von Hanna Vock

 

Hoch begabte Kinder werden von Erzieherinnen nicht selten als ängstlich beschrieben. Sieht man genauer hin, geht es um zwei Ausprägungen von Ängstlichkeit. Erstens um die Scheu, sich auf unbekannte Situationen einzulassen, und zweitens um die Scheu, sich neuen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen.

Natürlich erscheinen nicht alle hoch begabten Kinder als ängstlich; manche sind ausgesprochen mutig.

So berichtete eine Erzieherin in einer Fortbildung von einem Ausflug mit ihrer Gruppe, der gründlich daneben ging:

Sie hatte vor, mit der Gruppe auf den Rathausturm zu steigen, um die Stadt mit den Kindern einmal von oben anzusehen. Am Vortag erzählte sie den Kindern, dass der Turm ganz, ganz hoch sei, dass dort ständig ein heftiger Wind wehe und dass sie mit einem superschnellen Fahrstuhl vom Erdgeschoss nach oben fahren würden. Daraufhin erklärte Jonas (Name geändert), ein 3-jähriger, vermutet hoch begabter Junge, dass er nicht mitkommen wollte. Die Erzieherin antwortete ihm, dass das aber ein ganz tolles Erlebnis sei und dass er sich das ja noch überlegen könnte.

…kurz gefasst…

An zwei Beispielen wird erläutert, wie eine vermeintliche Schwäche (Ängstlichkeit) als Stärke begriffen werden kann.

Der Schlüssel dafür ist das Verständnis für ungewöhnliche, frühe Denkprozesse der Kinder. Auf Grund dieser Denkprozesse brauchen die Kinder vorab mehr und gründlichere Informationen über Situationen und Herausforderungen, die in der Zukunft liegen.

Am nächsten Morgen meldete sich die Kollegin der Erzieherin krank, und eine Mutter erklärte sich spontan bereit mitzugehen.

Unten am Rathaus angelangt, weigerte sich Jonas standhaft, in den Fahrstuhl einzusteigen. Die Erzieherin war in einer Zwickmühle: Jonas wollte weder mit auf den Turm kommen, noch mit der für ihn fremden Mutter unten bleiben. Sie konnte aber auch nicht die ganze restliche Gruppe mit der in Gruppenpädagogik gänzlich unerfahrenen Mutter auf den Turm fahren lassen. Also brach sie den Ausflug ab, was für alle Beteiligten frustrierend war. Die Gruppe war sauer auf Jonas, da sie ihn als Verursacher des Abbruchs wahrgenommen hatte. Jonas fühlte sich in dieser Situation sichtlich unwohl, und die Mutter äußerte verärgert: „Da hätte ich ja auch in Ruhe einkaufen gehen können.“

Was hätte anders laufen können? In der Fortbildung wurde die Situation analysiert.

Der Schlüssel zum Verständnis der Situation lag in der Information, dass hoch begabte Kinder schon sehr viel früher als andere in die Zukunft denken können.

Siehe auch: Denken fördern.

Nicht hoch begabte Dreijährige denken noch ganz gegenwärtig; ein bisschen denken sie bereits über Vergangenes, Erlebtes nach, doch die Zukunft ist für sie noch sehr vage, und sie können noch nicht detailliert über das nachdenken, was in der Zukunft passieren könnte.

Hoch begabte Dreijährige dagegen denken schon intensiv über Vergangenes nach, und sie sind geistig bereits in der Lage, sich über etwas Gedanken zu machen, das in der Zukunft liegt. Wir können also davon ausgehen, dass Jonas sich über den bevorstehenden Ausflug seine Gedanken gemacht hat.

Eng verbunden mit der Fähigkeit, in die Zukunft zu denken, ist die Fähigkeit zur Abschätzung von zukünftigen Gefahren. Kleine Kinder verlassen sich, was ihre Sicherheit angeht, weitgehend auf die Erwachsenen. Erst wenn sie immer besser lernen, in die Zukunft zu denken, startet in ihrem Gehirn ein Programm, das ich „Risikoabschätzung“ nennen möchte. Es läuft von da an ständig mit – sozusagen im Hintergrund.

Wir Erwachsene merken davon nur selten etwas – aber wir schätzen jederzeit (oft im Hintergrund unseres Bewusstseins) ab, welche Risiken sich für uns ergeben könnten, wenn wir uns auf eine neue Situation oder eine neue Aufgabe einlassen:

Kann ich das überhaupt schaffen? Könnte ich mich vielleicht blamieren? Könnte es für mich gefährlich werden? Könnte ich mich dabei unwohl fühlen?

Dieses Programm beeinflusst ständig unsere Entscheidungen. Aber natürlich muss auch dieses erst gelernt werden. Und in dieser Entwicklungsphase war Jonas. Er begann mit Hilfe des neu gestarteten und sich nun durch Übung ständig verfeinernden Programms Risikoabschätzung innerlich immer mehr Verantwortung für sich zu übernehmen.

Schwierig daran ist, dass dieses Programm bei Hochbegabten oft bereits dann startet, wenn sie noch über sehr geringe Lebenserfahrung und entsprechend wenig Weltwissen verfügen. Und zu einem Zeitpunkt, an dem die Erwachsenen es noch nicht von ihnen erwarten und deshalb auch noch nicht die Idee der gezielten Hilfestellung in diesem Bereich entwickelt haben.

Zusätzlich verwirrend für Jonas musste es sein, dass die anderen, sogar die älteren Kinder, sich offenbar nicht so sorgten wie er.

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Jonas seines Wissens noch nie in einem Fahrstuhl gefahren war und dass er noch nie auf einem hohen Turm gewesen war. Beides machte ihm – nicht zuletzt wegen der dramatischen Schilderungen der Erzieherin – Angst.

Als wir uns nun in der Fortbildung, als Ergebnis all der Überlegungen, besser in Jonas hineinversetzen konnten, wurde über Lösungen nachgedacht.

Schnell wurde klar, dass Jonas im Voraus zusätzliche, beruhigende Informationen gebraucht hätte – so ungefähr all die sicherheitsrelevanten Informationen, über die auch die Erzieherin verfügte, bevor sie sich zu dem Ausflug entschloss:

  • Die Turmplattform ist durch einen hohen Zaun gesichert – und noch nie hat man gehört, dass Jemand heruntergefallen wäre, obwohl der Turm schon seit vielen, vielen Jahren steht.
  • Entsprechendes gilt für den Fahrstuhl. (Fahrstühle sind übrigens die sichersten Verkehrsmittel überhaupt.)
  • Der Wind ist nicht so stark, dass er Menschen vom Turm herunterpusten könnte.

Hätte Jonas diese wichtigen Informationen vorab erhalten, hätte er seine Entscheidung für Teilnahme oder Nicht-Teilnahme auf einer breiteren Datenbasis treffen können.

Vielleicht hätte er sich trotzdem gegen den Ausflug entschieden, aber die Situation wäre ungleich günstiger gewesen, weil Zeit zum Argumentieren und Zeit zum Planen geblieben wäre.

Das Problem war im Kern kein emotionales (Angst), sondern ein kognitives (Mangel an Information).

Fazit: Ängstlich wirkende hoch begabte Kinder brauchen hinreichende Informationen, um eine Situation, auf die sie sich einlassen sollen, im Voraus auf mögliche Risiken hin abzuschätzen.

Wenn der Junge, im Voraus mit ausreichend Informationen über den bevorstehenden Ausflug versehen, sich für Nicht-Teilnahme entschieden hätte, wäre auch das ein Erfolg gewesen: Vor der Gruppe hätte er als einer dastehen können (mit Unterstützung der Erzieherin), der sich traut, Nein zu sagen, auch wenn alle anderen Ja sagen.

Nun zur zweiten Form beobachteter Ängstlichkeit.

Manchmal glauben wir Erwachsene, dass ein Kind eine bestimmte Aufgabe doch bewältigen können müsste, und können dann nicht auf Anhieb verstehen, warum das Kind sich gegen diese Aufgabe sperrt.

In der Elternberatung erzählte mir ein Vater, dass er sehr sauer werde, wenn seine fast fünfjährige Tochter „sich dumm stelle“. Er fand es zum Beispiel sehr bockig von seiner Tochter, die im Haushalt schon seit längerem kleine Aufgaben übernahm (den Esstisch abräumen, in ihrem Zimmer ihren Spieltisch und die Fensterbank abwischen, ihre dreckige Wäsche in die Wäschebehälter sortieren), dass sie nicht Brötchen einkaufen wollte.

Für ihn war es eine passende Aufgabe, da seine Tochter sprachgewandt und nicht schüchtern war und die Straße mit großer Verlässlichkeit an der Ampel überquerte. Außerdem konnte sie schon Geld zählen und hatte überhaupt kein Problem, sich die drei Brötchensorten zu merken, die sie einkaufen sollte. Auch war sie schon oft mit in der nahe gelegenen Bäckerei gewesen und war dort bekannt.

Also, warum war sie nicht bereit, los zu gehen und die paar Brötchen zu kaufen? Sie beantwortete dem Vater diese Frage nicht.

Nach dem Beratungsgespräch sprach der Vater noch einmal mit seiner kleinen Tochter über das Thema. Er machte ihr jetzt keine Vorhaltungen und war auch nicht aufgebracht. Er bot ihr an, gemeinsam zu überlegen, was alles beim Brötchenkaufen schief gehen könnte.

Die Tochter zeigte sich interessiert an der Frage, und sie kamen auf etliche

Probleme,

die das kleine Mädchen alle im Kopf hatte:

1- Die Bäckereiverkäuferinnen könnten sie in dem samstäglichen Gedränge übersehen, weil sie denken, sie wäre nur mitgekommen.

2- Andere Leute könnten sich vordrängeln.

3- Eine Sorte Brötchen könnte ausverkauft sein – und vielleicht könnte sie dann nicht schnell genug antworten.

4- Sie könnte es in der Aufregung nicht merken, wenn sie zu wenig oder zu viel Geld zurück bekäme. Zu viel Geld anzunehmen, wäre ihr peinlich.

5- Vielleicht bekäme sie die dicke Papiertüte nicht in den Stoffbeutel und die Brötchen würden ihr hinfallen.

Strategien

Fünf mögliche Ereignisse, für die das sehr begabte Mädchen noch keine Strategien parat hatte. Die Eltern nahmen sich zusammen mit der Tochter die Zeit, alle diese Eventualitäten im Kopf durchzuspielen und Lösungsmöglichkeiten zu finden.

Zu 1 und 2 – Spielerisch übte sie laut zu rufen: „Ich will auch Brötchen kaufen. Wann bin ich denn mal dran?!“

Zu 3 – In diesem Fall sollte sie die fehlende Sorte einfach weg lassen und

laut und deutlich sagen: „Dann ist das Alles.“

Zu 4 – Sie sollte darauf vertrauen, dass die Verkäuferin es richtig macht. Falls die Eltern dann doch merken sollten, dass das Wechselgeld nicht stimmt, würden sie sich selber darum kümmern.

Zu 5 – Sie könnte einen Korb nehmen, in den die Tüte leicht hinein zu legen ist. Beim nächsten gemeinsamen Einkauf könnte sie das üben.

Auch dieses Kind dachte bereits intensiv in die Zukunft und hatte den Anspruch, viel Verantwortung selbst zu übernehmen (zum Beispiel für die Richtigkeit des Wechselgeldes). Und es war sich darüber bewusst, dass es aufgeregt sein würde und dann mit bestimmten Situationen nicht zurechtkommen könnte.

Die Eltern entlasteten es, boten ihm Übungsmöglichkeiten und Strategien an. Jetzt traute sich das Mädchen, war nach dem ersten Mal, das selbstverständlich ein voller Erfolg wurde, sehr froh und stolz und holte fortan wöchentlich die Samstagsbrötchen.

Siehe auch:

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