gedanken alleine ist und dafür keine soziale Bestätigung erhält.

Wenn hoch begabten Kindern dann ihre Neigung zu divergentem Denken abhanden kommt, weil sie die oben angeführten Erfahrungen zu oft machen mussten, dann werden kreative Prozesse und Leistungen eher unwahrscheinlich.

 

Siehe auch: Denken fördern
Dort finden Sie auch eine Auflistung anderer Denkformen.

Siehe auch: Die kreative Persönlichkeit

 

Datum der Veröffentlichung: Dezember 2015
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