Was ist Erziehung? Und wann beginnt sie?

von Hanna Vock

 

Die Verantwortung der Erwachsenen gegenüber Kindern umfasst dreierlei:

Betreuen – Erziehen – Fördern.

Damit diese drei Prozesse gelingen können, müssen Voraussetzungen gegeben sein:

Unbedingt: die vorbehaltlose Liebe der Eltern, die offene emotionale Zuneigung der Erziehenden, Aufmerksamkeit und Zuwendung, Authentizität, der Wille zu Fairness und elementare materielle Grundlagen.

Wünschenswert bei den Erziehenden: eine zumeist heitere, lebensbejahende Stimmung, Vitalität und Humor, materielle Spielräume, Interesse am Lernen und Begreifen.

In diesem Handbuch geht es zwar schwerpunktmäßig ums Fördern, aber auch bei der Förderung hoch begabter Kinder tauchen natürlich immer wieder Erziehungsfragen auf. Und Kindertagesstätten sind ja auch gesetzlich verpflichtet, an der Erziehung der Kinder mitzuwirken, möglichst in enger Zusammenarbeit mit den Eltern.

Es ist auch kein Kita-Tag denkbar, an dem nicht erzieherische Entscheidungen des Teams oder der einzelnen Erzieherin wirksam werden, manchmal auch dadurch, dass wir nichts tun.

Was genau ist Erziehung?

Die Literatur dazu ist tonnenschwer, trotzdem möchte ich meine eigene Sichtweise noch hinzufügen.

Technisch gesehen ist Erziehung absichtliche oder unabsichtliche Verhaltenslenkung.

Kinder werden im Laufe ihrer Erziehung zu bestimmten Verhaltensweisen hin und von anderen Verhaltensweisen weg gelenkt. Dies gilt auch für die Selbsterziehung (oder auch Fremderziehung) des Erwachsenen.

Wohin es geht im Erziehungsprozess, hängt von den Lebenserfahrungen des Kindes (oder auch des Erwachsenen) ab. Auf die Lebenserfahrungen des Kindes, die seine Erziehung prägen, versuchen die Erwachsenen aller Kulturen entscheidend einzuwirken.

Unumstritten ist, dass der Einfluss der Eltern und anderer Personen, die im Leben des Kindes bedeutsam sind, sehr groß ist. Ich halte ihn für ganz entscheidend. Er ist eine große Macht, die nur verantwortungsvoll genutzt werden darf.

Die Grenze zur abzulehnenden Manipulation ist überschritten, wenn das Kind zu einem Verhalten veranlasst wird, das überwiegend den (egoistischen) Interessen des Erziehenden dient. Das Verfolgen egoistischer Ziele in der Entwicklung macht den Erzieher zum Manipulator.
Beispiele: „Ich will erreichen, dass das Kind fügsam ist und meine Bequemlichkeit nicht stört“ – „Ich will erreichen, dass das Kind erfolgreich ist, damit ich mit ihm Eindruck machen kann.“ – „Ich will erreichen, dass das Kind Karriere macht, damit ich es später gut habe.“ – „Ich will erreichen, dass das Kind meine Einsamkeit mildert und mich nicht allein lässt.“

Abgesehen von der Manipulationsgefahr, gilt auch generell: Je weniger verantwortungsvoll oder zielführend die Eltern erziehen, umso wichtiger wird der positive Einfluss anderer Menschen, die dem Kind nahe sind. Manche Eltern wollen das Beste, kriegen es aber bei weitem nicht hin.

Wenn Eltern es nicht schaffen, für ihr Kind ein gut strukturiertes Umfeld zu schaffen, wenn sie in ihrer positiven Zuwendung unzuverlässig sind, wenn die Grundbedürfnisse nur unzureichend erfüllt werden, wenn die Eltern kein gutes Kommunikationsmuster vorleben, dann wird ein „positives Alternativbild“ sehr wichtig.
Das Kind hat nicht nur (neben der Familie) in der Kita einen zusätzlichen Lebensraum, sondern es hat einen, in dem es sich wohl und entspannt fühlen kann, wo es das Muster eines gedeihlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens kennenlernen und neuartige Anregungen für seine soziale Entwicklung erhalten kann.

Erziehungsziele

Für jeden Erziehenden gilt: Seine Erziehungsziele hängen davon ab, welches Bild er von einem gut erzogenen Kind hat. Dieses Bild ist sein Ziel, ob es ihm nun bewusst ist oder nicht.

Jemand, der mit viel Gleichgültigkeit oder sogar Rücksichtslosigkeit gegenüber Anderen Karriere gemacht oder viel Geld verdient hat, findet es womöglich erstrebenswert, dass auch seine Kinder diese Eigenschaften kultivieren. Er wird vielleicht nicht das Ziel haben, seine Kinder zum Teilen, zum Abgeben, zum achtsamen Umgang mit anderen Menschen, zu Fairness bei der Durchsetzung eigener Ziele zu erziehen.

Schwierig wird es für Kinder, wenn das Eine (Gute) „gepredigt“ wird und das Andere (nicht so Gute) vorgelebt und auch eigentlich vom Kind erwartet wird. Das Kind kann dann nur verzweifeln, sich auflehnen oder ebenfalls lernen zu heucheln.

Da viele unterschiedliche Zielvorstellungen möglich sind, komme ich nicht umhin, mein eigenes Bild eines gut erzogenen Kindes zu entwerfen. Mit diesem Bild müssen meine Leserinnen und Leser natürlich nicht übereinstimmen.

Im Kleinkind- und Kindergartenalter möchte ich nach Kräften dazu beitragen, dass das Kind mit etwa fünf bis sechs Jahren die folgenden sozialen Eigenschaften und Fähigkeiten entwickelt hat:

    • Es kann seine eigenen Bedürfnisse klar erkennen und vertreten.
    • Es hat ein positives Selbstwertgefühl.
    • Es kann die Bedürfnisse anderer wahrnehmen und weitgehend achten.
    • Es kann um Hilfe oder Auskunft oder Erklärung bitten, wenn es sie braucht.
    • Es kann aggressive Impulse meistens stoppen.
    • Es kann sich angemessen wehren, wenn es angegriffen wird.
    • Es geht grundsätzlich freundlich, offen und unvoreingenommen auf andere Menschen zu.
    • Es hat ein ausgeprägtes Empfinden für Recht und Unrecht.
    • Es erkennt Regeln an, die ihm einleuchten, und hält sie meistens ein. Es kann Regeln kritisch hinterfragen und gegebenenfalls dagegen oder für eine bessere Regel argumentieren.
    • Es kann Wünsche aufschieben, wenn etwas anderes Wichtiges zu tun ist.
    • Es kann auf sein Eigentum achten und achtet auch das Eigentum anderer.
    • Es kann mit anderen teilen und Freude dabei empfinden. Es macht aus eigenem Antrieb Geschenke.
    • Es kann anderen zuhören und sie meistens ausreden lassen.
    • Es kann mit anderen friedlich zusammen spielen und zweckmäßig zusammen arbeiten.
    • Es kann über einen längeren Zeitraum Freundschaft halten.
    • Es kann sich mit Freunden verabreden und zu ihnen halten.
    • Es versucht, Streit zu schlichten.
    • Es versucht Hilfe zu holen, wenn Jemand angegriffen wird.

Ist Erziehung nötig?

Oft werde ich von Eltern gefragt, was ich von „Erziehung im engeren Sinne“ halte, ob es wirklich nötig ist, „Maßnahmen zur Erziehung“ zu ergreifen, und ob es nicht ausreicht, die Kinder in guten Bedingungen aufwachsen zu lassen.

Meine Antwort ist: Gute Lebensbedingungen, wie oben beschrieben, sind Voraussetzung für gelingende Entwicklung.

Aber ich sehe Eltern (und auch Erzieherinnen) vor die Aufgabe gestellt, alle drei Anforderungen zu erfüllen, damit das Kind alles bekommt, was es zu einer glücklichen Entwicklung braucht:

1. Betreuung.
Dazu gehört:
Lieben; kuscheln;
beschützen; verlässlich versorgen;
eindeutig liebevoll, ehrlich, freundlich und respektvoll kommunizieren.

Auch der Erziehende profitiert, wenn er seine Sache gut macht: Er erntet die Zuneigung des Kindes, seinen Charme, seine Zärtlichkeit.

2. Förderung (Bildung).
Dazu gehört:
Dem Kind aktiv helfen, die Welt (und damit auch sich selbst) immer besser zu begreifen und zu verstehen.
Eine positive (bestenfalls humorvolle) Lernatmosphäre schaffen und die Werkzeuge zur Erkenntnis beibringen.

Auch der Erziehende profitiert: Er entdeckt und lernt mit dem Kind Dinge, die er noch nicht wusste; vieles begreift er besser, indem er es erklärt. Die Fragen des Kindes bringen ihn auf neue Gedanken.

3. Erziehung.
Dazu gehört:
Dem Kind aktiv helfen, sich zu einem sozialen Wesen zu entwickeln,
zu einem fairen, umsichtigen, verlässlichen und angenehmen Zeitgenossen zu werden.

Auch der Erziehende profitiert: Er wird vom Kind erzogen, sich selbst zu überwinden, um die dichten und immerwährenden Versorgungs-, Schutz- und Kommunikations-Bedürfnisse des Kindes verlässlich zu erfüllen. Er lernt eigene Bedürfnisse nach Schlaf, nach Ruhe, nach Hobbys, nach Geselligkeit im notwendigen Maß zurückzustellen.
Er wird dazu erzogen, noch stärker auf eigene Wahrhaftigkeit zu achten, nicht das Eine zu sagen und das Andere zu tun.

Bei alldem kommt es auf das rechte Maß an: Liebe verweigern ist schlimm, aus Liebe erdrücken aber auch; beschützen ja, aber nicht gnadenlos überbehüten, wie es heutzutage oft zu beobachten ist; verlässlich versorgen, aber nicht überfüttern und verwöhnen; kognitiv fördern und dabei weder über-, noch unterfordern…

Nicht unwichtig ist dabei, wie weit die Bezugspersonen ein Gespür dafür haben, wie dringend das Kind Zuwendung braucht. Das kleinste Knötern des Babys, die kleinste Unmutsbezeugung des Kleinkinds als Alarm zu betrachten und sofort zu beantworten, setzt bei dem Kind einen Lernprozess in Gang, der den Erwachsenen später auf die Füße fallen kann.
Das Kind aktiviert dann unter Umständen nicht seine eigenen Selbstberuhigungskräfte, sondern beginnt die Zuwendung auch bei kleinem Unbehagen zu erwarten und zu verlangen; Die Unmutsbekundungen werden gesteigert, in manchen Familien bis hin zu hysterisch erscheinenden, die Umwelt stark belastenden Auftritten des Kindes. Diese Falle ist für sehr aufmerksame und sensible Eltern aufgestellt und schnappt leichter zu beim ersten oder einzigen Kind. Dem Kind wird wenig oder nichts zugemutet, was wiederum zu einem geringen Selbstvertrauen beim Kind führen kann. Es braucht dann dauerhaft sehr viel Hilfe und Rücksichtnahme, um klar zu kommen.
So kommt es manchmal zu dem scheinbar paradoxen Bild, dass Kinder, die zwar in einer verlässlichen und liebevollen Eltern-Kind-Beziehung leben, aber nicht pausenlos „bemuttert“ wurden, oft als stärker und selbstsicherer wahrgenommen werden.

Hier eine gute Balance zu finden zwischen liebevoller, verlässlicher Zuwendung auf der einen Seite und „Zumutungen“ an das Kind, sich selbst (und Anderen) zu helfen, ist eine immerwährende Aufgabe, sowohl in der Familie wie auch in der Kita.

Und wann fängt die Erziehung an?

Betreuen und Fördern beginnen mit der Geburt. Und das Erziehen?

Ich finde, bis zum Alter von etwa zwei Jahren sollten Kinder in vieler Hinsicht „Narrenfreiheit“ haben. (Die Ausnahme ist: Sie müssen schon früher daran gewöhnt werden, ein „Nein“ zu respektieren, siehe unten.)
Sie erleben sich hoffentlich geliebt und sicher und gut versorgt – und machen „ihr Ding“. Sie folgen ihren Impulsen in einer hoffentlich gut strukturierten und anregungsreichen Umgebung, in der ihre Grundbedürfnisse verlässlich erfüllt werden.

Als diese Grundbedürfnisse sehe ich an:

Nahrung,
Sicherheit („auf mich wird gut aufgepasst“),
Bewegung,
Wärme,
frische Luft,
körperliche Nähe zu liebenden Personen,
emotionaler und geistiger Kontakt zu liebenden Personen,
Körperpflege,
ungestörte Ruhe,
eine anregende Umgebung,
viel Freiheit zur Erkundung dieser Umgebung (um die Entdeckerfreude zu erhalten und zu befeuern).

Was genau verstehe ich unter Erziehung im frühen Alter?

1. Erziehung zu immer größerer Selbstständigkeit
2. Erziehung zu sozialem Verhalten

Der erste Punkt ist unkompliziert, wenn es gelingt, Überbehütung zu vermeiden.
Die Ursachen für Überbehütung sehe ich zum Einen in (oft unrealistisch übertriebenen) Ängsten um das Kind, zum Anderen in egozentrischem Verhalten von Eltern, die das Kind an sich binden, um nicht allein zu sein oder um sich durch das starke Kümmern um das Kind unentbehrlich zu fühlen und eine alles ausfüllende Aufgabe zu haben.

Zur Erziehung zu Selbstständigkeit gehören aber nicht nur Freiheiten, sondern auch viel konkrete Anleitung zum Tun. Auch diese Mühe müssen sich Eltern und Erzieher machen.

Auf den zweiten Punkt möchte ich näher eingehen.

Erziehung zu sozialem Verhalten ist, aus einem einjährigen ich-bezogenen kleinen Menschen einen fünfjährigen sozialen kleinen Menschen werden zu lassen, der gut für sich selber einstehen kann und anderen Respekt entgegen bringt.

Die starke Ich-Bezogenheit des Säuglings und des einjährigen Kindes ist sinnvoll: Ein Menschlein mit so wenig Selbstständigkeit muss nehmen, was es kriegen kann.
Es ist niedlich, es kann lächeln, strahlen und glucksen, notfalls muss es schreien und „nerven“.
Seine Wahrnehmungsfähigkeiten, seine kommunikativen und mentalen Fähigkeiten reichen noch nicht aus, um sich anders zu verhalten. So kleine Kinder haben deshalb in sehr vielen Kulturen die oben schon erwähnte „Narrenfreiheit“, sogar bei höheren Säugetieren ist dieses Phänomen zu beobachten.

Das ändert sich beim Menschen im dritten Lebensjahr. Die Erziehung durch die Erwachsenen (aber auch durch ältere Kinder) beginnt beim Zweijährigen.
Die beiden anderen Anforderungen (Betreuen, Fördern) müssen von den Erwachsenen von Anfang an erfüllt werden.

Das frühe „Nein!“

Das erste Erziehungsmittel ist das Wort „Nein“. Manche bevorzugen „Stopp“, weil es nicht so schneidend klingt, wenn es laut gerufen oder mit Bestimmtheit ausgesprochen wird. Ich bevorzuge das stärker alarmierende „Nein“. Eltern, die den rechtzeitigen Einsatz des „Nein“ (oder „Stopp“) – oder seine konsequente und bestimmte Anwendung zur richtigen Zeit – verpassen, haben es später schwer.
Das Nein bedeutet nicht: „Mir passt das (jetzt gerade) nicht“, sondern: „Das ist nicht erlaubt“. Es bezieht sich nicht auf meine Laune, sondern auf eine Norm, die in der Gemeinschaft des Kindes gilt / gelten soll, in der das Kind sich befindet.

Das „Nein“ rechtfertigt sich nur durch ganz, ganz viel „Ja“. Ein Übergewicht des „Nein“ kann kein Kind akzeptieren. Im Vordergrund müssen ganz eindeutig Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten des Kindes stehen, damit das „Nein“, wann immer es notwendig wird, vom Kind befolgt werden kann.

Notwendig ist das „Nein“ nur,
– wenn die Sicherheit des Kindes oder anderer Menschen oder Lebewesen in Gefahr ist,
– wenn Fairness durchgesetzt werden muss,
– wenn bestimmte Dinge vor Beschädigung zu schützen sind,
– wenn die Nerven der Eltern oder anderer Menschen andernfalls überstrapaziert werden.

Das „Nein“ kann schon wirksam werden, auch wenn das Kind den Wortsinn von „Nein“ noch gar nicht versteht. Es sind der alarmierende Ton und die entsprechende Mimik, die ausreichen. Da Kinder unterschiedlich empfindlich sind, reicht bei manchen schon weniger Nachdruck in Stimme und Mimik, andere Kinder brauchen mehr davon.

Von Anbeginn der Menschheit bis heute müssen die Erwachsenen kleine Kinder durch Alarmrufe stoppen, und zwar sobald sich kleine Kinder fortbewegen können. Die Erwachsenen müssen aufmerksam sein und schnell und laut reagieren, wenn ein Kleinkind im Begriff ist, etwas Gefährliches zu tun – in einen Bach fallen, auf einen gefährlichen Felsen klettern, ins Feuer tappen, auf eine Straße laufen. Und – solange dem Kind nicht klar ist, wo die Grenze ist, muss man hingehen und dem Kind helfen, die Grenze zu begreifen.

Dieser Alarmruf wurde und wird nicht nur angewandt, wenn das Kind sich oder andere in Gefahr bringt, sondern auch in Momenten, in denen das Kind anderen gegenüber gerade übergriffig werden will – oder wenn es im Begriff ist, wertvolles Gut zu gefährden. Will ein einjähriges Kind ein anderes in den Haaren ziehen, um eine Sandform zu bekommen, dann sollte man dem Kind Einhalt gebieten – und zwar schnell, möglichst am Beginn der Handlung, und sich hinbewegen, um die Norm „Nein, nicht in den Haaren ziehen“ mimisch und verbal zu bekräftigen.

Das ist anfangs sehr mühsam, aber nur so ist zu verhindern, dass das Kind aus aggressiven Impulsen eine Durchsetzungsmethode entwickelt, die es dann schwer wieder los wird, wenn sie immer mal wieder erfolgreich war. Aber auch das Kind, das (beinahe) Opfer einer Aggression geworden ist, lernt, dass es das Recht auf Unversehrtheit hat (und dass die Erwachsenen es zuverlässig schützen).

Also je sorgfältiger und fleißiger man die Einjährigen erzieherisch begleitet, desto früher kann man sie dann guten Gewissens unbeobachtet lassen.

Das Gute ist: Wenn Kindern früh antrainiert wird, auf ein lautes „Nein!“ mit Innehalten und Abbruch der beabsichtigten Handlung zu reagieren, kann man ihnen mehr (Bewegungs-) Freiheit geben.

In unserem Kindergarten war es gelungen (und sicher in vielen anderen auch), dass es sehr wenige aggressive Übergriffe zwischen den Kindern gab. Und wenn es doch geschah, wusste das angegriffene Kind, dass es sich wehren durfte, ohne dass die Erwachsenen oder die anderen Kinder sein (Zurück-) Schlagen auf dieselbe Stufe wie die Aggression gestellt hätten.

Viele Kinder haben eigentlich ein feines Empfinden für den Unterschied von Aggression und Notwehr. Leider wird dieses feine Empfinden aber häufig dadurch verwirrt, dass ein Erziehender die Grenze vermischt. Ruft der Aggressor nur laut genug „Aber der hat mich auch geschlagen!“, dann hört man nicht selten: „Ihr sollt das Beide nicht tun.“ Juchhu, auf zur nächsten Aggression! – wenn man so davonkommt.

Wie kann der Alarmruf wichtiges Hab und Gut schützen?

Als mein ältester Enkel begann durch unser großes Zimmer, in dem auch meine Arbeitsecke eingerichtet ist, zu rollen und bald auch zu kriechen, hatte er von der Tür bis zu meiner Arbeitsecke 6 Meter zurückzulegen. An der anderen Seite angekommen, lockten Regale mit Ordnern. Sie herauszuziehen und zu zerfleddern wäre für den kleinen starken Jungen ein Leichtes gewesen und überdies in dieser Entwicklungsphase für ihn überaus reizvoll.
An der gegenüber liegenden Seite (6 Meter entfernt) steht auch ein Regal, bei dem die unteren beiden Etagen das Enkel-Spielzeug und nun auch einen Ordner mit altem Schmierpapier enthielten. Dieses Regal, das Spielzeug und der Ordner verkörperten das Ja, das das Nein entschärfte.

Nun wollte ich also eine Grenze ziehen und das Verhalten lenken.

Also legte ich ein auffälliges Band auf den Teppich vor meiner Büroecke. Sobald sich mein Enkel dieser Grenze näherte, rief ich „Nein, nein!“ und spurtete zu ihm, zeigte auf den Teppich hinter dem Band, schüttelte den Kopf und wiederholte mein „Nein“. Dann drehte ich ihn um und zeigte auf den Weg vor ihm zum anderen Regal, verbunden mit einem aufmunternden „Ja.“ Hatte er dieses Regal dann erreicht und begann die Sachen herauszuziehen, dann hörte er wieder ein freundliches Ja. Ich kriegte sogar Lust, mich dazu zu setzen und mitzumachen.
Dieses „Training“ musste einige Male wiederholt werden, dann hatte er begriffen. Kam er in die Nähe des verbotenen Regals, so schüttelte er schließlich von selber den Kopf, lachte, drehte um und „raste“ vergnügt kriechend zu dem anderen Regal. Wir hatten uns verstanden und ich hatte das Gefühl, dass ihm das gefiel. Von da an war die Büroecke tabu – und wenn ein Ball dahin rollte, guckte er mich fragend an und wartete auf mein Ja. Er hatte gelernt, die Grenze zu respektieren.

Schwierig wurde es erst wieder, als ihn der Computer zu interessieren begann. Aber auch da fragte er immer um meine Erlaubnis. Natürlich frage ich heute den Fünfjährigen auch, bevor ich an seine Sachen gehe, zum Beispiel an seine Schulsachen.

Manche denken, wenn sie so etwas lesen, vielleicht an Dressur. Dressur zielt beim Tier (oder beim Menschen) auf ein Verhalten, von dem das Tier nichts anderes hat als ein Zückerchen und die Zuwendung durch den Menschen, auf die es in Freiheit gar nicht angewiesen wäre. Kein Tiger braucht es für ein glückliches Leben, von einem Menschen gekrault zu werden, kein Hund in Freiheit sehnt sich nach dem Schoß eines menschlichen Frauchens.
Man nimmt den Tieren aus mehr oder weniger vertretbaren Motiven die Freiheit, und gibt ihnen eine erträgliche Ersatzwelt, wenn sie sich so verhalten, wie der Mensch es will.

Frühes Verhaltenstraining bei Kindern (was ja viele höhere Tiere mit ihren Jungen auch machen) ist keine Dressur, sondern es hilft den Kindern, sicher zu sein, selbstständig zu werden und in einer (artgerechten) Gemeinschaft wohlgelitten zu sein.

Nicht das Training an sich ist bedenklich, sondern viele Erziehungsziele und Verhaltensanforderungen, die Erwachsene an Kinder stellen. Ich finde es zum Beispiel sehr bedenklich, wenn ein vier- oder achtjähriges Kind sich beim intensiven Spielen nicht dreckig machen darf oder wenn ein lebhaftes, bewegungsfreudiges Kind in der Schule vier Stunden lang auf einem Stuhl sitzen soll.

Und weitere Erziehungsmittel?

Am Anfang stehen also vernünftige Erziehungsziele und daraus resultierende altersgerechte Verhaltensanforderungen, des weiteren das Ja und das Nein und das zugehörige Verhaltenstraining.

Und was kommt dann? Wie arbeite ich weiter auf die Erziehungsziele hin? Welches sind geeignete Erziehungsmittel, mit denen ich auf die Ziele hinarbeiten kann?

Körperliche Gewalt gegen Kinder ist kein Erziehungsmittel, sondern ein Verbrechen.
Das ist unter Pädagogen inzwischen ganz klar, aber doch ist körperliche Gewalt gegen Kinder noch weit verbreitet und es ist noch nicht lange her, da war sie fast selbstverständlich.
Körperliche Gewalt sind nicht nur Schläge und andere tätliche Misshandlungen, auch der Essensentzug (ohne Abendessen ins Bett oder Schlimmeres) oder das Einsperren gehören dazu.

Psychische Misshandlungen sind kein Erziehungsmittel.

Es gibt viele Formen psychischer Misshandlung, mit denen Kinder gefügig gemacht werden sollen; manche sind offensichtlich, manche geschehen verdeckter: Liebesentzug; Drohungen, die Angst machen; Lächerlich machen, Bloßstellen; Herabsetzen; ironische oder sarkastische Bemerkungen; unfreundliche Vergleiche mit anderen, angeblich besseren Kindern …

Hierbei handelt es sich nie um Erziehung, sondern immer um Machtmissbrauch.

 

Mittel für einen gelingenden Erziehungsprozess

Im Erziehungsprozess enthalten sind mehrere Teilprozesse, die ineinander verwoben sind:

1. Die Entwicklung von Normen und Regeln

Gute Normen des Zusammenlebens werden teilweise einfach überliefert, es reicht, sie sich bewusst zu machen und zu hinterfragen. Andere müssen entwickelt (ausgedacht, diskutiert, ausgehandelt, angepasst und aktualisiert) werden.

Die Erwachsenen (ein Elternpaar, ein Kita-Team) haben die Aufgabe, sich auf gute Normen des Zusammenlebens zu einigen. Wenn die Kinder älter sind, werden sie einbezogen. Vier- bis Fünfjährige können dazu schon eigene gute Ideen haben.

Aus diesen moralischen Normen (zum Beispiel: Wir achten darauf, dass es gerecht zugeht) sind Regeln abzuleiten, die entweder Jeder gleichermaßen einzuhalten hat oder die differenziert ausgelegt sind, zum Beispiel: 1 Erwachsener – 2 Kugeln Eis, 1 Kindergartenkind – 1 Kugel Eis. (Siehe hierzu: Der Zivi wollte zu viel Eis.)
Gerecht kann aber auch sein, wenn das Geld nicht ausreicht und alle Hunger haben, nur den Kindern Eis zu kaufen und die Erwachsenen verzichten zu lassen. (Begründung der Kinder im konkreten Fall: „Erstens müssen wir noch wachsen und zweitens habt ihr das Geld und müsst aufpassen, dass ihr genug dabei habt.“ – Klare Sache.)

Die Regeln sollten von den Kindern akzeptiert werden können; es darf keine unbegründete Regel geben und keine, die die Freiheit der Kinder unnötig beschränkt.

2. die Vermittlung von Normen und Regeln

Normen und Regeln müssen einfach und für die Kinder verständlich formuliert sein. Es muss (durch mühsame Kleinarbeit) sicher gestellt werden,

    • dass jedes Kind die einzelnen Regeln kennt,
    • dass jedes Kind jede Regel verstanden hat und weiß, warum es diese Regel gibt (Zurückführung auf die dahinter liegende Norm),
    • dass die Kinder wissen, dass es immer wieder Gelegenheit gibt, über die Regeln zu diskutieren – nur nicht in der aktuellen Situation eines Regelverstoßes.

3. das Durchsetzen der (bekannten und akzeptierten) Normen und Regeln

Die beste Regel nützt nichts, wenn sie nicht auch durchgesetzt wird. Die Kinder verlieren das Vertrauen, dass die Regeln wirklich geeignet sind, die Rechte des Einzelnen zu schützen und ein gutes Miteinander sicher zu stellen, wenn es willkürlich zugeht.

Mal gelten die Regeln, dann wieder nicht – mal gibt es Sanktionen, dann wieder nicht – damit werden die Erziehenden unglaubwürdig.

Das bedeutet nicht, dass überall dieselben Regeln gelten. Kinder können sehr gut akzeptieren, dass zu Hause andere Regeln gelten als in der Kita oder bei den Großeltern oder in anderen Familien.
In unserer Kita war es immer erlaubt, auf Stühle und Tische zu klettern, damit zu spielen, sie woandershin zu schieben. Manchmal wurden sie auch übereinander getürmt. Vor dem Essen wurden sie heiß abgewischt und abgetrocknet und damit war der Hygiene genüge getan.

Manche Eltern taten sich anfangs schwer mit dieser Regel, solange sie befürchteten, dass das Auf-die-Tische-Klettern in die eigene Wohnung überschwappen könnte. Das passierte aber nicht. Die Kinder differenzierten genau und konnten sich hier wie in vielen anderen Situationen auf die unterschiedlichen Regeln einlassen.

Ausnahmen

Ein sorgfältiger Umgang mit Ausnahmen von der Regel ist so wichtig wie die Regel selbst. Natürlich sind Ausnahmen nötig. Sie machen den Umgang mit Regeln rücksichtsvoll, fair und freundlich.

Auf das Dach des Gartenhäuschens darf aus Sicherheitsgründen nicht geklettert werden. Aber jetzt haben wir ein paar große, klettergewandte Kinder, das Dach ist trocken und nicht rutschig und wir haben die Zeit und Gelegenheit, daneben zu stehen und genau aufzupassen, dass kein Kind abstürzt. Also ist es jetzt ausnahmsweise erlaubt.

Andersherum: Es herrscht gerade Personalmangel, die zweite anwesende Erzieherin hat zudem starke Kopfschmerzen und die Kindergruppe ist unruhig, Zank liegt in der Luft. Also wird die Regel: „Ihr dürft immer und überall vor, neben und hinter der Kita, in allen Ecken und Winkeln und Gebüschen spielen“ heute Nachmittag für die letzten beiden Stunden eingeschränkt: „Alle bleiben auf dem Spielplatz vor dem Haus.“ Das muss begründet, aber dann auch durchgesetzt werden!

Ohne Sanktionen geht es nicht

Wenn Kinder – und das ist bei hoch begabten Kindern besonders häufig der Fall – sofort selber wissen, dass sie etwas falsch gemacht haben, erübrigen sich alle „Predigten“, hier reicht ein Blick in das verlegene oder zerknirschte Gesicht des Kindes. Alles darüber hinaus wäre kränkend.

Ist das Kind aber der Ansicht, nichts falsch gemacht zu haben, wird eine Diskussion nötig. Keine Endlos-Diskussion, die manche hoch begabte Kinder wunderbar führen können, sondern eine präzise Klärung der Standpunkte.

Manchmal sind aber auch Sanktionen nicht zu vermeiden – zum Beispiel, wenn das Kind dasselbe negative soziale Verhalten immer wieder zeigt, etwa die übernommene Hausarbeit immer wieder nicht erledigt oder andere Kinder immer wieder ärgert. (Hausarbeit für Fünfjährige könnte in der Familie sein: den Geschirrspüler regelmäßig ausräumen oder das Kinderzimmer aufräumen und staubsaugen oder die Treppe, den Balkon oder die Terrasse fegen oder den Abendbrottisch abräumen und sauber wischen…)

Worin können solche Sanktionen bestehen?

1. kann man natürliche oder logische Folgen eintreten lassen,
2. kann man „Vergünstigungen“ entziehen.

Eine natürliche Folge ist, dass Eltern/Erzieher sich ärgern und ihre Empörung deutlich zeigen, indem sie mit dem Kind schimpfen.

Eine logische Folge auf das versäumte Tisch-Abräumen könnte sein, dass kein Elternteil Lust hat, eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen, auch wenn die Gute-Nacht-Geschichte so etwas wie ein Gewohnheitsrecht des Kindes ist und es fest mit ihr rechnet.

Wurde das Kinderzimmer nicht in Ordnung gebracht, können Einladungen oder Verabredungen mit Freunden wegfallen, auch wenn das Kind sich schon darauf gefreut hat.
Es wäre eine logische Folge, dass die Eltern, anstatt mit dem Kind ins Schwimmbad zu fahren, auf der Zimmerreinigung bestehen (oder es notfalls in der eigentlich fürs Schwimmbad vorgesehenen Zeit selber machen).

Nach einem wiederholten Ärgern anderer Kinder ist es schwierig, natürliche oder logische Folgen eintreten zu lassen. Hier kann die Sanktion darin bestehen, den Kirmes-Besuch ausfallen zu lassen oder (in der Kita) das Kind vom nächsten Ausflug auszuschließen.

Es ist wichtig, dass dem Kind der Zusammenhang zu seinem Verhalten ganz deutlich wird.

Eine harte, aber oft wirksame Sanktion kann in der Kita darin bestehen, das Kind dem Gruppendruck auszusetzen. Dies erfordert viel Klarheit und Feingefühl auf Seiten der Erzieherin. Beschrieben ist eine solche Situation in dem Beitrag:
Und da waren die Geschenke hin

Die Kinder erziehen sich doch gegenseitig!

Ja, nicht nur die Eltern und Erzieherinnen erziehen das Kind, es wird auch von den anderen Kindern erzogen, auch von gleichaltrigen oder jüngeren.

Nicht immer sieht ein Erwachsener, wie die Kinder miteinander umgehen und kann notfalls intervenieren – und das ist ab etwa drei Jahren auch gut so.

Die Kinder sind in der Lage, ihr Verhalten untereinander zu regulieren und ganz eigene Regeln aufzustellen. Wenn es gut läuft, nehmen sie den Erwachsenen damit auch viel Arbeit ab.

Und wann läuft es gut?

 

Es läuft dann gut, wenn in der Kindergemeinschaft gut erzogene Kinder den Ton angeben. Eine Kindergemeinschaft ist fast nie egalitär. Immer gibt es einen oder mehrere Anführer und Kinder, die besondere Autorität (oder Macht) besitzen und die Atmosphäre bestimmen.

Wie agieren sie? Welche Normen haben sie im Kopf, welches Verhalten ist ihnen selbstverständlich?

Eltern und Erzieher können sich nicht davon freisprechen, sich darum zu kümmern und notfalls ihre Autorität geltend machen, um die Kinder zu unterstützen, die höhere Ansprüche an ein gutes Sozialverhalten haben. Leider regelt sich das oft nicht von alleine.

Als ich anfing, in meinem Kindergarten zu arbeiten, herrschte dort „Wild West“. Die stärksten Kinder gebärdeten sich recht egoistisch und rücksichtslos: Sie besetzten die begehrtesten Spielecken und Spielzeuge, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Sie bedrohten und verjagten andere Kinder und schreckten auch nicht vor Tätlichkeiten zurück. Sie glaubten, es sei ihr gutes Recht (des Stärkeren), sich immer und überall notfalls mit Gewalt durchzusetzen.

Etliche Kinder mieden diese Clique und gingen ihr großräumig aus dem Weg. Sie waren eingeschüchtert und verzichteten auf manches, das ihnen zugestanden hätte. Die Kinder mittleren Alters versuchten sich zu entscheiden: Will ich Opfer oder doch lieber Täter sein? Die Kleinen (Dreijährigen) „hatten gar nichts zu melden“.

Viele Eltern hielten diesen Zustand für normal: „Kinder sind nun mal so!“

Es dauerte einige Monate, bis sich die Verhältnisse änderten. Die rücksichtslosen unter den Vorschulkindern sahen absolut nicht ein, weshalb sie auf ihre Privilegien verzichten sollten und änderten ihr Verhalten bis zur Einschulung fast nicht mehr.

Danach gab es ein kollektives Aufatmen, nicht nur bei mir und meiner Kollegin, sondern auch bei einigen Kindern. Sie hatten bereits begriffen, dass gute Regeln Sicherheit und Gerechtigkeit bedeuten konnten – wenn alle mitmachen.

Von da an wurden wir für unser lustiges und friedliches Kindergartenleben oft beneidet.

Wann ist die Erziehung fürs Erste misslungen?

Ich betrachte die frühe Erziehung (unabhängig von Bildung und Betreuung) als misslungen, wenn sich ein Kind noch mit fünf Jahren immer wieder asozial verhält.

Fast jedes Kind übertritt in diesem Alter hin und wieder Grenzen und verletzt hin und wieder Regeln. Auch das muss schließlich geübt werden, um Ich-Stärke aufzubauen. Aber dazu gehört auch, zu lernen, mit den Folgen (Sanktionen) klar zu kommen.
Diese Prozesse:

    • das gelegentliche Übertreten von Regeln,
    • der Protest gegen die folgenden Sanktionen oder das Abfinden mit ihnen,
    • das grundsätzliche Infragestellen von Regeln

sind notwendiges soziales Lernen.

Erwachsenen geht es auch nicht anders; kaum bin ich mit dem Auto zu schnell gewesen, muss ich zerknirscht 25 Euro zahlen.

Dieses „Hin und Wieder“ ist abzugrenzen gegen das gewohnheitsmäßige Missachten von Regeln. Ein Kind, das mit vier oder fünf Jahren sich „mit Leichtigkeit“ immer wieder über die Regeln hinwegsetzt, die für das friedliche Zusammenleben wichtig sind, handelt asozial.
Was bedeutet „asozial“ in diesem Alter? Immer wieder
– andere angreifen, ihnen weh tun wollen.
– das haben wollen, das andere (gerade) haben und brutal und rücksichtslos darum kämpfen (dazu gehört auch ohrenbetäubendes Schreien und Kreischen) – nicht mit anderen teilen können oder oft nicht teilen wollen.

Was ist schief gelaufen?

– Soziale Normen wurden nicht klar oder nicht mit genügendem Nachdruck kommuniziert. Wohlmeinende Eltern finden oft, dass ihr Kind für solche Anforderungen noch zu klein sei. Sie gewähren ihrem Kind zu lange faktische „Narrenfreiheit“.

und / oder

– Es gab negative Vorbildwirkungen von Erwachsenen, von älteren Kindern oder von Gleichaltrigen. Diese Wirkungen waren überwältigend stark oder wurden nicht deutlich genug kritisiert.

und / oder

– Normenverletzungen wurde nachsichtig, schlimmstenfalls sogar tröstend (!) begegnet.

Leider kann schon einer dieser drei Erziehungsfehler ausreichen, wenn er ständig wiederholt wird, um eine asoziale Entwicklung einzuleiten.

Was nun?

Jetzt muss – so schlimm es sich auch anhört – umerzogen werden. Das ist eine mühsame Aufgabe, die es erfordert, dass Eltern und Erzieher sehr aufmerksam sind und bei Normverletzungen sehr schnell und eindeutig reagieren.
Dies muss nun in einem Alter geschehen, in dem Eltern (Erzieher) von gut erzogenen Kindern sich entspannen und die Kinder guten Gewissens über längere Zeit aus den Augen lassen können.

In diesem späten Alter (mit fünf, sechs Jahren) erscheint es mir auch schwerer zu erreichen zu sein, dass die Kinder die sozialen Normen wirklich verinnerlichen und ihnen soziales Verhalten selbstverständlich und zum inneren Bedürfnis wird.

Wehe wenn sie losgelassen!

Wir alle kennen schlecht erzogene Kinder, die „völlig ausrasten können“, wenn sie unbeobachtet oder in einer Gruppe in der Überzahl sind. Kindergeburtstage, Aufenthalte in Jugendherbergen oder ähnliches „entgleisen“ manchmal regelrecht – zum Schrecken von Eltern. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Normen nicht wirklich begriffen, akzeptiert und als Bedürfnis verinnerlicht sind. (Auch das wird gerne entschuldigt: „Wir waren auch nicht besser?!“, „Es sind doch Jugendliche, die müssen sich austoben!“)

Dieses Nicht-Verinnerlichen sozialer Normen kann geschehen, wenn die Erziehungsfehler fortbestehen oder –  und vor allem dann -, wenn Kinder/Jugendliche eine deutliche Diskrepanz zwischen den Normen und dem tatsächlichen Verhalten ihrer Erziehungsverpflichteten oder ihrer näheren sozialen Umgebung erkennen.

Dann funktioniert soziales Verhalten nur unter Beobachtung von Stärkeren/Mächtigeren (oder im schlimmsten Fall funktioniert es überhaupt nicht).
Dann haben wir einen jugendlichen oder erwachsenen Asozialen.

Wenn’s bisher gut lief: Die nächste Erziehungsaufgabe

Das gut erzogene Kind hat jetzt eine verlässliche „innere Stimme“ für soziales Verhalten. Die Erziehungsarbeit wäre vollbracht – wäre da bei Vier- und Fünfjährigen nicht noch eine gewisse Verführbarkeit zu asozialem Verhalten. Verführung hat immer einen Zauber. Der Verführer erscheint stark und mutig; er verheißt Spaß, Genuss, Vergnügen, Triumph. Gerne soll man sich zu Spaß, Genuss, Vergnügen und Triumph lustvoll verführen lassen, so lange kein asoziales Verhalten damit verbunden ist. Und es gibt doch wirklich viele sozial verträgliche Quellen!

Gegen Verführung zu asozialem Verhalten aber sollten Kinder „geimpft“ werden.
Die erziehenden Personen, zu denen das gut erzogene Kind ein Vertrauensverhältnis hat, müssen weiter sorgfältig beobachten.

Sie sollten es möglichst bald bemerken, wenn ein anderes Kind oder ein Erwachsener ihrem Kind asoziales Verhalten vorschlägt, zum Beispiel: „Komm, wir machen dem das jetzt kaputt!“ oder „Komm, wir laufen jetzt weg (oder über die gefährliche Straße)“ oder „Komm, wir sagen jetzt (zu einem anderen Kind): Du kriegst nichts von dem Kuchen ab, weil du so hässlich bist“ oder „Wir können das klauen, es guckt keiner“.

Erstaunlich oft wird solches Verhalten als ganz normal für Fünf- oder Sechsjährige angesehen und bagatellisiert.

Wann soll sich das drehen?

Es ist nicht einfach für die Eltern, den besten Freund ihres Kindes zu kritisieren, aber es ist notwendig. Nur so kann das Kind lernen, selbst zu entscheiden und sich notfalls abzugrenzen.
Die Freundschaft muss (es sei denn, es ist krass) von den Eltern nicht in Frage gestellt werden.
Erfährt das Kind die Kritik der Eltern am Freund, kann es entscheiden, ob es die Kritik teilt oder nicht – jedenfalls kann es sich mit seinem Freund auseinandersetzen. Vielleicht ändert der Freund sein Verhalten, vielleicht aber kriegt auch die Freundschaft einen Knacks oder wird aufgegeben und andere Freunde werden gesucht.

Entscheidend ist, dass das Kind in seiner Kritikfähigkeit unterstützt wird, dass es Abgrenzung lernt und dass es lernt, an Freundschaft bestimmte Erwartungen zu knüpfen.

Die Erziehung geht weiter und muss rechtzeitig aufhören

Die moralischen Grundfragen können zwar schon im Vorschulalter geklärt sein – aber es kommen – wie bei uns Erwachsenen auch – immer wieder neue moralische Herausforderungen auf die Kinder zu. Eltern und Lehrer sind in der Pflicht, den Kindern bei der Bewältigung zu helfen, sie aktiv und interessiert zu begleiten.
Manchmal müssen auch im Schulalter noch gut begründete Sanktionen erfolgen.

Meiner Erfahrung nach tritt dann aber bei hoch begabten Kindern spätestens mit 13, 14 Jahren eine Reife ein, die erzieherische Interventionen überflüssig macht. Das Kind ist „fertig erzogen“ und kann seine Entscheidungen nun vollkommen selbstständig treffen.

Besteht zwischen Eltern und der/dem Jugendlichen bzw. zwischen Lehrern oder anderen Personen und den Jugendlichen weiter ein gutes Vertrauensverhältnis, wird sich der/die Jugendliche in einigen Fragen, sicher nicht in allen, Rat oder auch Trost holen. Das setzt voraus, dass der/die Jugendliche bei seinem Gegenüber eine moralische Autorität anerkennt und ihm zutraut, die aktuellen Probleme zu verstehen und diskret und klug beizustehen.

Manche Erwachsene, die von ihrer Nähe her in Frage kämen, den Jugendlichen noch beratend zu begleiten, verspielen den Kredit, indem sie zu viel kontrollieren, argwöhnen oder bevormunden. Das ist für beide Seiten schade.

In glücklicheren Fällen geben die bis dahin Erziehenden ihre führende Rolle rechtzeitig auf und es gibt von da an ein gleichberechtigtes Voneinander-Lernen.

Siehe auch:

 

Datum der Veröffentlichung: Sept. 2013
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.

 

 

Gedanken zum Text von Barbara Schlichte-Hiersemenzel

von Petra Cohnen

 

In einer Literaturhausaufgabe im IHVO-Zertifikatskurs hatte ich mich u.a. mit Passagen aus:

„Zu Entwicklungsschwierigkeiten hoch begabter Kinder und Jugendlicher in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt“ (Barbara Schlichte-Hiersemenzel)

auseinander zu setzen.

Der Text legt dar, dass die frühe Erkennung eines besonders begabten Kindes wichtig ist. Das hat mich angeregt, über mögliche und notwendige Veränderungen in meiner Kita nachzudenken.

Schlichte-Hiersemenzel schildert anschaulich, welche psychischen Prozesse bei Kindern ablaufen, die mit ihrer Begabung nicht erkannt werden und sich im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Ausleben eigener Interessen befinden.

1.
Damit ein hoch begabtes Kind seine Fähigkeiten entfalten, seinen Wissensdrang ausleben und sich als Teil der Kita-Gruppe oder der Klassengemeinschaft erleben kann, ist eine nur selektive Förderung außerhalb der Gruppe nicht ausreichend. Das Kind braucht die Anerkennung und die Wertschätzung seiner Person als Teil einer Gemeinschaft. Erst dann erfährt das Kind sich als gleichwertiges Gruppenmitglied und kann sich mit seiner Begabung zeigen.

Deshalb denke ich daran, Spiel – und Lernangebote in unseren Kita-Gruppen so zu gestalten, dass unterschiedliche Schwierigkeitsgrade vorhanden sind.

So kann beim Thema „Luft – Fliegen“ für einige Kinder das Interesse darin bestehen, einfache Unterscheidungen zu treffen zwischen Dingen, die fliegen, und solchen Dingen, die es nicht tun.
Andere Kinder wollen vielleicht herausfinden, warum dies so ist und beschäftigen sich intensiver mit dem Thema. Hier ist es Aufgabe der Erzieherin oder später der Lehrerin, ein eigenständiges, im Schwierigkeitsgrad flexibles Lernen zu ermöglichen.

Wesentlich ist, dass die Kinder ihre Ergebnisse den anderen mitteilen und sie teilhaben lassen an dem, was sie entdeckt haben. Diesen Austausch zu ermöglichen, darin liegt eine wichtige Aufgabe der Erzieherin / Lehrerin. So entsteht eine Verbindung zwischen den Kindern, ein soziales Gefüge, welches zeigt, dass jeder mit seinem Wissen und seinen Fähigkeiten zu dem Ergebnis beigetragen hat. Als Methode eignen sich hierfür Infotheken meines Erachtens wunderbar.

Gelingt es der Erzieherin, selbst eine wissbegierige, tolerante Haltung einzunehmen, wird dem Kind damit vermittelt, dass es gut ist, zu fragen, zu zweifeln und nach Antworten zu suchen.

2.
Die Diskrepanz zwischen innerem Erleben und Aussagen von außen (Beispiel Till bei Schlichte-Hiersemenzel) halte ich für sehr bedeutsam. Wenn hoch begabte Kinder mit der Erwartung an eine neue Kita-Gruppe oder Klassengemeinschaft herangehen, dass es für sie dort „gut“ ist, sie aber erleben, dass sie nicht gesehen werden, sich langweilen und ausgegrenzt sind, stellt dies für die Kinder eine Belastung dar. Oft stellen sie sich selbst in Frage, da ihr Erleben nicht mit der Einschätzung der Eltern / Erwachsenen übereinstimmt.

Hier wird deutlich, wie notwendig es ist, dass die Eltern im Vorfeld klären, welche Möglichkeiten der Förderung eine Kita / Grundschule bietet und welche grundsätzliche Haltung die jeweilige Institution in Sachen individuelle Förderung einnimmt.

Für die Kita ist es wichtig, den Eltern diesen Gedanken nahe zu bringen und sie darin zu bestärken, diesen Aspekt bei der Kita- oder Schulwahl in den Vordergrund zu rücken.

3.
Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit zwischen Kita und Grundschule wird ebenfalls noch einmal deutlich.
Solange hoch begabte Kinder Lehrer durch ihr Verhalten und ihren Wissensdrang eher verwirren und den „regulären Ablauf“ im Unterricht stören, wird sich kein hoch begabtes – aber auch kein eher weniger begabtes – Kind in der Schule aufgehoben und anerkannt fühlen. So produziert Schule Ausgrenzung und Menschen mit problematischem Schul-Lebenslauf.

Hier erscheinen mir Lehrerfortbildung und ein grundlegender Wandel in der Lehrerausbildung dringend nötig. Der persönlichkeitsbildende Aspekt von Schule wird meines Erachtens häufig zugunsten der reinen Wissensvermitlung als zweitrangig betrachtet.

Dass es auch anders geht, erlebe ich mit unserer benachbarten Grundschule. Wir haben Vereinbarungen zum Übergang von der Kita zur Grundschule entwickelt. Ein Schwerpunkt hierbei ist, die individuellen Lernwege der Kinder, die in unserer Kita ihren Raum haben, auch in der Schule fortzusetzen. Auch diese Schule unterliegt den allgemeinen Lehrplänen und zeigt trotzdem, dass Beides miteinander zu vereinbaren ist: kindbezogene, individuelle Förderung und das Einhalten von allgemeinen Lernzielen.

Als nächsten Baustein unserer Zusammenarbeit planen wir die zeitweilige Teilnahme von besonders begabten Kita-Kindern an Unterrichtsstunden in der Schule.

4.
Wesentlich ist für mich auch die Begleitung der Eltern. Durch den Artikel von Schlichte-Hiersemenzel wird für mich sehr deutlich, dass Eltern hoch begabter Kinder sich oft allein gelassen fühlen. Der Anpassungsdruck lastet nicht nur auf ihren Kindern, sondern häufig auch auf den Eltern. Wer möchte schon, das sein Kind immer „aus dem Rahmen fällt“? Durch ihre eigene Irritation, bezogen auf die hohe Begabung ihres Kindes, sind sie oft nicht in der Lage, ihrem Kind die nötige Unterstützung zu geben.

So erleben sich hoch begabte Kinder manchmal als Belastung für ihre Eltern. Hier brauchen Eltern Informationen über Fördermöglichkeiten für ihr Kind. Auf jeden Fall brauchen sie aber adäquate Gesprächspartner, um mit ihren eigenen Ängsten, Befürchtungen und auch Hoffnungen, die mit der Hochbegabung zusammenhängen, nicht allein zu sein, sondern Beratung zu finden.

Diese Unterstützung der Eltern kann – nach entsprechender Fortbildung – durch Erzieherinnen in der Kita geschehen. Die Transaktionsanalyse, so wie viele weitere Ansätze bieten da gute Möglichkeiten…

Auch unter dem Aspekt der Zunahme von Kleinfamilien und der damit verbunden geringeren Chance, innerfamiliär auf Kinder mit gleichem Begabungspotential zu treffen, bietet die Kita begabten Kindern umso mehr ein Forum – vor allem dann, wenn in der Kita deutlich mehr als die statistisch zu erwartenden 2-3 % hoch begabte Kinder betreut werden.

Deshalb werde ich das, soweit wir es beeinflussen können, für unsere Kita anstreben.

Ich wünsche mir, dass diese Einsicht in den meisten Kitas um sich greift.
Hier gibt es sicher noch Aufklärungs- und Handlungsbedarf, hoch begabte Kinder zu erkennen und sie im Kontext ihrer Familie zu fördern, wobei der Aspekt der Förderung sich nicht ausschließlich auf die Bereiche der hohen Begabung bezieht, sondern ebenfalls auf die Befähigung, sich als Mitglied einer Gemeinschaft erleben zu können. Dies setzt natürlich voraus, dass es eine Gemeinschaft (Gruppe) gibt, die dieses Zugehörigkeitsgefühl zulässt.

Womit eine weiteres Ziel benannt wäre, nämlich die Förderung der Toleranz und Sensibilität aller Kinder einer Gruppe / Kita / Schule. Hoch begabte Kinder denken, reden und handeln anders – sie brauchen die Toleranz der anderen.

Und dies, so bin ich überzeugt, lässt sich am besten durch die eigene Haltung der Erzieherin / Lehrerin erreichen.

 

Datum der Veröffentlichung: September 2013
Copyright © Petra Cohnen, siehe Impressum

Zwei Kleine im „Club der großen Forscher“

von Gabriele Drescher-Krumrey

 

Im letzten Kindergartenjahr haben wir positive Erfahrungen mit dem „Club der starken Mädchen“ und dem „Club der sanften Kerle“ gesammelt. Besonders die Mädchen haben dabei zu einer sehr guten Kommunikations- und Lernatmosphäre gefunden – und wir werden die Geschlechtertrennung für bestimmte Angebote weiterführen.

Unsere zukünftigen Schulkinder sind allerdings in diesem Jahr zusammen, also Mädchen und Jungen gemeinsam, im „Club der großen Forscher“. Die Altersspanne reicht von 5;1 bis 6;2.

Nun will ich versuchen, zwei deutlich jüngere Kinder, für die die Einschulung im nächsten Sommer noch nicht ansteht, in diesen Club zu integrieren. Neben Elias (4;9) ist dies Jill. Sie ist gerade erst 4 Jahre alt geworden.

 

… kurz gefasst …
Die Vorschulgruppe befasst sich mit physikalischen Experimenten. Jill ist gerade erst 4;0 Jahre alt, Elias ist auch noch vier – die Einschulung der Beiden steht noch nicht so bald bevor.
Sollen sie trotzdem an den Experimenten teilnehmen? Werden sie Spaß daran haben? Werden sie sich in die Gruppe integrieren? Werden sie die Experimente verstehen?

Jill

Bei Jill (4;0) fiel uns schon bei ihrem Eintritt in den Kindergarten mit 3;0 ihre sprachliche Kompetenz auf. Sie konnte genaue Fragen stellen oder Begründungen formulieren.

Sie versteht alle Gespräche, Erklärungen und Geschichten ohne Schwierigkeiten. Sie hat viele eigene Ideen, findet Lösungen und Vorstellungen, die sie auch selbstbewusst vorträgt. Sie braucht viel Zuwendung, kann sich aber auch sehr gut alleine beschäftigen. Kognitiv und sprachlich ist sie sehr weit.

Elias

Elias ist sehr aufgeschlossen und neugierig und macht am liebsten jeden Unsinn mit. Er liebt Bilderbücher zu allen Themen. Sehr gerne spielt er in unserem Bewegungsraum, wobei er am liebsten bestimmt, was gespielt wird. Wenn er eine schwierige Aufgabe lösen muss, ist das kein Problem für ihn.

Das Thema

Der „Club der großen Forscher“ wird sich mit den vier Elementen Luft – Wasser – Erde – Feuer (Energie) befassen. (Hier sind natürlich nicht Elemente im chemischen Sinne gemeint.) Ich möchte erreichen, dass die Kinder physikalische Phänomene beobachten und Erkenntnisse daraus ziehen. Darüber hinaus möchte ich erreichen, dass sie ein Gespür dafür entwickeln, dass diese vier Elemente unsere Lebensgrundlagen sind, mit denen sorgsam umgegangen werden muss.

Die folgenden Fragestellungen werden uns leiten:

– Welches sind die vier Grundelemente des Lebens?

– Wo finden wir die Elemente?

– Aus welchen Bestandteilen bestehen sie?

– Wie kann ich diese Elemente wahrnehmen?

– Wie beeinflussen die Elemente unsere Gefühle?

– Können wir die Elemente verändern?

– Wie können wir die Elemente verändern?

– Was können wir mit den Elementen gestalten?

– Können wir auf eines dieser Elemente verzichten?

– Warum sind die Elemente die Grundlage des Lebens?

Auch hier wird, wie auch in den Angeboten im „Club der starken Mädchen“,  wieder die Basis verschiedener „Fächer“ berührt:

Physik, Medizin, Psychologie, Lebensmittelkunde, Kunst, Umweltschutz und Philosophie. Diese vernetzte Sichtweise versuche ich den Kindern in den Angeboten und vor allem in unseren Gesprächen während der Clubstunden nahe zu bringen.

Es gibt Experimente, Spiele, ausführliche Gespräche und Geschichten zu den vier Lebensgrundlagen.

Alle teilnehmenden Kinder sollen darüber hinaus in ihrem Selbstwertgefühl, in ihren kommunikativen Fähigkeiten und in ihrem Wissensdrang gefördert werden. Das Gespräch, in dem immer wieder Fragen auftauchen und ich auch gezielt Fragen aufwerfen kann, hilft den Kindern ihr Denken zu schärfen.

Besondere Ziele für Jill und Elias

Jill (4;0) und Elias (4;9) sollen im „Club der großen Forscher“, im Zusammenwirken mit den ältere Kindern, erfahren,

    • dass sie schon viel Wissen besitzen,
    • dass ihr Wissen, ihre Neugierde und ihre Interessen wertvoll und wichtig für die Gruppe sind,
    • dass sie ihre Fähigkeiten nicht verbergen müssen,
    • dass sie mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten auch von den Großen anerkannt werden,
    • dass sie sich mit älteren Kindern auseinandersetzen können,
    • dass sie sich sprachlich genauso gut (oder sogar besser) artikulieren können wie die anderen  Clubmitglieder,
    • dass sie so viele Interessen und so große Eigenmotivation besitzen, dass sie mit den Großen zusammen lernen können,
    • dass sie sich nicht nur mit den Gleichaltrigen beschäftigen müssen,
    • dass sie selbstbewusst und selbstsicher sein dürfen, weil sie schon so viel wissen und können,
    • dass sie andere Kinder unterstützen können,
    • dass sie von den Erzieherinnen mit ihren besonderen Fähigkeiten und Bedürfnissen wahrgenommen, anerkannt, gefordert und begleitet werden.

Die erste Clubstunde – Jill und Elias sind dabei

Neben Spielen, Geschichten und Gesprächen fanden in den ersten Clubstunden auch zwei Experimente mit Luft statt (entnommen aus dem Buch: Neil Ardley, David Burnie: Spannende Experimente aus Natur und Technik). Insgesamt führten wir in 10 Wochen eine Reihe von 10 Experimenten durch, von denen ich zwei hier darstelle.

Beim ersten Experiment geht es um die Frage:
Hat die Luft die Kraft, um ein mit Wasser gefülltes Glas zu verschließen?

Jill ruft sofort: „Ja, die kann einen umwerfen!“ Fabian (6;0) ergänzt: „Ja, das ist der Wind oder Sturm!“ Alle sechs Kinder erzählen, wie sie gegen den Wind gekämpft haben.

Wir gehen in den Waschraum und führen den Versuch alle nacheinander durch. Ich beginne und zeige den Kindern, wie sie das mit Wasser gefüllte Glas umdrehen und dann die Pappe loslassen müssen.
Elias (4;9) will der Erste sein und hört nicht genau zu, er ist oft etwas ungeduldig. Die Pappe liegt nicht genau auf dem Glas und das Wasser fließt sofort heraus. Ich schlage ihm vor, erst mal genau zu beobachten. Murrend geht er einen Schritt zur Seite und schaut zu.

Lena (5;1) muss den Versuch fünfmal wiederholen, da sie sich verkrampft und die Pappe zu sehr in das Glas drückt, so dass das Glas nicht völlig verschlossen wird. Ich muntere sie immer wieder auf, es ein weiteres Mal zu versuchen.

Fabian (6;0) ist wie immer sehr umsichtig und hört den Erklärungen aufmerksam zu. Er schafft es beim ersten Versuch und hält dann das Glas etwa 25 Minuten lang fest und verfolgt dabei aufmerksam die Versuche der vier anderen Kinder. Er lacht und freut sich darüber, dass die Pappe sich nicht löst.

Jill (4;0) schaut begeistert auf Fabian, aber sie hat ein anderes Ziel und stellt sich eigene Aufgaben. Sie macht den Versuch sechsmal, aber mit veränderten Bedingungen, zum Beispiel füllt sie unterschiedlich viel Wasser in das Glas, fasst das Glas beim Umdrehen verschieden an, schüttelt das Glas etwas.
Gleichzeitig beobachtet sie Lena, der es nicht gelingen will, das Glas um zu drehen, ohne dass das Wasser heraus läuft, und sie beobachtet auch Fabian, der immer noch mit seinem ersten (erfolgreichen) Versuch da steht.

Die Experimentierzeit dauert zunächst 30 Minuten; dabei unterhalten sich die Kinder angeregt und äußern unterschiedliche Meinungen, warum die Pappe bei Fabian so lange hält und bei ihnen nicht.

Elias und Murat (5;8) sagen, dass sie das Glas nicht so lange fest halten möchten; sie machen jeder nur zwei Versuche, schauen aber den anderen Kindern interessiert zu.

Als die halbe Stunde um ist, rege ich an, dass sie ihr Experiment auch malen können. Darauf gehen Elias und Murat ein, die anderen experimentieren noch 10 Minuten weiter, malen dann auch noch schnell ein Bild, bis ich die Clubstunde beende.

Jill zeichnet und schreibt, was sie schon erstaunlich gut kann! Ihr Bild:

Die Zuordnung von Glas, heraus laufendem Wasser und Pappe hat nur noch der zwei Jahre ältere Fabian so klar gezeichnet.

Die 2. Clubstunde

Es sind dieses Mal nur fünf Kinder anwesend. Zwei davon waren beim letzten Mal nicht dabei: Mehmet (6;0) und Viola (5;2).

Fabian, Jill und Elias erzählen den Beiden von unserem ersten Experiment. Da alle drei das Experiment erklären möchten, schlage ich vor, sie könnten es gemeinsam machen. Fabian muss ich immer wieder auffordern, Jill und Elias auch zu Wort kommen zu lassen. Es fällt ihm schwer, aber er hält sich immer wieder den Mund zu, um nicht dazwischen zu reden.
Gemeinsam erläutern sie das Experiment, aber jedes Kind fügt die eigene besondere Erfahrung hinzu:

Fabian teilt begeistert mit, dass seine Pappe das Glas am längsten verschlossen hat und das Wasser nicht heraus gelaufen ist. Er fügt auch hinzu, er habe sehr viel Geduld.

Elias erklärt, dass er den Versuch zu Hause seinen Eltern gezeigt hat. Mama und Papa fanden es ganz toll – aber einmal hat es auch nicht geklappt und der Tisch ist nass geworden.

Jill erzählt, dass sie den Versuch ganz oft gemacht hat und dass es immer wieder geklappt hat, weil die Luft mit so viel Kraft gegen die Pappe gedrückt hat.

Die beiden anderen Kinder probieren nun auch dieses erste Experiment – und dann wenden wir uns einem neuen Experiment zu.

Hier  heißt die Frage:
Hat die Luft die Kraft, um eine Plastikflasche zu zerdrücken?

Die erste Plastikflasche fülle ich mit zu heißem Wasser, so dass sie sich dadurch verformt. So müssen wir das Wasser etwas abkühlen, und Fabian weiß auch sofort wie: „Wir müssen nur etwas kaltes Wasser in das heiße Wasser schütten.“

So starten wir unseren zweiten Versuch, Fabian füllt eine neue Flasche etwa zu einem Drittel mit dem warmen Wasser. (Leider fehlt im Buch der Hinweis, dass die Flasche nicht bis oben hin gefüllt werden darf!) Dann verschließt er die Flasche. Nun kann sich die Luft in der Flasche erwärmen. (Nur dazu dient das warme Wasser!)

Die übrigen Forscher und Forscherinnen füllen die Eiswürfel in die Schüssel.
Jetzt gießen die Kinder abwechselnd etwas kaltes Wasser auf die Flasche und warten darauf, dass wir ein leises Knacken hören und die Flasche kleine Dellen bekommt.

Alle sind aufgeregt, wann denn endlich etwas mit der Flasche passiert. Ein Kind ruft: „Ich hab schon was gesehen!“ Leider ist in Wirklichkeit noch nichts an der Flasche zu beobachten. Fabian bemerkt: „Aber die Eiswürfel sind schon kleiner geworden.“ Das stimmt.

Elias entdeckt dann zuerst eine kleine Delle in der Flasche und sagt: „Ich habe jetzt aber eine Delle gesehen, da, da!“
Jill und Fabian rufen: „Die Luft kann die Flasche zerdrücken!“

Die ForscherInnen lachen und schauen sich die Flasche immer wieder an, die inzwischen mehrere Dellen bekommen hat.

Wir sprechen darüber, dass warme Luft mehr Platz braucht als kalte Luft und dass deshalb unser Versuch funktioniert: Als die Luft in der gekühlten Flasche sich wieder abkühlt, zieht sie sich zusammen. Sie braucht jetzt nicht mehr den ganzen Platz und kann weniger gegen die Flaschenwand drücken als die Luft außerhalb der Flasche.

Die Kinder erkennen im Gespräch auch, dass das Wasser nur zum Erwärmen und Abkühlen der Luft gebraucht wird.

Einschätzung nach allen 10 Experimenten

Elias und Jill hatten überhaupt keine Schwierigkeiten, den Experimenten zu folgen. Sie verstanden immer die Zusammenhänge. Das konnte ich an ihren Fragen und besonders an ihren Antworten erkennen.

Sie sind zwar mit Abstand die jüngsten Kinder im Club, aber sie waren von Anfang an in die Gruppe integriert. In keiner Stunde hat ein Kind geäußert, dass Jill und Elias noch nicht in diesen Club der Vorschulkinder passen. Da sie sich sehr rege an unseren Gesprächen und Experimenten beteiligt haben, war immer klar, dass sie im „Club der großen Forscher“ richtig sind.

Jill und Elias gehören zu den Kindern, die sich am häufigsten beteiligt und gerne ihr Wissen mitgeteilt haben. Jill ist das lebhafteste Mädchen des Clubs und Elias einer der pfiffigsten Jungen.

Fabian ist im Club das Kind mit dem umfangreichsten Wissen und einer ausgeprägten Aufgeschlossenheit und Ausdauer, Neues zu erfahren und zu lernen. Er ist sichtlich ein guter Lernpartner für Jill und Elias und vielleicht auch ein gutes Vorbild für sie.

Die Entscheidung, Jill und Elias – entsprechend ihrem von uns beobachteten Entwicklungsstand – in den Club der Großen Forscher aufzunehmen, war ein positiver Schritt, um sie in ihren Begabungen zu fördern und zu unterstützen.

Für Jill und Elias sind die oben formulierten Ziele erreicht worden.

 

Datum der Veröffentlichung: September 2013
Copyright © Gabriele Drescher-Krumrey, siehe Impressum.