von Hanna Vock

 

1 „Sie spielt am liebsten für sich allein.“
2 „Er braucht wohl nicht wirklich Freunde.“

Manchmal mag es wahr sein, meistens ist es falsch.

Hoch begabte Kindergartenkinder haben im Prinzip dieselben sozialen Bedürfnisse nach gemeinsamem Spiel und nach Freundschaft wie die anderen Kinder auch. Aber in diesen Aussagen 1 und 2 steckt die Annahme, dass die Kinder sich so verhalten, weil sie diese Bedürfnisse nicht haben – ein weitverbreiteter Trugschluss. Leider gibt es viele hoch begabte Erwachsene, die sich diesen Trugschluss im Laufe der Zeit zu eigen gemacht haben und selber glauben, dass sie allein am besten klar kommen.

Sie haben zu wenige gute Erfahrungen gemacht: Mit ihren (guten, kreativen) Fragen und Gedanken waren sie schon als Kinder zu oft auch dann allein, wenn sie mit anderen zusammen waren.

Treffender sind da schon diese Aussagen von Eltern kleiner Kinder:
3 „Sie kann irgendwie mit den anderen Kindern nicht viel anfangen.“
4 „Er ist immer schnell enttäuscht, wenn er denkt, er hat einen Freund gefunden.“

Finden Sie den Unterschied zwischen den Aussagen 1 und 2 auf der einen Seite und den Aussagen 3 und 4 auf der anderen Seite!

Bei 3 und 4 wird nicht das Bedürfnis negiert, sondern die Möglichkeit, es zu befriedigen.

Das Dilemma

Ich finde es sehr wichtig, diesen Unterschied zu kennen und zu beachten im Umgang mit kleinen Hochbegabten, denn daraus leitet sich ganz unterschiedliches pädagogisches Handeln ab: Wir lassen ihn in Ruhe, wir fordern sie immer wieder zum Spielen mit anderen Kindern auf oder: Wir helfen ihm, in der Kita Kinder zu finden, mit denen sie/er gut zusammenwirken kann, wir binden sie/ihn in anspruchsvolle Kleingruppenprojekte ein, usw. usf.
In Kapitel 4 dieses Handbuchs finden Sie viele praktische Beispiele dafür, wie das gehen kann.

Weil uns das tiefere Verständnis dieses Problems so wichtig erscheint, erhalten die Teilnehmer*innen der IHVO-Zertifikatskurse die Aufgabe, sich mit einem Text auseinander zu setzen, den ich auch 20 Jahre nach seiner Veröffentlichung für sehr wichtig und grundlegend halte. Es geht um Auszüge aus dem Buch:

Barbara Schlichte-Hiersemenzel: Zu Entwicklungsschwierigkeiten hoch begabter Kinder und Jugendlicher in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt; herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001. (Siehe auch: Literaturverzeichnis.)

Hier ein paar knappe Kernaussagen. Sie stammen aus den Kopien, die die Teilnehmer*innen erhalten haben:

Schlichte-Hiersemenzel (2001a):
„Wenn Anlagen und Entfaltungsdrang des Kindes und die Möglichkeiten der Menschen in seiner Umgebung zu sehr voneinander abweichen, wenig zueinander passen, können zwei grundlegende menschliche Bedürfnisse, Sichentfaltenwollen und Dazugehörenwollen, in dem Kind in einen schwerwiegenden Konflikt miteinander geraten und seine Entwicklung erheblich stören. … Beide Bedürfnisse versucht das Selbst eines Kindes in Einklang zu bringen, damit beide bestmöglich erfüllt werden. … Es besteht dabei eine Abhängigkeit vom Verhalten der Umgebungspersonen und von einem sehr frühen Alter an »ein Bedürfnis nach Teilung von emotionalen und kognitiven Zuständen in Bezug auf die Welt« (Dornes, Die frühe Kindheit, 1997).  »Teilung« ist hier zu verstehen als »miteinander erleben«.  S.10/11) Ende des Zitats.

Jeder sehr begabte Mensch muss sich zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen immer wieder entscheiden, ob er seine Begabung ungebremst entfalten will (auch um den Preis der Isolation) oder ob er sich lieber seiner Umgebung anpasst und seine Begabungsentfaltung hinten anstellt. Die Auseinandersetzung mit diesem Dilemma ist für Hochbegabte ein lebenslanger Prozess, manchmal herrscht die eine Tendenz vor, manchmal die andere. Wichtig ist: Auch hoch begabte Kindergartenkinder schlagen sich bereits damit herum.

Das Kind steckt in einem Dilemma, wenn es sich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden muss, die sich beide unangenehm anfühlen und die beide (für den kundigen Betrachter voraussehbar) zu einem unguten Ergebnis führen werden: Entweder nimmt das Kind Einsamkeitsgefühle und Abweisung in Kauf oder es vernachlässigt und verleugnet die eigenen Fähigkeiten und Interessen.

Die Folgen sind in beiden Fällen schwerwiegend.

  1. Kinder, die von anderen Kindern abgelehnt werden, weil sie anders sind – oder sich selbst von anderen Kindern fernhalten, weil die anders sind, können zu Eigenbrötlern werden, die sich zurücknehmen, in der Gruppe still sind, oder sich mit ihrem Wissen hervortun und auftrumpfen. Alle diese Verhaltensweisen können das Kind weiter von den anderen Kindern und vom Aufbau von Beziehungen entfernen. Auch viele Erzieher*innen stehen solchen Kindern eher skeptisch gegenüber.
    Wenn diese Verhaltensweisen sich verfestigen, kann das für die fernere Zukunft  bedeuten, dass sich ein (innerer oder äußerer) Zynismus herausbildet. Er entsteht aus sozial nicht eingebetteten Überlegenheitsgefühlen und legt die Abwertung Anderer nahe.
  2. Etliche Kinder, vor allem Mädchen und sensiblere Jungen, entscheiden sich permanent dafür, aus der Gruppe, in der sie nun mal gelandet sind, nicht „herauszuragen“. Sie möchten dazugehören und vermeiden es, ihre kognitive Überlegenheit sichtbar zu machen. Das kann sich zu einem Selbstbild verfestigen, in dem die kognitiven Ambitionen verdrängt und vergessen werden. Trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in denen sie sich kognitiv vernachlässigt fühlen.
    Ihre gesamte Entwicklung kann von dieser Verleugnung entscheidend beeinflusst werden; Vermeidung führt über lange Zeit dazu, dass Herausforderungen nicht mehr angenommen werden (können), weil die Übung und das daraus erwachsene Selbstvertrauen versäumt wurden. Ein naheliegendes Beispiel ist, dass viele sehr kluge Erzieher*innen sich nicht trauen, ihre klugen Gedanken vor einer größeren Gruppe vorzutragen. Sie haben es halt nicht üben können…

Siehe auch: Verbergen von Fähigkeiten und Interessen

Siehe: Intellektuelle Leistungen der Kinder bestätigen

Aber stehen wir hier wirklich vor einem Dilemma, also einer unlösbaren Zwickmühle?

Wenn das hoch begabte Kind kluge und empathische „Entwicklungshelfer“ hat (Eltern, Erzieher*innen, Lehrer*innen) dann eröffnet sich, zumindest theoretisch, eine dritte Möglichkeit.

Es gibt einen Weg aus dem Dilemma.
Aber der Zufall ist selten hilfreich.

Wer sich in einer Gruppe (Herkunftsfamilie, Kindergarten, Freunde, Schule, Ausbildung, Studium, Berufstätigkeit, Nachbarschaft, Altenheim) wiederfindet, in der es weitere hoch oder besonders begabte Menschen gibt, hat dort bessere Chancen als in einer Zufallsmischung, um sich in der sozialen Umgebung wohlzufühlen. Das scheint eine krasse Einschätzung zu sein, bestätigt sich aber immer wieder.
Siehe: Normalverteilung der Intelligenz.

Die Zufallsmischung bringt sehr selten mehrere Hochbegabte gleichzeitig in dieselbe Schulklasse, in dasselbe Arbeitsteam oder in dieselbe Kindergartengruppe. Manche Umstände sind günstiger, andere weniger. Je höher die geistigen Anforderungen im Beruf sind, desto eher treffen Hochbegabte aufeinander.
Im Kindergarten kann sich im krassen Fall zum Beispiel ein hoch begabtes syrisches Flüchtlingskind in einer Kindergartengruppe wiederfinden, in der alle anderen Kinder später eine Hauptschule besuchen und einige den Abschluss dort nicht schaffen werden.

Siehe hierzu: Hochbegabung ist kein Luxusproblem.

Ein guter Lösungsansatz für das Dilemma sind Integrative Schwerpunktkindergärten für Hochbegabtenförderung. Hier trifft das hoch begabte Kind zwar auch auf eine Zufallsmischung, was die Intelligenz angeht. Es findet aber – dem Konzept nach – in seiner Gruppe auch noch ein paar andere hoch begabte Kinder, und es gibt dort Erzieher*innen, die eine einschlägige Zusatzausbildung absolviert haben.

Eliten

An dieser Stelle erscheint oft der Vorwurf, es handele ich hierbei um elitäre Ideen.

Deshalb will ich es noch einmal klar sagen:

Hochbegabte sind keine besseren
oder wertvolleren Menschen,
sie sind nur besonders intelligent.

Ich wünsche mir, dass viele Hochbegabte einflussreiche Positionen erreichen, um intelligente Problemlösungen zu finden – oft ist das in der derzeitigen Realität gar nicht zu erkennen.
Natürlich kann es nicht nur um die Höhe der Intelligenz gehen – moralische Integrität und Respekt vor allem Lebenden und auch der unbelebten Natur würde ich mir von einer guten Fee als 1. und 2. Wunsch hinzuwünschen, wenn es um die Besetzung einflussreicher Positionen geht. Aber an 3. Stelle käme dann der Wunsch nach hoher Intelligenz und insbesondere nach der Fähigkeit systemisch, kreativ und vorausschauend zu denken.

Wenn solche Menschen die wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, pädagogischen (!), und politischen Eliten darstellen würden, wäre mir um die Zukunft meiner Enkel nicht so bange.

Selbstbestimmung

Hoch begabte Menschen, die schon früh im Kontakt zu anderen Hochbegabten aufwachsen, können – mit freundlicher Unterstützung ihrer Entwicklungshelfer –  früh erkennen, dass sie mit zunehmendem Alter immer größeren Einfluss auf die Zusammensetzung ihres Umfeldes nehmen können. Sie können sich gezielt Freunde suchen, bewusst ein anspruchsvolles Gymnasium und später dann einen anspruchsvollen Beruf ansteuern. Auch für die langfristige Partnerwahl können sie der Intelligenz eine hohe Priorität einräumen.

Immer wieder erlebe ich, dass Menschen mit genügenden geistig befriedigenden Kontakten wenig Drang verspüren, hochmütig zu empfinden; im Gegenteil, sie können umso gelassener und respektvoller auch mit weniger intelligenten Menschen umgehen, zum Beispiel mit Nachbarn oder Kollegen. Fehlen aber solche befriedigenden Kontakte, können Überlegenheitsgefühle toxisch werden.

Kleine Kinder unterstützen

Diese Möglichkeit, ihr Umfeld bewusst zu gestalten, haben kleine Kinder nicht. Damit kleine Kinder früh einen Weg aus dem Dilemma finden, also passende soziale Kontakte und angemessene Entfaltung erleben dürfen, brauchen sie die empathischen Entwicklungshelfer*innen.

Neben den Eltern sind das Erzieher*innen, die sie früh unterstützen; denn das traurige Schlingern in dem Dilemma bringt die Kinder auf ungute Wege und zu unguten Verhaltensweisen, Selbstsichten und Selbstüberzeugungen.

Manches hoch begabte Kind hat Glück

Es gibt Kinder, die einen privilegierten Entwicklungsweg gehen können; denn eine oder sogar mehrere der folgenden Bedingungen treffen auf ihr Leben zu:

    • Es hat Eltern oder wenigstens ein Elternteil, das ebenfalls hoch begabt und dazu noch pädagogisch talentiert und interessiert ist. Es wird daher in der Familie früh verstanden, unterstützt und gefördert. (Ich habe bei meinen Elternberatungen viele dieser Eltern kennenlernen dürfen.)
    • Im Kindergarten trifft es auf eine oder sogar mehrere Erzieher*innen, die das Kind vorurteilsfrei erkennen, mit ihm intelligent umgehen, es auf seiner/ihrer kognitiven Ebene ansprechen und eher fasziniert als abgeschreckt oder verunsichert reagieren. Mit ganz großem Glück kennen sich die Erzieher*innen sogar mit der Hochbegabtenförderung in der frühen Kindheit aus.
    • Ähnliches darf das Kind in seiner Grundschule und in seiner weiterführenden Schule erleben. Es trifft auch dort auf ambitionierte und  inspirierende Lehrer*innen und wenigstens auf einige ebensolche Mitschüler*innen.

Selbst wenn alle drei dieser Voraussetzungen erfüllt sind – was der Wahrscheinlichkeit nach wie Treffer im Lotto ist – gibt es noch keine Garantie für eine glückliche und erfolgreiche Entwicklung, es gibt zu viele andere Bedingungen und Stolpersteine, die eine Rolle spielen (siehe: Personale Kompetenzen).

Aber:
Diese Voraussetzungen sind,
auch einzeln genommen,
sehr wichtige Faktoren! 

Im glücklichsten Fall dreht sich die Spirale der Entwicklung stetig nach oben: Die Hochbegabten finden Mentoren und auch berufliche Tätigkeitsfelder, die ihrem intellektuellen Potenzial entsprechen.

Und manchmal können dann solche erwachsenen „Glückskinder“ das ganze „Getue“ um die frühe Förderung (schon im Kindergarten!) nicht nachvollziehen. Sie sehen die Welt ein bisschen so wie die französische Königin Marie Antoinette im 18. Jahrhundert, die über die hungernden Armen in ihrem Reich sinngemäß gesagt haben soll: Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Brioche (süße französische Backware) essen!

Die Wirklichkeit für viele hoch begabte Kinder sieht aber leider so aus, dass sie überhaupt keine dieser oben aufgezählten Lebensstationen mit Verständnis und angemessener Förderung durchlaufen. Umso wertvoller sind die Einsichten (und dann auch die praktischen kommunikativen Kompetenzen) von Erzieher*innen.

**********

Stellvertretend für viele gute Gedanken zu diesem Komplex stehen hier im Folgenden Auszüge aus den Hausarbeiten von Kursteilnehmerinnen, die sie während ihrer Kurszeit geschrieben haben.

So schrieb Heike Brandt aus Remscheid:

In dem vom Bundesministerium herausgegebenen Artikel (von Hiersemenzel) wird die seelische Notlage von hoch begabten Kindern beschrieben, die durch das Zusammentreffen mit dem Umfeld entstehen kann, wenn das Umfeld nach einheitlichem Schema verfährt und nicht auf individuelle Förderung bedacht ist.

Durch ihre höhere Auffassungsgabe, ihr schnelleres Lerntempo und durch ihre komplexeren und tiefer gehenden Gedankengänge haben Hochbegabte Schwierigkeiten, Gleichgesinnte in der näheren Umgebung (Kindergarten und Schule) zu finden, mit denen sie ihre Gedanken und Ideen austauschen können, von denen diese verstanden und gespiegelt werden können. Die Autorin Hiersemenzel beschreibt, dass Hochbegabte durch ihre Mitteilungsfreude und ihre komplexeren Gedankengänge auffallen und oftmals von Mitschülern und Lehrern als störend empfunden werden, die ihre Gedankengänge nicht nachvollziehen können. Das Titulieren als „Streber“ (oder sogar Bulling) oder Disziplinarmaßnahmen schließen die Hochbegabten des Öfteren aus der Gemeinschaft aus.

Auch Hochbegabte haben das Bedürfnis zu einer Gruppe zu gehören. So entsteht ein Kampf zwischen zwei Grundbedürfnissen, zum einen dem Drang nach Entfaltung und zum anderen dem Zugehörigkeitsgefühl. (Ich möchte so sein wie die anderen.) Oftmals passen sie sich zugunsten der Zugehörigkeit an, wollen nicht auffallen, verkümmern auf intellektuellem Gebiet (schalten manchmal sogar diesen Teil der Persönlichkeit ab), bereits erworbene Fähigkeiten werden verleugnet oder es werden bewusst schlechte Noten geschrieben.

So entsteht eine seelische Zwangslage, die durch ständige Unterforderung, Langeweile, Verstellung der Persönlichkeit und große Selbstbeherrschung entsteht. Dieser Prozess kostet sehr viel Kraft. Folgen sind oft Aggressionen, Verlust von Lebensfreude, körperliche Zusammenbrüche, Apathie, Interessensverlust an Tätigkeiten, die sonst nach dem Schul- oder Kindergartenalltag Freude machten, bis hin zu Suizidgedanken.

Die Autorin Hiersemenzel beschreibt, dass Hochbegabte ihre Zeit in der Schule, die sie aus gesetzlichen Gründen besuchen müssen, als langweilig, als ungenutzte Zeit oder sogar als Gefängnis empfinden.

Informationen aus einem Elterngespräch:

Die im Artikel beschriebenen Vorgänge wurden mir von einem Vater in einem Gespräch bestätigt, als wir zufällig auf die Schulsituation seines Sohnes zu sprechen kamen, der jetzt die zweite Klasse besucht. Dieser habe die Lust an der Schule fast verloren und ziehe sich immer mehr zurück. Seine Fähigkeiten, im Kopf bis 100 zu rechnen, schraubte er zurück und bewegte sich beim Kopfrechnen im Zahlenraum bis 10.

Als die Eltern der Lehrerin ihre Beobachtungen mitteilten, schilderte sie den Schüler als unkonzentriert und unruhig, der seine Fähigkeiten im mathematischen Bereich in ihrem Unterricht nicht zeige. Sie meinte deshalb, er solle erstmal die grundlegenden Fähigkeiten erlangen.

Der Vater gab daraufhin seinem Sohn zu Hause eine für ihn schwierige Aufgabe zu rechnen, die er konzentriert und ruhig löste.

Meine Gedanken für die praktische Arbeit:

Der Artikel vertiefte die in der Fortbildung schon gehörten Erkenntnisse und sprach mich jetzt auf der Gefühlsebene an, da er viele Beispiele zur Situation hoch begabter Kinder beinhaltet. Für meine pädagogische Arbeit ist mir nochmals klar geworden, dass auch ich die Fertigkeiten der hoch begabten Kinder besser in die Gruppe integrieren kann, indem ich Ergebnisse aus „Extraaufgaben“ in die Gruppe zurückfließen lasse. So wird das hoch begabte Kind bestätigt und erfährt seine Zugehörigkeit. Wichtig finde ich auch, dass die Erzieherin gute Ideen vor der Gruppe oder im Zweiergespräch lobt, der Gruppe die Fähigkeiten des hoch begabten Kindes aufzeigt und ihren Nutzen für die Gruppe erklärt.

***********

Renate Ashraf aus Koblenz schrieb:

Die Ausführungen und die Fallbeispiele von Frau Schlichte-Hiersemenzel finde ich bezeichnend und überzeugend. Ihre Forderungen sind absolut berechtigt.

Die beiden grundlegenden Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sind zum einen das der Selbstentfaltung und zum anderen das der Zugehörigkeit. Bei Hochbegabten ist das Bedürfnis nach intellektueller Entfaltung natürlich besonders stark ausgeprägt. In Kindergarten und Schule wird diesem Bedürfnis kaum entgegen gekommen, da sich das Personal eher an der Mehrheit, an Kindern mit durchschnittlicher Intelligenz orientiert. Auch fehlt den Lehrkräften die nötige Ausbildung für den Umgang mit Hochbegabten. Darüber hinaus macht sich das hoch begabte Kind mit seiner intellektuellen Überlegenheit und seinem Wissensdurst bei Erziehern, Lehrern und Mitschülern unbeliebt. Es wird häufig als „Streber“ bezeichnet und als Außenseiter abgestempelt. Dies wiederum beeinträchtigt sein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Es möchte ganz „normal“ zu einer Gruppe dazugehören und würde (wie jedes andere Kind) erst als gleichberechtigtes und geachtetes Gruppenmitglied die Lebenssicherheit finden, die es mit seiner noch ungefestigten Persönlichkeit braucht.

Wie man in dem Text von Frau Hiersemenzel sehr nachvollziehbar sehen kann, stehen die beiden fundamentalen Bedürfnisse des hoch begabten Kindes, das Sichentfaltenwollen und das Dazugehörenwollen, in einem Konflikt miteinander, der auf den ersten Blick unlösbar erscheint. Diesen Konflikt finde ich so tragisch, denn egal für was sich der jeweilige Mensch entscheidet, hat es negative Konsequenzen für ihn. Wählt das hoch begabte Kind die Selbstentfaltung, bedeutet es den Verzicht auf Zugehörigkeit und umgekehrt. Das hoch begabte Kind ahnt, dass es sich entscheiden muss. Da die soziale Akzeptanz meist wichtiger ist als der intellektuelle Zugewinn, schraubt es häufig die Selbstentfaltung weitgehend zurück. Das hat dann gravierende Folgen: Es machen sich Resignation und Schulunlust breit, Selbstwertgefühl und Lebensfreude sind deutlich herabgesetzt, depressive Verstimmungen treten auf und psychosomatische Beschwerden sind möglich („Deformation der Persönlichkeit“). Damit zahlt das hoch begabte Kind oft einen hohen Preis für den Gewinn des Zugehörigkeitsgefühls.

Die einsetzende Resignation ist besonders bedauerlich in der Kindergartenzeit, weil sie so prägend ist, und in der späten Latenzzeit, in der normalerweise Lernfreude und Leistungsbereitschaft eines Schülers am größten sind (5./6. Klasse). Für mich ist dieser Umstand eigentlich der Grund, warum ich diese Fortbildung mache. Ich möchte diesen Konflikt meinen Kollegen (und vielen anderen Pädagogen auch) verdeutlichen und erklären. Wenn man ihn einmal verstanden hat, wird man ganz anders auf diese Kinder zugehen.

*******

Und Bettina Ulrich aus Düsseldorf schrieb:

Hoch begabte Kinder erleben nach Eintritt in den Kindergarten, dass sie anders sind, anders denken, anders sprechen, anders spielen (wollen) als die Gleichaltrigen. Falls dieses Anderssein zu (Selbst-) Isolation oder Ausgrenzung, möglicherweise auch zu Abwertung ihrer Person führt (was zum Glück nicht immer eintritt), leiden sie in der Kindergartengruppe unter dieser Situation. Die Situation stellt eine Krise dar, die sie allein nur schwer überwinden können – und wenn, dann dauert es oft sehr lange….

Hier setzen Bemühungen der Erzieherinnen an, das Kind in einen besseren Kontakt zu den anderen Kindern der Gruppe zu bringen. Wenn die Erzieherin einen guten „Draht“ zu dem Kind hat, wünscht sich das Kind natürlich zuallererst die Erzieherin als Spiel- und Gesprächsgefährtin, quasi als Ersatz für die Kinder, mit denen die Kommunikation nicht gut funktioniert.

Erzieherinnen, die Einsicht in die Not des Kindes haben, gehen auf diese Wünsche ein, soweit es ihre Zeit erlaubt…

Alles was Jacob (Name geändert) (4;5 Jahre) baut, hat mit seinen Geschichten zu tun, die er zuhause grade hört (>Tabaluga<, >Jim Knopf<, >Räuber Hotzenplotz<). Darüber berichtet er mir sehr ausführlich und detailliert, und ich muss sehen, dass ich auch genügend Zeit für ihn habe. Spricht er mich nebenbei an, läuft er mir hinterher und redet ununterbrochen, ob ich zuhöre oder nicht. …

 Etwas später: Zu den Kindern hatte er wenig Kontakt… Ihm sind jetzt soziale Kontakte sehr wichtig geworden, und er möchte auf jeden Fall dazugehören…

Jetzt erlebt Jacob also eine Phase des Kampfes um Freundschaft und um das Dazugehören. Er ist erfolgreich, und das ist gut für sein Selbstwertgefühl und seine soziale Entwicklung. Zu befürchten ist, dass sich über kurz oder lang in ihm der Zwiespalt auftun wird, der darin besteht, dass Jacob immer stärker bewusst wird, dass er seine Interessen und seine geistigen Ansprüche mit den gewonnenen Freunden und Spielgefährten zu wenig teilen kann.

Oder dass seine sozialen Kontakte sogar die Entfaltung seiner Interessen auf irritierende Weise behindern oder verhindern. Dann könnte die nächste Krise folgen, in der er Hilfe braucht…

Wenn hoch begabte Kinder andere Kinder entdecken, von denen sie fasziniert sind (diese Kinder sind häufig ebenfalls besonders begabt), dann können mit großer Energie und Beharrlichkeit um diese Kinder werben. Hoch begabte Kinder, die auch eine gute soziale Begabung haben, schaffen es manchmal alleine, eine solche Freundschaft zu schließen. Andere brauchen Hilfe, sind unter Umständen auch gar nicht in der Lage, ähnlich begabte und interessierte Kinder im Kindergarten zu erkennen, geschweige denn, den Kontakt herzustellen.

Jacob schaffte es, einen älteren Jungen der Gruppe zu seinem Freund zu machen.

**********

 

Datum der Veröffentlichung: März 2021
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.

 

VG Wort Zählmarke