von Renate Ashraf

 

Als ich mit Isabelle (4;5) den Interessen-Fragebogen für den Kindergarten durchgesprochen habe, schälten sich für mich zwei wichtige Dinge heraus:

1. Isabelle erklärt selbst, warum sie sich so oft isoliert: Sie spielt nicht gern mit Anderen und sie ist ängstlich. Häufig erschreckt sie sich, wenn andere Kinder laut sind.

2. Bücher lesen ist ihre Lieblingsbeschäftigung im Kindergarten. Sie erklärt mir, dass sie alle Bilderbücher des Kindergartens kenne, und regt an, dass wir jetzt selber erzählen müssten.

Da stand mein Entschluss fest: Ich wollte eine Geschichten-Erzähl-Werkstatt gründen.

Um Isabelle (4;5) mit anderen Kindern zusammen zu bringen, habe ich mir noch drei andere Kinder ausgesucht, denen die Erzähl-Werkstatt bestimmt auch viel Spaß machen könnte.
Frederik (5 Jahre alt): Er ist ein sehr ruhiger, zurückhaltender Junge. Sein Interesse an Buchstaben und Zahlen ist auffallend. Er kennt das ganze ABC und kann bis Hundert zählen.
Jonas (4 Jahre alt): Er hat ganz bestimmt auch eine überdurchschnittliche Begabung! Außerdem ist er Isabelles Freund. Sie teilen die Begeisterung für Worte, Dinosaurier und sie denken ähnlich.
Matti (4 Jahre alt): Er ist der Junge, den man fast immer in der Leseecke antrifft. Er liebt Bücher. Seine große Schwester hat im Sommer den Kindergarten verlassen und er fühlt sich jetzt etwas verloren.

Zur Hilfe nehme ich mir den Geschichten-Baukasten von Helga Gruschka, um eine  möglichst einfache Struktur für die Geschichten zu bekommen.

Vorbereitung des Geschichten-Baukastens

Hierfür habe ich einen kleinen Karteikasten mit farbigen Karteikarten gekauft, der in Abschnitte eingeteilt ist. Die Karteikarten in Abschnitt 1 sind grün und bieten Orte an, wo die Geschichte beginnen kann. Ich beschrifte drei Karten mit Schauplätzen (welche besonders Isabelle gefallen könnten): Tal der Dinosaurier, Weltall / Planeten, Schrank, in dem immer das Licht brennt. Zwei Karten lasse ich unbeschriftet, falls die eigene Fantasie der Kinder einen schöneren Ort findet.

An Platz 2 im Karteikasten geht es um das „Wer“. Wer ist die Hauptperson in der Geschichte? Hier habe ich wieder drei Vorschläge auf Karteikarten geschrieben: Dinosaurier, Zwerg / Kobold, Prinzessin. Zwei Karten lass ich wieder frei, falls die Kinder eine andere Idee haben.

An Platz 3 geht es um das „Was“. Was hat unser Held für ein aktives Bedürfnis, was will er, was er an diesem Ort nicht bekommt und warum? An diesem Punkt müssen die Kinder die wichtigste Eigenleistung im Entwicklungsprozess der Geschichte erbringen. Hier gibt es nur leere Kärtchen. An dieser Stelle will ich mir viel Zeit nehmen. Ich werde durch behutsames Fragen: was, warum und wieso und vielleicht doch? die Kinder dazu bringen, sich etwas auszudenken.

Dann werden wir zu Platz 4 kommen, wo es um ein anderes „Was“ geht. Was braucht unser Held für einen magischen Gegenstand auf seiner Reise? Was nimmt er auf seine Reise mit? Hier beschrifte ich drei braune Kärtchen: Wunschring, Kleinmachertropfen, Zaubernüsse. Zwei lasse ich wieder frei.

Platz 5 befasst sich mit „Womit“? Womit reist unsere Hauptdarsteller? Ein Transportmittel zum Gehen, Fahren, Hüpfen, Fliegen oder Schwimmen. Wieder beschrifte ich drei Karten (lila) als Angebot: Fliegender Teppich, Floß, Esel, der nur geht, wenn man singt. Zwei Karten bleiben frei.

Danach kommt Platz 6 wieder mit „Wer“. Hier werden Vorschläge gemacht für einen Gegenspieler, der unseren Helden aufhalten, stören oder hindern möchte. Diesen Part braucht man, damit die Geschichte spannend wird und eine Handlung konstruiert werden kann. Mit dem Gegner ist die Hauptperson im Konflikt. Es muss aber nicht unbedingt ein Bösewicht sein. Es kann auch eine normale Figur sein, die den Protagonisten aber von seinem ursprünglichen Plan abbringt. Ich gebe hier folgende Vorschläge (gelbe Karten): Fee, Zauberer, Dieb. Auch hier lasse ich zwei Karten für die Vorschläge der Kinder frei.

Auf Platz 7 gibt es nur weiße leere Kärtchen. Hier geht es um das „Wie“. Wie besiegt der Held seinen Gegenspieler? Wie erfolgt der Kampf und Sieg des Helden? Dieser Erzählschritt ist natürlich sehr wichtig. Hier muss ich behutsam lenken. Töten und mit Gewalt besiegen lassen sich nicht immer vermeiden, aber ich werde die Kinder an die Fähigkeiten, die Mittel und die Schlauheit ihres Helden erinnern.

Platz 8 (blaue Kärtchen) befasst sich mit „Wo“. Wo endet die Reise (und die Geschichte)? Hier geht es um den Ort, an den der Held hinkommt. Ich wähle drei Orte: Urwald, Schlaraffenland, Baumhaus. Zwei Karten bleiben wieder frei.

Nun kommen wir zu Platz 9, wo nach dem „Wie“ gefragt wird. Wie wird der Heldenwunsch erfüllt? Jetzt werde ich nochmal mit den Kindern besprechen, was sich unser Held zu Beginn unserer Geschichte gewünscht hat. Was hat er getan oder bekommen, damit sich sein sehnlichster Wunsch erfüllt hat.

Das Ende der Geschichte kommt an Platz 10. Hier gibt es natürlich keine Vorschläge, sondern nur leere Kärtchen. Wir finden ein gutes Ende, wie Glück, Freundschaft etc.

Die letzten Kärtchen (Platz 11) sind für den Titel der Geschichte. Der Titel soll den Zuhörer neugierig machen.

Zu dem Karteikasten gibt es einen Geschichten-Bauplan, auf dem nummeriert und mit einem roten Faden verbunden die einzelnen Erzählschritte, die sich einer aus dem anderen entwickelt, angeordnet sind. Die von den Kindern ausgewählte Karteikarte wird dann auf den entsprechenden Platz geklebt. So haben wir dann eine Art Mindmap bzw. einen ersten roten Faden. Zwischendurch fasse ich gemeinsam mit den Kindern ab und an unsere Geschichte zusammen, damit sie immer im Gedächtnis haben, wie unsere Geschichte verläuft.
Das scheint ein sehr gutes Spiel zu sein. Es ist zielorientiert („roter Faden“) und gleichzeitig sehr kreativ.

Ziele dieses Angebots

Isabelle verbringt ihren Tag im Kindergarten häufig sehr isoliert. Ihre Ansprechpartner sind fast immer die Erwachsenen. Ihr Freund Jannes spielt häufiger mit anderen Kindern, dann zieht sich Isabelle zurück. Sie wirkt nicht total unglücklich, aber ein bisschen einsam. Als wir an unserem Fortbildungswochenende (im IHVO-Kurs) über die Dauerfrustration und deren Folgen gesprochen haben, konnte ich bestimmte Verhaltensweisen (z.B. Inaktivität, Müdigkeit, Still werden, Selbstisolation) Isabelle zuordnen. Isabelle spielt manchmal Rollenspiele mit sich selber oder murmelt Worte vor sich her. Mit den Erzieher*innen spielt sie sehr gerne.

Ich möchte mit diesen Angeboten ihren Begabungen gerecht werden und ihr die Möglichkeit geben, ihr Potential zu entfalten. Sie besitzt eine so differenzierte Sprache, hat eine „blühende“ Fantasie und häufig sehr originelle Ideen. Alles Fähigkeiten, welche man zum Geschichtenerzählen braucht. Außerdem bringe ich sie dabei mit anderen Kindern zusammen, die ähnliche Interessen haben, und sie werden gemeinsam konstruktiv. Die anderen Kinder wiederum können bei diesen Angeboten erkennen, welches Können Isabelle besitzt. Dadurch werden sie sie bestimmt einmal anders wahrnehmen, als nur zurückgezogen und leise. Vielleicht verändert das auch nachhaltig ihr Verhalten Isabelle gegenüber. Bisher nehmen sie sie eben kaum oder gar nicht wahr. Ich wünsche mir, dass Isabelle die Erfahrung macht, dass es Spaß machen kann mit anderen zusammen etwas zu erarbeiten. Außerdem wäre es schön, wenn sie merkt, dass es positiv sein kann, die eigenen Begabungen zu zeigen und sie sichtbar zu machen.

Planung

Wir treffen uns im Teamraum, wo auch alle unsere Bücher stehen. Hier sind wir ungestört und es herrscht die richtige Atmosphäre. Wir werden uns im Kreis auf den Boden setzen und ich werde den Kindern unser Vorhaben erklären. Ich zeige ihnen den Bauplan und den Karteikasten, unser Werkzeug für den Anfang. Dann werden wir Schritt für Schritt jeden Platz im Karteikasten (wie zuvor beschrieben) durchgehen.

Wenn die Kinder unschlüssig sind, welchen Vorschlag wir nehmen sollen, möchte ich abstimmen lassen. Für Isabelle könnte es vielleicht schwierig werden, sich mit den anderen zu einigen. Ich denke, dass wir den gesamten Bauplan beim ersten Treffen durcharbeiten werden. Sollte es doch zu lang werden, können wir am nächsten Tag weitermachen.

Verlauf und Reflexion

Wir haben beim ersten Treffen alle elf Plätze durchgearbeitet. Isabelle und auch Jannes waren in Hochform. Die Beiden zeigten große Ausdauer und Begeisterung. Als ich den Kindern meinen Plan unterbreitet habe, meinte Isabelle, dann seien sie ja Autoren und ich müsse jedem die Geschichte aufschreiben.
Da wird ihr Interesse an dem geschriebenen Wort nochmals deutlich.
Das werde ich natürlich machen. Ich liste nun die Ideen der Kinder auf:

1. Wo: Wie schon von mir angenommen, wurde einstimmig ausgewählt: „Das Tal der Dinosaurier“.

2. Wer: Brachiosaurier, auch Langhals genannt und Pflanzenfresser – Dieser Vorschlag kam sofort von Isabelle, der Name wurde auch direkt von ihr vorgeschlagen: Bracho. Alle anderen waren begeistert.

3. Was: Angst vor einem Tyrannosaurier, auch Scharfzahn genannt und Fleischfresser –  Ich benötigte gar nicht meine Vorschläge aus dem Karteikasten. Jannes schlug den Tyrannosaurier vor und Isabelle lieferte daraufhin sofort den Grund für ein Unwohlsein unseres Helden (mehr dazu an Platz 6).

4. Was: Hier haben wir dann auf die Vorschläge im Karteikasten zurückgegriffen. Die Zaubernüsse wurden einstimmig ausgewählt. Isabelle erklärte dann ganz schlüssig, dass Nüsse ja Pflanzen seien und Bracho ein Pflanzenfresser. Die Frage, was diese Zaubernüsse bewirken, kam noch nicht auf.

5. Womit: Die Vorschläge aus dem Kasten fanden alle keinen Anklang. Wir versuchten uns vorzustellen, wie ein so großes Tier transportiert werden könnte. Jannes kannte sogar das Gewicht in Tonnen. Isabelle kam dann auf die Idee, dass Bracho doch Flügel bekommen könnte, vielleicht durch die Zaubernüsse. Von diesem Vorschlag waren alle begeistert. Nur Jannes war ein bisschen skeptisch, aufgrund des hohen Gewichts. Wie groß müssten dann die Flügel sein? Isabelle meinte dann ganz überzeugend, dass das ja nur eine Geschichte sei.
Klasse, wie Jannes und Isabelle sich ergänzen und zusammenarbeiten.

6. Wer: Nun geht es nochmal um den Gegenspieler. Hier hatten wir vorher schon alles entschieden. Isabelle bestimmte nur noch den Namen: Tyrann.

7. Wie: Die Frage, wie Bracho seinen Gegenspieler besiegen könnte, regte viele Ideen an. Alle waren sich einig, dass ein Kampf nicht zu vermeiden sei. Isabelle bestand aber auf einen kurzen Kampf. Jannes beschrieb uns, dass der Tyrannosaurus vor allen Dingen mit seinem schweren Schwanz peitschen würde und seine großen Zähne könnten Knochen zerbeißen. Wir überlegten lange, wie sich unser Held wehren könnte. Jannes meinte, dass er eigentlich keine Chance hätte gegen Tyrann. Ich stellte fest, dass die Kinder schon ein genaues Bild von den Figuren unserer Geschichte hatten. Matti wollte zum Beispiel nicht, dass Bracho auch mit Gewalt reagiert. Er war anscheinend der Meinung, Bracho ist der Gute und solle auch so reagieren. Isabelle kam dann auf die Idee, dass Bracho schnell die Zaubernüsse essen könne und ihm ja dann die Flügel wüchsen. So könne er flüchten. Diese Möglichkeit war für alle zufriedenstellend.
Bracho verhält sich so wie Isabelle: Rückzug.
Mit dem „Gegner“ kann man nicht vernünftig reden: der ist gefährlich, laut und man müsste Gewalt ertragen/einsetzen. Ängste entstehen, denn der „Gegner“ versteht mich (wahrscheinlich, erfahrungsgemäß) nicht.

8. Wo: An dieser Stelle wollten die Kinder wieder auf den Karteikasten zurückgreifen, weil ihnen spontan nichts einfiel. Isabelle machte aus dem Schlaraffenland ein Dinosaurier-Schlaraffenland. Damit waren alle einverstanden.

9. Wie: Diesen Punkt hatten wir schon bei Nr.7 geklärt. Durch die Zaubernüsse wachsen unserem Helden Flügel, mit denen er flüchten kann. Das habe ich einfach nochmal wiederholt.

10. Ende: Ich habe den Kindern vor Augen geführt, dass Bracho jetzt fliegt. Wie soll es jetzt weiter gehen? Ihr wollt ja, dass er ins Dinosaurier-Schlaraffenland kommt und keine Angst mehr zu haben braucht. Isabelle hatte sofort ein Ende parat:
“In diesem Schlaraffenland gibt es nur Pflanzenfresser, keine Fleischfresser. In diesem Schlaraffenland sind also alle so wie Bracho. Sie verstehen sich und Ängste sind unbegründet. Bracho braucht dann keine Angst mehr zu haben.“
Matti meldete sich zu Wort: “Oh, ja! Und er trifft dann eine Freundin und die heiraten dann!“ Damit war Isabelle überhaupt nicht einverstanden: “Meinetwegen kann er eine Freundin treffen, aber die dürfen nicht heiraten. Sonst ist das hier nicht mehr meine Geschichte!“
Ich war verblüfft, wie vehement sie sich gegen die Heiratsidee wehrte. Ich fragte sie, was sie denn am Heiraten so schlecht findet. Sie konnte das nicht erklären, sie wollte es nicht. Die anderen Kinder erklärten sich dann mit einer „Freundschaft bis ans Lebensende“ (Isabelle) einverstanden. (Isabelles Mutter ist alleinerziehend!) Das scheint die „unerklärliche“ Abneigung gegen das Heiraten zu erklären. Isabelle: „Am Ende ist man doch alleine“.

11. Titel: Hier war Isabelle sofort wieder mit einem Vorschlag dabei: „Der mutige Dinosaurier“. Einstimmig wurde dieser Titel angenommen.

Ich erklärte den Kindern dann noch die weitere Vorgehensweise und dass wir uns in den nächsten Tagen noch öfter treffen müssten, um die Geschichte in Worte zu kleiden.
Isabelle hätte gerne sofort weiter gemacht, aber das ließ der Kindergartenalltag jetzt nicht zu und die anderen Kinder waren erschöpft. Für mich ein Zeichen, dass sie sehr belastbar ist in Dingen, die sie interessieren.

Ich habe dann noch Fotos gemacht. Die Kinder schauten etwas unmotiviert in die Kamera und ich habe den typischen Spaghetti-Tipp gegeben. Das gefiel Isabelle gar nicht. Sie wollte dieses Wort nicht sagen. Sie könne auch so freundlich gucken. Also fotografierte ich sie und sollte ihr das Foto zeigen. Auch die der anderen. Mit ihrem Foto war sie nicht zufrieden und bat mich sie nochmal zu fotografieren. Sie guckte wieder sehr ernst, aber ich sagte nichts. Wieder zeigte ich ihr das Ergebnis, zu dem sie sagte: “Komisch, Reni, ich streng mich so an mit dem Fröhlich-Sein, aber man kann das auf dem Foto nicht sehen. Ich will jetzt doch mal Spaghetti sagen.“ Ich fotografierte sie nochmal mit dem Spaghetti-Lächeln und Isabelle schien zufrieden mit dem Ergebnis. Tage später sagte sie mir dann, dass das Gesicht auf dem Foto durch das Spaghetti-Sagen zwar fröhlich aussieht, aber der Mensch in dem Moment trotzdem nicht fröhlich sein muss. Nur das Wort forme den Mund so. Das zeigt, wie lange sie über Dinge nachdenkt. Dieses Spaghetti-Lächeln ist kein echtes Lächeln und das hat ihr zu schaffen gemacht. Interessant für mich war auch, dass sie sich selbst fröhlich gefühlt hat, es aber nicht zeigen konnte. Es stellt sich für mich die Frage, wie nimmt sie sich selbst wahr?
Wenn sie sich selbst als fröhlich wahrnimmt, stimmt das sicher auch. Das Angebot hat sie sehr begeistert, also wird sie im Anschluss daran (nach eigener Aussage / Einschätzung) gut gelaunt gewesen sein. Sie zeigt es nur nicht so wie die meisten Menschen. Deshalb hat sie das Spaghetti-Lächeln als falsches Lächeln gut erkannt. Das kennt doch fast jeder von sich selbst. Man ist in Gedanken versunken und zeigt einen Gesichtsausdruck, der von anderen Menschen als streng oder schlecht gelaunt interpretiert wird. Kann aber doch gut möglich sein, dass man „nur“ konzentriert und sogar ausgesprochen gut gelaunt ist. Oder ein anderes Beispiel: Jemand macht einen Witz, der nicht unserem Humor entspricht, also lachen wir nicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir humorlos sind.

Verlaufsplanung für das zweite Treffen

Wir werden uns wieder im Teamraum treffen. Ich frage die Kinder nach unserer Geschichte und versuche den Verlauf gemeinsam mit ihnen zu wiederholen. Ich bin gespannt, ob sie sich noch an alles erinnern können.
Nun möchte ich mit den Kindern die einzelnen Details von unserem Bauplan ausarbeiten. Hierfür bereite ich mir für jeden einzelnen der elf Schritte ein Blatt vor und überlege mir gezielte Fragen:

1. Die Kinder sollen den Ort, also das Tal der Dinosaurier, näher beschreiben. Wie sieht es dort aus? Was hört man, sieht man, riecht man, fühlt man? Ich werde die Vorschläge der Kinder notieren und dann für sie zusammenfassen. Es geht darum die Geschichte mit Adjektiven auszuschmücken.

2. Unser Held muss genauer beschrieben werden: Wie sieht Bracho aus? Welche Farbe hat er? Wie fühlt er sich an? Um ein Held zu sein braucht man bestimmte Charaktereigenschaften, Bedürfnisse und Fähigkeiten. Womit verbringt er seinen Tag?

3. Warum ist Bracho nicht glücklich im Tal der Dinosaurier? Was ist der Grund für seine Angst? Wie fühlt man sich, wenn man Angst hat?

4. Wie und Wo findet Bracho die Zaubernüsse? Wie sehen sie aus? Was macht er damit?

5. Wie funktioniert das mit den Flügeln? Wo am Körper wachsen sie?

6. Der Grund für Brachos Unglück muss genau beschrieben werden. Wie sieht der Feind aus? Was tut Tyrann Bracho an?

7. Wie kämpfen die beiden? Verletzen sie sich? Wo hat Bracho die rettenden Zaubernüsse? Wie geschieht die Flucht?

8. Wie lang fliegt Bracho, bis er ins Schlaraffenland kommt? Wie sieht es dort aus? Was gibt es für schöne Dinge besonders für Brachiosaurier?

9. Wie erfüllt sich nun der sehnlichste Wunsch, nämlich angstfrei zu leben, von unserem Helden? Was hat er nun in seinem „neuen“ Leben?

10. Nun trifft Bracho seine Freundin. Wie heißt sie? Wie sieht sie aus? Sagt sie was zu Bracho?

11. Wir überprüfen nochmal unseren Titel.

Zwischendurch werde ich ab und zu unsere Geschichte mit den ausgearbeiteten Details zusammenfassen, besonders an den Stellen, an denen wichtige Entscheidungen getroffen werden.

Verlauf und Reflexion des zweiten Treffens:

Das Treffen war sehr fruchtbar. Die Kinder waren sehr aktiv bei der Sache und begeistert von ihrer eigenen Leistung. Es kam schon zu druckreifen Sätzen! Federführend war vor allen Dingen Isabelle. Das hat sie und auch mich sehr zufrieden gemacht. Dieses Angebot ist genau richtig für sie, denn hierbei kann sie ihre Begabungen zeigen. Die Sätze kamen schon in den richtigen Erzähl-Formulierungen aus ihrem Mund. Die drei Anderen fügten meistens nur ein: „Oh ja, genau, gut“ hinzu. Hier gebe ich nun kurz die neuen Details wieder:

1. Wo?
Die Geschichte spielt vor 145 Mio. Jahren. Diese Zahl nannte Jannes und ich habe mich im Internet schlau gemacht. Das ist genau die Zeit, in der die Brachiosaurier lebten. Im Dinosauriertal wachsen hohe Bäume und es gibt riesige Berge (Isabelle). Es ist heiß dort (Jannes). Die Sonne scheint die meiste Zeit vom Himmel, nur ab und zu gibt es heftige Gewitter (Isabelle). Bei der Frage, wie es dort rieche, meinte Frederik:  “Nach Dinokacke.“ Das gab großes Gelächter und fand Anklang. Ich gab den Kindern – im Hinblick darauf, dass wir unsere Geschichte Anderen erzählen wollen – zu bedenken, dass ein solches Gelächter unsere Geschichte kaputt machen könnte. Das wollte natürlich keiner. Wir einigten uns dann auf „muffelig“ (Matti).

2. Wer?
Unser Held Bracho gehört zur Familie der Brachiosaurier und ist Pflanzenfresser. Jannes erklärte, dass er mit seinem besonders langen Hals an die hohen Baumkronen komme, die sonst keiner erreiche. Er liebe es, sie abzufressen. Auch erwähnte er, dass ein Langhals so viel wie zehn Elefanten wiege. Die Haut Brachos soll braun-grau sein und sich rau anfühlen (Isabelle). Außerdem soll er auch ziemlich schmutzig sein (Frederik). Auf meine Frage, ob jemandem noch etwas einfalle, antwortete Isabelle:  „Bracho ist ein ganz lieber Dinosaurier, der keiner Fliege was zuleide tun könne.“ Das fanden wir alle sehr schön formuliert.

3. Was?
Bracho lebt in ständiger Angst vor einem furchtbaren Tyrannosaurus Rex (Jannes).  Jannes weist uns darauf hin, dass diese Familie der Dinosaurier die gefährlichsten Raubtiere ihrer Art waren. Tyrannosaurier lieben Fleisch und verspeisen ganz besonders gerne Brachiosaurier (Isabelle). Deswegen möchte unser Bracho flüchten  (Isabelle).

4. Was?
Eines Tages findet er seltsame Nüsse an einem Baum (Isabelle). Bracho wundert sich, denn solche hatte er noch nie zuvor gesehen (Isabelle). Auf meine Frage, wo Bracho sie aufbewahren könnte, denn er habe ja keine Tasche, antwortete Isabelle: “Doch, er hat ja Backentaschen.“ Von dieser Idee waren wir wieder begeistert. Isabelle erklärte noch, dass Bracho sie nicht runter schlucken, sondern für später aufbewahren würde. Ich hatte das Gefühl, Isabelle kennt unsere ganze Geschichte schon haargenau.

5. Womit?
Es sollen Bracho große Flügel wachsen, mit denen er dann flüchten kann (Isabelle).

6. Wer?
Der Feind Brachos heißt Tyrann. Er ist brutal und gefährlich. Er stößt immer ein fürchterliches Schreien aus, vor dem allein sich Bracho schon sehr erschreckt (Isabelle). Seine Zähne sind spitz und können Knochen zerbeissen (Jannes). Auf meine Frage, wie es zum Kampf kommen könnte, gab es viele Vorschläge. Wir haben uns für Isabelles entschieden, weil sie ihn sehr gut begründen konnte. Sie schlug vor, dass Tyrann Bracho bei seinem Mittagsschläfchen angreift. Bracho sei doch so lieb, dass er nicht, wie von den anderen vorgeschlagen, einfach so mit Tyrann kämpfe.

7. Wie?
Bracho liegt versteckt in einem Gebüsch und hält seinen Mittagsschlaf. Plötzlich hört er schon das schreckliche Stampfen und Brüllen Tyranns (Isabelle). Bracho fängt ganz doll an zu zittern (Matti). Isabelle: “Ja, genau und davon fangen die Blätter vom Gebüsch an zu wackeln. Daran entdeckt Tyrann das Versteck.“ Ich staune immer noch, wie sehr sie in der Geschichte war. Sie konnte sich das so gut vorstellen. Das hat uns alle in ihren Bann gezogen.

Ab diesem Punkt wendeten sich die anderen Kinder immer an Isabelle mit ihren Vorschlägen. Sie war sehr stolz. Jannes fügte dann hinzu, dass jetzt der Kampf los gehen müsse. Tyrann peitscht mit seinem Schwanz auf das Gebüsch ein und trifft Bracho fest (Jannes). Bracho kriegt einen Schlag auf die Backe, in der die Zaubernüsse liegen (Isabelle). Ein Saft läuft da raus, den Bracho schluckt. (Isabelle). Geniale Idee, finde ich. Schon spürt er, wie ihm Flügel wachsen (Isabelle). Sofort beginnt er mit den Flügeln zu schlagen und zu fliegen (Isabelle). Nur der Schwanz baumelt runter, denn er ist ja schwer und kann nicht so schnell in die Luft steigen (Jannes). Und da beißt Tyrann nochmal kräftig rein und hebt auch ein bisschen ab (Jannes). Bracho kann aber seinen Schwanz abfallen lassen wie eine Eidechse (Frederik). Hiermit war Isabelle nicht so besonders einverstanden. Warum, konnte sie mir nicht erklären. Die Mehrheit hat dann entschieden, auch weil wir uns schon die ganze Zeit nach Isabelle gerichtet hatten. Außerdem kam endlich einmal ein bedeutender Vorschlag von Frederik. Tyrann fällt samt Schwanz zu Boden (Frederik). Bracho fliegt davon (Jannes).

8. Wo?
Er fliegt und fliegt bis er ganz müde ist (Isabelle). Plötzlich in der Ferne sieht er einen wunderschönen Wald mit den köstlichsten Bäumen (Isabelle). Endlich ein Platz für ihn zum Landen (Isabelle). Dort trinkt er erst mal und isst sich den Bauch voll (Isabelle).

9. Wie?
Plötzlich sieht er einen Dinosaurier, der genauso aussieht wie er selber. Auch ein Langhals, eher gesagt eine Langhälsin (Isabelle). Sie sagt ihm, dass er im Schlaraffenland der Brachiosaurier ist und es hier keine Fleischfresser gibt (Jannes). Nun braucht Bracho keine Angst mehr zu haben (Isabelle).

10. Ende
Bracho und LangLang (Isabelles Namensgebung) werden die besten Freunde und erleben viele Abenteuer.

11. Titel
Es bleibt bei: “Der mutige Dinosaurier“.

Verlaufsplanung und Ziele für das dritte Treffen:

Für das dritte Treffen schreibe ich den ganzen Text zusammen und fülle eventuelle Lücken. Wir treffen uns wieder in gewohnter Umgebung und ich lese den Kindern ihre fertige Geschichte vor. Nun brauchen wir Bilder, in denen man die Handlung erkennen kann. Diese brauchen die Kinder später auch zum „bildgestützten“ Erzählen ihrer Geschichte.

Folgende Szenen möchte ich malen lassen:

    • Bracho im Tal der Dinosaurier,
    • der Baum mit den Zaubernüssen,
    • Tyranns Angriff auf Bracho,
    • Bracho und LangLang.

Ich könnte mir vorstellen, dass Isabelle diese Aufgabe nicht so gut gefällt, da sie ungern malt. Wenn sie nicht malen möchte, könnte sie schon mal versuchen mir die Geschichte zu erzählen.

Verlauf und Reflexion

Das Malen der verschieden Szenen hat gut geklappt. Man kann sehr gut erkennen, was auf den Bildern passiert. Frederik hat Bracho im Dinosauriertal gemalt. Isabelle wollte erstaunlicher Weise die Zaubernüsse malen, wenn ich ihr den Baum malen würde.
Das habe ich getan und sie hat die Nüsse und ihre typische Wiese gemalt. Ihr kam dann die Idee, dass wir doch jetzt sogar ein Bilderbuch machen würden. Ich habe den Kindern versprochen, jedem ein Exemplar zu machen. Jannes malte den Kampf. Auch er ist normalerweise selten bereit etwas zu malen, umso erstaunlicher das Ergebnis. Das zeigt, dass er besondere Angebote braucht, damit seine Fähigkeiten sichtbar werden.

Frederik: Bracho im Dinosauriertal

Isabelle: Der Baum mit den Zaubernüssen

Jannes: Der Kampf der Dinos

Matti: Bracho und LangLang

Matti hat Bracho und LangLang gemalt. Bracho breitet seine Arme ganz weit aus, um LangLang zu umarmen.
In der Gruppe herrschte eine sehr schöne Atmosphäre, weil sie alle so stolz auf das Ergebnis waren. Ich habe ihnen zum Schluss gesagt, dass wir morgen anhand der Bilder versuchen die Geschichte zu erzählen.

Verlaufsplanung und Ziele für das vierte Treffen

Ziel soll sein, dass die Kinder Anderen ihre Geschichte erzählen können. Ich habe geplant, dass jedes Kind einen Abschnitt erzählt, damit jeder beteiligt ist. Es könnte sich aber auch so entwickeln, dass nicht alle erzählen möchten. Hier können dann andere Aufgaben gefunden werden. Sie können die entsprechenden Bilder hochhalten, während erzählt wird. Es sollen auch noch Einladungen für die Erzählveranstaltung gemacht werden. Isabelle wird sicher hervorragend erzählen können. Matti wird es wahrscheinlich nicht machen. Bei Jannes und Frederik ist beides vorstellbar.
Wir werden uns im Kreis auf den Boden setzen, die Bilder liegen in der Mitte in ungeordneter Reihenfolge. Jetzt müssen die Bilder erst mal in die richtige Folge gebracht werden. Ich frage dann, wer anfangen möchte und lass mich überraschen. Eventuell gebe ich Hilfestellungen.

Dann werde ich die Kinder fragen, in welchem Rahmen wir unsere Geschichte erzählen sollen. Wir könnten in die verschiedenen Morgenkreise gehen und dort erzählen. Wir könnten vor einer Kleingruppe erzählen, jeder könnte zum Beispiel zwei Freunde einladen. Wir könnten auch die Eltern oder Geschwister dazu einladen. Wenn das entschieden ist, können wir beim nächsten Treffen die Einladungen oder Plakate gestalten.

Verlauf und Reflexion des vierten Treffens

Isabelle wird die Geschichte erzählen! Sie kann sie schon auswendig. Als sie die Bilder sah, fing sie sofort an. Die anderen meinten einstimmig, dass sie die Geschichte erzählen sollte. Ich habe angeboten, dass wir die Geschichte öfter erzählen, damit jeder mal dran kommt oder dass wir die Geschichte auch in Abschnitte einteilen könnten. Aber nein, es war so offenkundig für alle, dass Isabelle die Beste darin ist.
Eine tolle Bestätigung für Isabelle!

Die Anderen halten ihre Bilder hoch, während Isabelle erzählt. Als es um das Publikum ging, erklärte Isabelle, dass sie nicht in die Morgenkreise möchte und nicht vor so vielen erzählen wolle. Das sei dann so laut und „raschelig“. Sie möchte ungestört sein, legt Wert auf Qualität.

Wir einigten uns dann auf je zwei Freunde. Andere Eltern wollte Isabelle auch nicht. Ihrer Mama habe sie die Geschichte eh schon erzählt. Ich teilte den Kindern noch mit, dass wir beim nächsten Mal die Einladungen gestalten würden.

Verlaufsplanung und Ziele des fünften Treffens:

Ich habe fünf Exemplare unseres Bilderbuchs im Kopierladen machen lassen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Auf der Rückseite habe ich noch Fotos von den Autoren drucken lassen, wie das auch häufig in „richtigen“ Bilderbüchern ist.

Dieses Treffen beginne ich mit der Ansicht unseres Bilderbuchs. Danach sollen die Kinder auf fertigen Klappkarten das Deckblatt thematisch gestalten. Dafür bekommen sie hochwertige Filzstifte. Dann besprechen wir den Text mit Datum, Ort, Uhrzeit, und Grund der Einladung. Vielleicht kann Frederik oder auch jemand von den anderen bestimmte Dinge selber schreiben. Den Namen kann jedes der Kinder schon selber schreiben.

Verlauf und Reflexion des fünften Treffens:

Die Stimmung war fast feierlich, als die Kinder ihr Werk in der Hand hielten! Matti  meinte: “Das ist ja so schön, dass es in meinem Bauch kribbelt.“ Isabelle bat mich den Text vorzulesen, denn sie wollte nochmal überprüfen, ob alles stimmt. Das tat ich und sie flüsterte mit. Alles war zu ihrer Zufriedenheit.
Sie wollte aber keine Einladung malen und auch nichts schreiben. Lieber wollte sie nochmal erzählen üben. Ich habe sie gelassen. Sie saß mit ihrem Bilderbuch auf den Knien und flüsterte den Text vor sich hin.

Die anderen malten einen Dinosaurier vorne drauf. Unten drunter schrieb Frederik überall den Buchtitel drauf. Sein Bilderbuch diente ihm als Abschreibhilfe. Den Text in der Einladung schrieb ich auf Frederiks Wunsch hin gemeinsam mit ihm nach dem Treffen im Büro auf dem Computer. Am nächsten Tag hat jeder noch unterschrieben.

Isabelle wusste nicht, wen sie einladen sollte. Sie lud dann meine Tochter und deren Freundin ein. Ich denke, sie wollte sich dadurch vielleicht unbewusst bei mir für diese Beschäftigung bedanken. Eigentlich hat sie mit den Beiden nichts zu tun. Die Einladungen haben wir den Kindern ins Fach gelegt.

Verlaufsplanung und Ziele für das sechste Treffen:

Ich stelle mir die Bilderbuchpräsentation wie eine richtige Autorenlesung vor. Es sollen Salzstangen, Apfelschnitze und Schorle gereicht werden. Das bereite ich mit den Kindern vor. Wir werden im Rollenspielraum für die Zuschauer mehrere Sitz-Elemente in einen Halbkreis stellen. Vorne stehen vier Stühle für die Autoren. An die Seite kommen auf ein Tischchen die Knabbereien. Ich werde die Freunde der Kinder in den Raum holen und sie Platz nehmen lassen. Dann kommen die Autoren mit ihren Büchern herein. Mit Isabelle habe ich besprochen, dass sie stehen bleibt zusammen mit dem Kind, welches sein Bild gerade zeigt.

Frederik wird zu den eingeladenen Kindern die Begrüßung sprechen. Wir haben uns folgenden Satz überlegt: “Liebe Gäste, schön, dass ihr da seid. Wir haben ein Bilderbuch geschrieben und das möchten wir euch heute zeigen.“ Dann kann es losgehen.

Isabelle hat mir zweimal, als wir uns auf dem Außengelände trafen, die Geschichte wortwörtlich erzählt. Also, wir sind sehr gut vorbereitet! Nach der „Lesung“ gibt es dann die Erfrischung und wir können die anderen Kinder fragen, was sie von unserer Geschichte halten.

Verlauf und Reflexion des sechsten Treffens:

Es fand tatsächlich eine Autorenlesung in unserem Kindergarten statt! Für Isabelle war das eine Glanzleistung. Noch nie hat sie so lange vor einer großen Gruppe gesprochen. Ich musste ihr zweimal sagen, dass sie lauter sprechen müsse, was sie dann auch gemacht hat. Ihre Körpersprache passte überhaupt nicht zu ihrer Erzählstimme. Sie schaute zu Boden, bewegte sich kaum und ließ die Schultern hängen.
Sicher hat sie sich sehr auf den Text und die Betonung konzentriert und konnte / wollte sich nicht auch noch auf ihre Ausstrahlung konzentrieren. Vielleicht wollte sie sich von den Zuhörern nicht ablenken lassen und blickte deshalb zu Boden.

Ihre Stimme und ihre Betonung aber brachten die Handlung sehr anschaulich hervor. Da zeigt sich deutlich eine besondere Begabung. Die anderen Drei hielten die Bilder hoch. Jannes zeigte auch Isabelles Bild von den Zaubernüssen. Zum Abschluss gab es Applaus und ich fragte, wie den Kindern die Geschichte von Bracho gefallen habe.

Natürlich sagten alle: “Schön!“, denn die Salzstangen lockten. Ein älterer Junge meinte aber noch zu mir, dass die Bilder nicht wie in einem richtigen Bilderbuch wären, da die Dinosaurier immer anders aussehen würden. Ich habe ihm zur Antwort gegeben, dass er das gut bemerkt habe und dass er unser strengster Kritiker sei.

Als alles aufgegessen war, haben wir noch zusammen aufgeräumt. Isabelle heftete sich dabei an meine Fersen und ich nahm die Gelegenheit wahr, sie zu loben. Sie freute sich sehr und fragte, wann es denn weiter ginge mit dem Geschichten erzählen. Ich freute mich ebenfalls und stellte ihr die nächste Woche in Aussicht.

Hierzu muss ich leider sagen, dass wir die nächsten Geschichten etwas „abgespeckter“ erfinden müssen. Denn dieses Angebot habe ich zum größten Teil in meiner Freizeit durchgeführt. Ich arbeite zweiundzwanzig Stunden in einem Kindergarten mit offenem Konzept und jeder der Mitarbeiter ist für einen Funktionsraum zuständig. Kleingruppenarbeit ist nur sehr selten möglich (schrecklicher Zustand). Ich habe in der letzten Teambesprechung den Kolleg*innen das Bilderbuch vorgestellt, meine Erarbeitungsweise erklärt und ihnen die Hochbegabtenförderung anhand dieses Beispiels verdeutlicht. Die Reaktionen waren durchweg positiv. Ich habe allen die Dringlichkeit ans Herz gelegt, dass hier unbedingt Handlungsbedarf besteht.

Sie sind selber Zeug*innen geworden, wie zufrieden und offen Isabelle in den Tagen nach der Angebotsreihe war. Was mich wirklich stolz macht, ist dass Isabelle mir seitdem drei selbstgeschriebene (sie hat der Mutter diktiert) Geschichten mitgebracht hat. Zwei handeln von Schnecken und eine wieder von Dinosauriern. Sie malt sogar kleine Bilder dazu. Eine Schneckengeschichte hat sie bei einer Kollegin im Morgenkreis frei erzählt. Die Mutter berichtete, dass Isabelle auch ihrer Verwandtschaft ihre Geschichten per Mail schickt. Sie fragte mich nach dem Geschichten-Baukasten. Ich habe ihn ihr für die bevorstehende Mutter- und Kind-Kur geliehen. Sie war sehr dankbar für dieses Werkzeug.

Ansonsten kommt Isabelle im Laufe des Vormittags öfters zu mir und spricht mich als Bracho oder LangLang an: „Hallo, LangLang, wie geht’s dir? Lass uns noch ein paar Abenteuer erleben!“ oder „Komm mit mir, Bracho, ich habe ganz köstliche Baumkronen entdeckt.“ Ich spiele das Spiel mit und versuche ihr auch immer etwas in Aussicht zu stellen. Meistens treffen wir uns im Außengelände und spielen Rollenspiele mit Bracho und LangLang, in die ich auch andere Kinder einbeziehe. Dabei bringt sie mich durch ihren ungewöhnlichen Humor immer wieder sehr zum Schmunzeln.

Wenn Isabelle bei mir im Morgenkreis ist (an zwei Tagen in der Woche dürfen sich die Kinder aussuchen, wo sie den Morgenkreis mitmachen), versuche ich immer eine Kleinigkeit für sie zu machen (so, wie Hanna das von den Rätseln erzählt hat – beschrieben in Beispiel 2b in Passgenaue kognitive Förderung). Zum Beispiel Zungenbrecher und Wortspiele. Isabelle hat durch diese Angebotsreihe erfahren, dass ich ein wissender Zeuge für sie bin.

Mittlerweile ist sie aus der Kur zurück und die Worte, mit denen sie mich begrüßte, waren: „Bracho, ich habe dich so vermisst. Ich muss dir von ganz vielen Abenteuern erzählen.“ Auch nach drei Wochen nimmt sie unsere Geschichte sofort wieder auf und fordert mich heraus, mir etwas einfallen zu lassen. Wir erarbeiten gerade eine neue Geschichte mit vier anderen Kindern.
Isabelle meinte, ihr wäre es am liebsten, wenn wir beide die Geschichten-Werkstatt allein machen würden. Also, was das betrifft, habe ich mein Ziel nicht erreicht. Sie hat mittlerweile gerne ein kleines Publikum, aber sie möchte immer bestimmen. Mehrheitsbeschlüsse fallen ihr schwer. („Lass jetzt aber nicht wieder die Mehrheit bestimmen!“) Das ist ja ein Problem, was viele Menschen noch im Erwachsenenalter haben. Deswegen muss ich ihr dafür noch mehr Zeit geben.

Außerdem legt sie Wert auf bestimmte Merkmale in einer Geschichte und nicht immer sieht die Mehrheit das so wie sie. Es scheint so, als erlebe sie das dann als sehr unstimmig für den Inhalt / Verlauf der Geschichte, fast schon als Qualitätsverlust.

 

(Siehe auch den Absatz „Hoher Anspruch an das eigene Können“ im Beitrag Aufbau eines positiven Selbstkonzepts.)

Und hier: eine weitere Kleingruppenarbeit mit Isabelle:
Isabelle (5;2) reichen die Informationen in der Zeitung nicht

 

Datum der Veröffentlichung: Januar 2022
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