von Hanna Vock

 

 

Hier sind einige bemerkenswerte Beispiele zusammengetragen, aus denen ersichtlich wird, was junge Kinder so alles denken.

1.

Ein Junge (2;9) erlebt mit, wie die Mutter bemerkt, dass ihr Rucksack gestohlen wurde. Sie ist aufgebracht und erklärt ihm, dass ein gemeiner Mensch den Rucksack einfach weg genommen hat und dass das Klauen ist. Sie erklärt ihm, was alles in dem Rucksack drin war und dass sie die Sachen vermisst.

Nach kurzer Zeit sagt der Junge: „Wenn wir einen Mann mit einem Rucksack sehen, dann nehmen wir den auch weg.“ Die Mutter antwortet, dass sie das nicht machen werden, weil sie ja keine Diebe sind, die anderen einfach etwas wegnehmen. Der Junge denkt wieder nach und äußert einen neuen Gedanken: „Aber wenn wir den Mann sehen, der unseren Rucksack hat, dann nehmen wir den dem weg.“

Am nächsten Tag fragt er: „Ist der Rucksack wieder da?“

2.

Anna (Name geändert), grade vier Jahre alt geworden, hört, wie ein achtjähriges Hortkind sagt: „Ich will aber immer leben. Ich will nie sterben.“ – Anna sagt dazu: „Aber dann sind doch wir alle tot, alle deine Freunde, und dann bist du ganz alleine.“

Das Hortkind: „Ist doch egal, dann bin ich eben alleine.“ – Anna: „Aber das ist ungerecht, wenn wir alle sterben müssen und du nicht.“

Hortkind: „Alle können immer weiter leben.“ – Anna: „Aber so viele Häuser gibt es doch gar nicht … und nicht so viel zu essen.“

3.

Ein kognitiv und sprachlich hoch begabtes Kind fällt durch eine frühe exzellente Sprachbeherrschung auf. Mit seiner Sprachkompetenz drückt es komplexe Gedanken aus. Ein Beispiel:

Evelin überraschte mich im Alter von 3;5 Jahren im Kindergarten mit einer Äußerung, die für Dreijährige sehr ungewöhnlich ist. Ich hatte Evelin und drei anderen dreijährigen Kindern das Märchen “Hänsel und Gretel” vorgelesen. Evelin kannte das Märchen vorher nicht, was ihre Mutter auf Nachfrage auch bestätigte. Evelins Äußerung nach dem Ende des Märchens: „Aber warum gehen denn die Kinder zu dem Vater zurück, da gibt es doch nichts zu essen. Die könnten doch in dem Hexenhaus bleiben, die Hexe ist doch tot. …Der Vater war doch böse.“

Evelin zeigt mit dieser Äußerung nicht nur, dass sie den Inhalt des Märchens auf Anhieb erfasst hat. Sie beweist auch eine für Dreijährige erstaunliche, unabhängige und flexible Denkfähigkeit. Sie kann sich von der Geschichte lösen und macht sich eigene Gedanken dazu, die im Widerspruch zur Aussage der Geschichte stehen.

In ihrer Äußerung ist auch bereits ein Konzept erkennbar, das Kindern unabhängige und selbstständige Entscheidungen zutraut: Hänsel und Gretel sollen nicht das traditionell Nächstliegende (schnell zurück nach Hause zu den Eltern), sondern das unkonventionelle, aber logisch Nächstliegende tun, nämlich da bleiben, wo es etwas zu essen gibt und kein böser Erwachsener sein Unwesen treibt.

Evelin bewertet die Handlungsweise des Vaters ganz klar als böse. Auf meine Nachfrage „Wieso ist denn der Vater böse?“ antwortet sie: “Weil er seine Kinder im Wald allein gelassen hat. Er hätte ja auch sagen können zu der Mutter: Nein, das machen wir nicht.“

Evelins Sprachkompetenz reicht nicht nur aus, um das Märchen voll zu erfassen, sondern auch um ihre eigenen Gedanken präzise auszudrücken.

Zum Vergleich:

Die anderen dreijährigen (kognitiv und sprachlich normal entwickelten) Kinder beantworteten folgende Fragen:

Erzieherin: “Was für ein Tier hat denn die Hexe?”

Kind 1: “Eine Katze.” / Kind 2: “Und Vögel.”

Erzieherin: “Was machen denn die Vögel?”

Kind 2: “Die sind bei der Hexe.”

Erzieherin: “Und fressen die auch was?”

Kind 2: “Nein. Doch! Die essen Würmer.”

Erzieherin fragt Kind 3: “Was meinst du: fressen die Vögel in der Geschichte auch noch was anderes?”

Kind 3: “Ja.”

Erzieherin: “Was ist das denn, was die fressen?”

Kind 3: “Weiß ich nicht.”

Evelin:
“Die picken die Brotkrumen auf und deshalb können die Kinder den Weg nicht finden. Weil die Brotkrumen nicht mehr da sind. Die haben die Vögel aufgegessen.”

Kindergartenkinder können auch in anderen Entwicklungsbereichen völlig von den gewohnten Altersnormen abweichen, zum Beispiel im logisch-mathematischen Bereich:

4.

Die Situation:

Am Fenster des Gruppenraumes hängt der Adventskalender. Für jedes Kind ist eine Tüte daran geknüpft. Jeden Tag darf ein anderes Kind seine Tüte abschneiden und auspacken.
Wer dran kommt, entscheidet am Vortag das Los: In einer Dose ist für jedes Kind ein Kärtchen mit dem Bild, das auch seinen Garderobenhaken kennzeichnet. Jeden Tag zieht ein Kind aus dieser Dose ein Kärtchen, ohne hinzusehen. Das Kind, dessen Kärtchen gezogen wird, kommt am nächsten Tag dran und darf sich dann seine Tüte holen.

Daniel (3;5) und Leo (3;6) erleben diese jährliche Prozedur zum ersten Mal. Leo ist ein ganz normal entwickeltes und gut gefördertes Kind, Daniel ist hoch begabt, mit einer Vorliebe für Mengen, Zahlen und logische Zusammenhänge, was sich im Kindergartenalltag später immer wieder bemerkbar macht. Wenn ich nun frage: „Na, wer ist denn heute dran?“, wissen die älteren Kinder Bescheid und rufen den Namen. Daniel bleibt dann ruhig und gelassen, Leo ist jedes Mal tief enttäuscht und fragt mich immer wieder: „Warum nimmst du mich nicht dran?“

Eines Tages bitte ich die beiden Jungen, noch kurz da zu bleiben und stelle (vor der Auslosung für den nächsten Tag) zuerst Leo die Frage: „Na, Leo, glaubst du, dass du morgen dran kommst?” Leo (strahlend): „Jaaa!“ Nachfrage: „Warum glaubst du das?“ Leo: „Weil ich das haben will.“

Daniel antwortet auf dieselbe Frage: „Kann sein, kann auch nicht sein.“ Und auf die Nachfrage: „Wie meinst du das?“ Daniel: „Na, wenn ich nachher gezogen werde, komme ich dran, und wenn nicht, dann nicht. …Vielleicht komme ich aber auch erst als Allerletzter dran.“

Leo zeigt eine völlig alterstypische Reaktion: Sein Denken ist von seinem starken Wunsch beherrscht, endlich dran zu kommen. An jedem Tag ist er aufs Neue gespannt und erwartungsfroh und dann wieder enttäuscht und zunehmend böse auf mich als Erzieherin. Er fordert von mir, dass ich ihn dran nehmen soll, sodass ich schließlich schummele, um Leo und seine Beziehung zu mir zu entlasten. Die ältesten Kinder lächeln dazu nachsichtig und verständnisvoll.

Das Prinzip des Zufalls versteht Leo noch nicht. Er versteht auch nicht die Erklärungsversuche der älteren Kinder, fühlt sich aber durch ihre Zuwendung teilweise getröstet. Er ist ebenfalls geistig aktiv und versucht sich das Geschehen zu erklären. Da ihm aber das Zufallsprinzip als Erklärungsmuster nicht zur Verfügung steht und er auch noch keinen klaren Überblick über die Zeitbezüge zwischen den Begriffen “gestern”, “heute” und “morgen” hat, kann er sich die Tatsache, dass er jetzt wieder nicht dran kommt, nur so erklären, dass irgendwer willkürlich und grade jetzt sein Drankommen verhindert hat. Naheliegenderweise wird die Erzieherin als die mächtigste anwesende Person dafür verantwortlich gemacht.

Daniel durchschaut das System dagegen klar. Auch er zeigt (in den nächsten Tagen) immer wieder Enttäuschung, äußert sie aber anders: “Schon wieder Pech!” / “O nein, kann denn nicht mal wer mein Bild ziehen?”

5.

Beispiel von der Erzieherin und Kita-Leiterin Beate Kroeger-Müller:

Eine Mutter, die im Kindergarten Elterndienst macht, fragt ein vierjähriges Kind: „Worüber machst du dir gerade Gedanken?“ Das Kind  schweigt. Ein Vorschuljunge (5;6) beobachtet die Situation und fragt den Vierjährigen: „Weißt du eigentlich, was Gedanken heißt?“ Der Gefragte verneint.

Ich wiederhole die Frage an die acht Kinder die mit mir am Tisch sitzen und nähen. „Was sind denn Gedanken?“  Während der Web- und Näharbeiten entsteht eine wohlige Unruhe innerhalb der Kleingruppe. Sofort werden die Assoziationen, die mit diesem Wort in Verbindung gebracht werden, geäußert. Und in weniger als drei Minuten entstand dieses kleine Gespräch.

Junge (5;6): „Gedanken sind Ideen in meinem Kopf.“

Mädchen (6;3): „Gedanken sind Hoffnungen in mir drinnen.“

Mädchen (5;8): „Gedanken können auch Träume sein!“

Junge (6;1): „Gedanken sind, wenn man sich Sorgen macht.“

Junge (5;9): „Gedanken sind immer da und gehen wieder.“

Junge: (5;3): „Gedanken sind immer da – wenn man nachdenkt – sonst nicht.“

Junge (5;4) Jahre: „Gedanken bestehen aus 8 Buchstaben. Erst das G dann das E und D und A und N und K und E und zum Schluss ein N. Also Gedanken sind einfach im Gehirn drinnen.“

Junge (5;8): „Gedanken sind die Ideen in meinem Kopf, die für mich eigentlich ganz normal sind, denn sie sind immer da, auch wenn ich träume. Ich bin der Meinung, ohne Gedanken zu haben, kann man nicht leben.“

Der Vorschuljunge, der den Gedankenaustausch angestoßen hat, stellt am Ende befriedigt fest: „So viele Antworten und alle sind richtig, das gefällt mir an dem Wort am besten.“
Jeder wendet sich wieder seiner Handarbeit zu und tut so, als wäre nichts gewesen.

Wie ich finde: Nette Erklärungen von sechs Vorschulkindern und zwei mittelalten – und nur drei hoch begabte darunter. Welche wohl?

Diese und noch mehr Beispiele finden Sie in:

Komplexe Gedankengänge

Originelle, ungewöhnliche Gedanken

Schnelles Erkennen von Gesetzmäßigkeiten

Großes Interesse an Systematik, an logischen Gedankengängen

Divergentes Denken

 

 

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