von Martina Böckling

 

Dieser Beitrag ist der erste Teil eines vierteiligen Praxisberichts. Alle vier Teile zusammen beschreiben die Förderung der kleinen Jasmin, die zu Beginn des Berichts drei und am Ende vier Jahre alt ist.

Jasmin hatte auf Grund ihrer tunesischen Wurzeln die ganze Zeit über mit der deutschen Sprache zu kämpfen, fiel mir aber trotzdem sehr früh als besonders begabt auf.

Der erste Teil des Berichts, der hier folgt, beschreibt meine Beobachtungen zu Beginn des Förderprojekts.

Die weiteren Teile finden Sie hier:

Eine Dreijährige will schreiben

Jasmin (4;7) schreibt eine Geschichte

Drei kleine Mädchen sind die „Denkgruppe“

Siehe auch:
Hochbegabung ist kein Luxusproblem

 

Jasmin fiel mir kurz nach ihrem Eintritt in unsere Gruppe auf, weil sie eine hohe soziale Kompetenz zeigte, die mir für ihr Alter ungewöhnlich erschien.

Mit ihren jetzt 3;4 Jahren kümmert sie sich sehr viel um andere Kinder. Sie hilft ihnen, beobachtet sehr genau, bekommt sehr viel vom Gruppengeschehen mit, greift bei Streitigkeiten ein und kann sich viele Dinge merken, bei denen selbst wir Erwachsenen Schwierigkeiten haben.
Jasmin weiß zum Beispiel grundsätzlich, welche Brotdose zu welchem Kind gehört. Wir Erwachsenen können es uns nicht merken, da die Kinder ständig wechselnde Brotdosen dabei haben, teilweise sind es auch noch ähnlich aussehende, und an manchen Tagen haben die Kinder auch Brottüten vom Bäcker dabei.
Wenn eine Brotdose nicht zugeordnet werden kann, brauchen wir nur Jasmin zu fragen.

Jasmin bekommt mit, wenn ein Kind Hilfe braucht, und hilft dann sofort, selbst wenn sie selber beschäftigt ist.

Sie hat hohe Ansprüche an ihre „Werke“, egal ob sie malt oder bastelt. Sie arbeitet sehr genau und exakt, sie ist nicht immer mit dem Ergebnis zufrieden, dann schmeißt sie diese „Werke“ in den Müll.

Sehr häufig wendet sich Jasmin den älteren Kindern zu; sie beobachtet sie und sobald sich eine Gelegenheit bietet, nimmt sie den Kontakt auf. Sie holt sich Hilfe bei den größeren, aber bietet auch ihre Hilfe an, wenn sie meint, dass sie es besser kann oder weiß. Jasmin hört sehr gerne gerade den größeren Jungen zu und zeigt darin eine große Geduld.

Tischspiele spielt sie am liebsten alleine oder mit einem Erwachsenen. Spielt sie mit Gleichaltrigen, dann fällt auf, dass sie das Spiel dominiert.

Sie lässt sich von den anderen Kindern nichts gefallen und setzt sich durch.
Wenn Jasmin bemerkt, dass ein Kind geärgert oder gezankt wird, kommt sie sofort zu uns und gibt uns Bescheid. Sollten wir sie nicht verstehen, dann zieht sie uns zu den entsprechenden Kindern und möchte die Situation mit unserer Hilfe geklärt haben.

Um herauszufinden, ob Jasmin eine überdurchschnittliche Begabung aufweist, habe ich mir die Hinweise auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung durchgelesen und auch den „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“ ausgefüllt.

Durch intensives Beobachten in der Gruppe beim Turnen und im Außengelände ist mir nach Ausfüllen des „Entwicklungsbegleiters“ aufgefallen, dass Jasmin in dem Bereich der „sozialen Kompetenzen“ sehr weit entwickelt ist. Von einigen Ausnahmen abgesehen, liegt ihr Sozialverhalten im Bereich „5 ½ Jahre bis Einschulung“.

Ihre Feinmotorik liegt bei ca. 4 ½ Jahren und auch die Grobmotorik ist weit fortgeschritten.
Einzig in der Sprache ist sie noch nicht so weit entwickelt, was daran liegt, dass Jasmin kein Wort Deutsch konnte, als sie mit 2;8 in die Einrichtung kam, und sie es erst lernen musste. Sie redet sehr viel, sehr schnell und ist manchmal nicht zu verstehen.
Ihre kognitive Entwicklung, laut Entwicklungsbogen, ist teilweise schwierig zu beurteilen. Jasmin ist auf jeden Fall altersgemäß entwickelt, bei vielen Punkten ist jedoch das Problem, dass sie die Aufgabe nicht versteht, und das kann auch an den fehlenden Deutschkenntnissen liegen.

Erste Hinweise auf eine besondere Begabung

Ich habe Jasmin sehr viel beobachtet, um herauszufinden, wo ihre Fähigkeiten und Begabungen liegen.
Dabei habe ich einige Entsprechungen im Beobachtungsbogen nach Joelle Huser gefunden:

Zu A 1.)
Allgemeiner Entwicklungsvorsprung, großes Interesse an Buchstaben und Zahlen:

1.
Jasmin hat wie alle anderen Kinder mitbekommen, dass in unserer Einrichtung immer wieder so genannte Rundlaufzettel unterwegs sind, die wir durchlesen und unterschreiben, um sie dann weiter zu reichen.
Eines Morgens nimmt sie zwei Zettel, malt etwas darauf, kommt zu mir und erklärt, sie müsse die Zettel wegbringen.

Auf meine Frage: “Wohin denn?“ antwortet Jasmin: “Zu Agnes“ (das ist die Leiterin unserer Einrichtung). Später fand ich den einen Zettel auf dem Schreibtisch im Büro, den anderen in der Küche auf der Anrichte.

Als sie zurück kommt, holt sie sich einen Schuhkarton, schneidet kleine Stücke ab und malt darauf wieder dieselben Zeichen. Auf meine Frage, was sie denn mache, erklärt sie mir, dass sie alles aufschreiben müsse. Danach läuft sie wieder ins Büro, legt dort einen Zettel ab, malt neue, bringt diese in die Küche, schneidet neue aus. Das Ganze zieht sich über eine Stunde hin.

2.
Auf einem Schrank im Flur liegen Matschhosen und dabei ein Zettel, auf dem steht:“Wem gehören diese Sachen?“
Jasmin bleibt an diesem Schrank stehen, nimmt den Zettel, murmelt vor sich hin und fragt mich: “Was steht da?“ Ich lese es ihr vor, sie wiederholt es.

3.
Alle Kinder und Erzieherinnen sitzen im Morgenkreis. Während wir Erzieher unsere Liedermappen mit den Liedtexten zu Hilfe nehmen, sehe ich, dass Jasmin sich mit einem selbst gemalten und geschriebenen Zettel hinsetzt und auch während des Singens immer wieder draufschaut.

Zu A 2.)
Schnelle Auffassungsgabe und Neugierde:

1.
Ich sitze mit einem anderen Kind am Tisch und spiele mit ihm das Zuordnungsspiel „Flocards.“ Spielebeschreibung siehe hier: Interessante Spiele.
Jasmin kommt zu uns und möchte auch daran arbeiten. Als das Kind fertig ist, setzt sich Jasmin auf dessen Platz.
Ich erkläre Jasmin, wie das Spiel geht, und sie legt zwei Teile richtig hin. Nebenbei hört sie zu, worüber sich die anderen Kinder unterhalten, die neben ihr stehen. Sie kommentiert die Äußerungen der Kinder und legt wieder zwei Teile richtig hin. Dann steht sie auf, geht zur Fensterbank, betrachtet die Lupen, die dort liegen, kommt zurück, legt wieder Teile auf die richtige Stelle.

Dieses Spiel spielt Jasmin zum ersten Mal und ich habe es auch mit anderen Kindern im ähnlichen Alter gespielt, sie haben das Spiel nicht verstanden.

Seit wir vor Monaten den Kölner Zoo besucht haben, zeigt uns Jasmin in Büchern die Tiere, die wir gesehen haben. Sie kann sie benennen, hat sich auch Einzelheiten gemerkt, die sie uns sagen kann.

2.
Bei unserem Projekt “Reise um die Welt“ erfahren die Kinder viel über das Land, aus dem sie oder ihre Eltern kommen. Jasmin hört interessiert zu, an diesem Tag geht es um die Türkei. Sie sagt: „Alle kommen andere Länder. Berkay und Umut in Türkei. Ich Tunesien.“

Zu A 3.)
Orientierung an älteren Kindern und Erwachsenen:

1.
Meistens sucht sich Jasmin zum Spielen von Tischspielen Erwachsene aus. Sehr selten spielt sie mit Gleichaltrigen, zwischendurch mal mit Älteren und häufig spielt sie auch alleine.

2.
Melisa, ein Vorschulkind, möchte mit den anderen Vorschulkindern ein Arbeitsblatt bearbeiten. Die anwesenden Vorschulkinder legen los.
Auch Jasmin will ein Arbeitsblatt haben, ich gebe ihr eins, das noch übrig ist, und beobachte, was passiert. Es ist ein Blatt mit verschiedenen Formen: Kreis, Dreieck, Viereck, die ausgeschnitten werden sollen.

Jasmin setzt sich an den Basteltisch und schneidet ein Teil aus, geht zu den Großen und sieht ihnen zu.
Sie kommt zurück, schneidet im Stehen weiter und sagt: “So!“ Sie legt Teile vor sich hin, geht wieder zu den Großen, beobachtet diese, kommt zurück, schneidet und stampft mit den Füßen auf. Sie ist mit dem Ergebnis anscheinend nicht zufrieden, zerknüddelt zwei Teile und wirft sie in den Mülleimer.

Danach schneidet sie noch ein Teil aus, gibt es mir und meint, sie käme auch bald in die Schule.

Kommentar der Kursleitung (im IHVO-Zertifikatskurs):
Es sieht so aus, als habe sie sich mit den älteren Kindern verglichen und festgestellt, dass sie das auch alles kann, was diese Kinder tun. Ihre Schlussfolgerung, auch bald in die Schule zu kommen, ist logisch.

3.
Die angehenden Schulkinder gehen mit mir in den Wahrnehmungsraum, Jasmin möchte auch mit, sie sagt: “Ich auch groß, bald Schule gehen.“

4.
Ich setze mich mit dem Beobachtungsordner an einen Tisch, um etwas zu notieren, sofort kommt Jasmin mit Zettel und Stift, setzt sich dazu und fängt an zu „schreiben“. Als ich sie anschaue, lächelt sie mir zu und sagt: “Ich auch schreiben“.

Zu A 4.)
Verblüffende Gedächtnisfähigkeit:

1.
Jasmin spielt mit einer Praktikantin das Spiel: “Cha memo“, dies ist ein Bildersuchspiel. Man deckt Karten auf und muss zu einem abgebildeten Gegenstand eine Karte mit einem farblich passenden Chamäleon finden.

Obwohl Jasmin sich immer wieder ablenken lässt, sich immer wieder umschaut und hört, was im Gruppenraum passiert und es auch kommentiert, schafft sie es, dieses Spiel zu gewinnen.

Kommentar der Kursleitung:
Offenbar war sie noch nicht an ihrer Leistungsobergrenze angekommen; denn sie machte keine Fehler und musste sich dafür nicht voll konzentrieren. Wäre es richtig schwierig für sie geworden, hätte sie vermutlich ihre Aufmerksamkeit stärker auf das Spiel gerichtet.

2.
Wir sitzen in der Bauecke, wollen einen Morgenkreis beginnen, als eine Kollegin dort eine so genannte Zippertüte findet. Keiner von uns drei Erwachsenen weiß, woher die Tüte stammt. Ich sage zur Kollegin: “Wirf sie weg.“ Jasmin sagt sehr energisch: “Nein, Tüte“. Sie läuft zum Spielzeugschrank, sucht ein Spiel heraus und sagt: “Guck!“, nimmt die Tüte und räumt die Spielsteine hinein. Dann packt sie das Spiel weg.

Zu A 5.)
Lange Aufmerksamkeitsdauer und starke Eigenmotivation:

Wenn Jasmin sich für etwas interessiert, hat sie eine lange Aufmerksamkeitsdauer und möchte diese Aufgabe so gut wie möglich absolvieren. Beispiel: Herstellen einer Weltkugel.
Die Kinder stellen aus Pappmaché eine Weltkugel her und bemalen sie blau. Danach werden die Kontinente grün aufgemalt. Zum Schluss stellen wir noch ein ausgeschnittenes Männchen auf die Kugel, bevor sie aufgehängt wird. Diese Arbeit zieht sich über drei Tage hin.

Jasmin arbeitet sehr sorgfältig, dadurch arbeitet sie länger und ausgiebiger an der Kugel als alle anderen Kinder, die mitgemacht haben.
Nichtsdestotrotz bekommt sie alles mit, was sich im Gruppenraum abspielt und während sie arbeitet, gibt sie ihre Kommentare dazu.

Zu A 6.)
Kritische Einstellung zur eigenen Leistung – hohe Ansprüche an sich selbst.

1.
Jasmin beurteilt ihre Werke sehr kritisch.Wenn ihr etwas nicht gefällt, versucht sie es zu verbessern oder sie wirft die Sachen weg.
Beispiel: Jasmin malt ein Mandala aus; dann schaut sie sich an, wie Melisa und Kaynat ihr Mandala angemalt haben (beides sind angehende Schulkinder), nimmt ihr Mandala und wirft es in den Müll.

2.
In der Turngruppe von Jasmin sind die jüngeren Kinder. Alle beschäftigen sich mit Bällen. Jasmin merkt nach kurzer Zeit, dass sie werfen, aber nicht fangen kann.
Als die Praktikantin ihr den Ball zuwirft, dreht sie sich weg und sagt: „Nein, nicht so.“ Dann wirft sie den Ball und sagt: “So, will ich.“

3.
Beim Mittagessen merkt sie, dass sie das Fleisch nicht schneiden kann, sie probiert es kurz, dann gibt sie es auf und lässt das Fleisch liegen.

Zu E 1.)
Besonders gute Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit:

1.
Wir sind im Außengelände, Jasmin kommt mit der Kapuze einer Jacke angelaufen und ruft nach mir. Ich frage sie, wem die Kapuze gehört, und sie sagt: “Umut“. Dann läuft sie mit der Kapuze in der Hand über das gesamte Außengelände und sucht den Jungen.

2.
Maxim, ein neues Kind, weiß nicht, wo er seine Brotdose hinlegen soll. Jasmin bekommt es mit, nimmt ihn an die Hand, zieht ihn zum Regal, auf dem die Brotdosen stehen und sagt: “Maxim, hier.“ Als er kurze Zeit später frühstücken möchte – Jasmin frühstückt selber gerade – steht sie auf und holt ihm seine Brotdose.

3.
Jasmin sitzt am Tisch und knetet. Am Frühstückstisch hat ein Kind seinen Teller nicht weggeräumt. Ich frage: “Wer hat zuletzt gefrühstückt?“ Jasmin antwortet: „Cansu“.

4.
Ein paar drei- und vierjährige Kinder sitzen am Maltisch. Denise klebt Knöpfe auf ein Blatt. Dabei verteilt sie sehr, sehr viel Kleber über ihr Blatt, die Knöpfe halten nicht. Jasmin sieht es, geht zum Regal mit den Bastelutensilien, schneidet ein Stück Papier ab, geht zu Denise hin und legt das Papierstück auf den vielen Kleber. Dann zieht sie es wieder ab und sagt: “So“ und geht sichtlich zufrieden zu ihrem Platz zurück.

5.
Amanda sitzt blass auf einem Stuhl, Jasmin sieht sie an, geht zu ihr und fragt: “Amanda, krank?“ Amanda nickt und zeigt auf ihren Kopf. Jasmin kommt zu mir und sagt: “Martina, Amanda krank, Kopfschmerzen.“

Zu E 2.)
Hohe Fähigkeit zur sozialen Anpassung:

Auffallend ist, dass Jasmin, sobald sie mit gleichaltrigen Kindern der Gruppe zusammen ist, manchmal ihr Licht unter den Scheffel stellt.

1.
Amanda fordert Hilfe bei ihrem Puzzle, Jasmin puzzelt auch und sagt: „Ich kann auch nicht“, obwohl sie dieses Puzzle schon oft gemacht hat.

2.
Sameer hat Schwierigkeiten, ein Spiel einzuräumen, Jasmin schafft es nun auch nicht, ihr Spiel einzuräumen, und fordert auch Hilfe.

Zu E 4.)
Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn – hohe Sensibilität:

1.
Sameer wird ausgeschimpft, weil er nicht in der Bauecke aufgeräumt hat. Nun kommt Jasmin empört zu meiner Kollegin und schimpft ihrerseits: „Sameer muss nicht aufräumen, Berkant muss.“ Sie hatte mitbekommen, dass Berkant die Sachen ausgeräumt hatte.

2.
Bei Lisa läuft die Nase, sie merkt es nicht. Jasmin holt ihr ein Taschentuch und gibt es ihr.

3.
Die fünfjährigen Jungen geraten in Streit, wer in die Turnhalle gehen darf. Berkay wird von den anderen ausgeschlossen, er fängt an zu weinen. Die dreijährige Jasmin geht zu ihnen hin und sagt: „Berkay darf Turnhalle, Berkay weint.“

4.
Jasmin wird von einer Kollegin ausgeschimpft, weil sie in der Puppenecke gespielt hat, diese aber nicht aufgeräumt ist. Jasmin fängt an zu weinen. Es stellt sich heraus, dass Jasmin sehr viel alleine aufgeräumt hat, während die anderen Kinder zuschauten. Sie hat den Rest für die Anderen übrig gelassen.
Ich könnte gerade zu den letzten Punkten (E) noch sehr viel mehr Beispiele bringen, muss es aber aus Platzgründen einschränken.

Ich will über Jasmin noch mehr herausfinden

Jasmin ist vor 11 Monaten zu uns in die Einrichtung gekommen, zu diesem Zeitpunkt konnte sie kein Wort Deutsch sprechen, sie musste es erst lernen. Sie hat sehr schnell Deutschkenntnisse erworben, kann sich in der Gruppe zurechtfinden und mit den Kindern und uns Erzieherinnen auseinandersetzen.

Sehr häufig benutzt sie noch Zweiwort-Sätze. Wenn wir Erzieherinnen genau nachfragen, weil wir sie nicht verstehen, kann es vorkommen, dass sie nicht mehr weiterredet und verunsichert wirkt.

Mir ist aufgefallen, dass Jasmin sich mit Begriffen gut auskennt, sich jedoch weigert, in ganzen Sätzen zu reden, oft redet sie in Satzbruchstücken.

Ich möchte herausfinden, ob Jasmin sich nicht traut vor den anderen zu sprechen, ob sie es nicht kann oder ob sie ihre Fähigkeiten nicht nutzt.

Dazu wollte ich versuchen, mit ihr in ein längeres Gespräch zu kommen. Am Tag zuvor hatte ich den Dreijährigen eine Bilderbuchgeschichte von „Bobo Siebenschläfer“ vorgelesen, dies ist eine Bildgeschichte mit sehr wenigen und einfachen Texten aus dem Lebensbereich der Kinder; die Kinder erzählten, was sie auf den Bildern sahen.

Da Jasmin gerne mal was mit mir alleine macht, habe ich vor, mit ihr in den Nebenraum zu gehen und mit ihr nochmal in aller Ruhe und ohne dass sie vom Geschehen der Gruppe abgelenkt wird, über die Geschichte zu reden.
Jasmin bekommt soviel mit, was um sie herum passiert, dass ich mir erhoffe, dass sie im Nebenraum sehr viel mehr erzählen wird, wenn nur wir beiden uns die Geschichte nochmal anschauen.

Im Nebenraum nimmt Jasmin das Buch und blättert. Ich frage sie, ob sie sich noch an die Geschichte erinnern kann und sie murmelt etwas vor sich hin, was ich nicht verstehen kann. Als ich nochmals nachfrage, sagt sie: “Mädchen sing.“

Ich versuche sie nochmals zum Gespräch zu motivieren, doch als sie sich ans Fenster stellt und anfängt zu singen, ist mir klar, dass sie kein Interesse hat, über die Geschichte zu reden.

Sie setzt sich wieder, ergreift das Buch, blättert und sagt: “Bobo fallenlassen“ (sie meint einen Becher Kakao, den Bobo fallengelassen hat) blättert noch ein wenig in dem Buch herum. Ich wiederhole ihre Aussage, sie lächelt mich an.
Nun zeigt sie mir die Seite mit der Information über den Autor und meint: “Lies vor“.

Ich lese ein wenig über den Autor vor, Jasmin nimmt sich meinen Block und den Kugelschreiber und fängt an zu malen.
Ich frage: “Was machst du“? Ihre Antwort lautet: “Schreiben“
„Ich schreiben: alle Kinder da“. Sie malt Zeichen und sagt: „Berin da, Berkay da, Yusuf da, Amanda da.“ Sie zählt die Namen aller Kinder auf, die da sind.
Sie malt weiter und sagt dann: “Sameer bester Freund, Denise bester Freund, Amanda auch.“
Dann zählt sie „1, 3, 5, 7“ und sagt: “Alle Kinder da.“

Ich zeige auf ein Zeichen und frage: „Wie heißt das?“ Prompt antwortet sie: „Amanda“. Ich zeige auf ein weiteres und sie nennt den Namen: „Sameer“. Dann zeigt sie mir, wo „Martina“ steht.
Nun will sie, dass ich auch schreibe. Ich schreibe ein paar Namen auf und Jasmin sieht mich an, lächelt und sagt: „Gut.“

Auswertung und Interpretation der Beobachtungen

Jasmin hatte weder Interesse, über die Geschichte zu reden, noch eine neue zu hören.
Sie entschied, dass sie etwas anderes machen möchte, und hat mir gezeigt, dass sie sehr genau wahrnimmt, welche Kinder in der Gruppe anwesend sind, und dass sie dies gerne aufschreiben möchte.
Mein Ziel, zu erfahren, ob Jasmin auch in ganzen Sätzen reden kann, habe ich nicht erreicht, dafür hat sie mir wieder mal gezeigt, wie gut ihre Beobachtungsfähigkeit ist und dass sie ein großes Interesse am Schreiben hat.

Durch die Beobachtungen habe ich festgestellt, dass Jasmin hohe Ansprüche an sich selber hat.

Alle Dinge, die sie ihrer Meinung nach noch nicht hinreichend bewältigen kann, vermeidet sie.
Jasmin beherrscht die deutsche Sprache nicht so, dass sie mit mir über die Geschichte reden konnte, so hat sie schnell abgelenkt und zu dem gegriffen, wo sie sich sicher sein konnte, dass sie es bewältigen kann.
Dafür, dass sie erst seit wenigen Monaten deutsch lernt, kann sie es schon gut, ich vermute, dass sie aber wahrnimmt, wie gut die anderen Kinder deutsch reden.
Ich denke, dass die gesamte Situation etwas unglücklich war. Jasmin hatte zwar viel Freude, mit mir alleine in den Nebenraum zu gehen, aber sie wollte nicht über die Geschichte reden. Sie lenkte ab, und als ich darauf einging, zeigte sie mir ihre Beobachtungsfähigkeit. Sie zählte alle anwesenden Kinder auf, ohne dass sie diese sehen konnte, und schrieb die Namen auf.

„Schreiben“ macht Jasmin sehr viel Freude, sie ist das einzige Kind in unserer Gruppe, das den Versuch unternimmt die Namen der Kinder zu schreiben. Man muss bedenken, sie ist erst 3;4 Jahre alt.
Gleichzeitig wurde mir deutlich: Was Jasmin nicht möchte, das macht sie nicht. Ich habe dieses Verhalten im Umgang mit der Mutter erlebt, im Kindergarten hat sie es bis jetzt noch nicht gezeigt.

Kommentar Kursleitung:
Vielleicht hat Jasmin auch „den Braten gerochen“ und fühlte sich auf die Probe gestellt gefühlt. Eine alternative Strategie hätte sein können, einen Gesprächsfaden zu vertiefen, den sie ihrerseits aufnimmt. Auf jeden Fall zeigt sich eine starke Neigung zur Selbstbestimmung.

Weiterer Verlauf

Einen Tag später habe ich mit ihr und Amanda das Spiel „Ratzolino“ gespielt.
Hierbei liegen kleine Holzgegenstände auf dem Tisch, wie Auto, Möhre, Eichhörnchen etc., also auch nicht ganz so gewöhnliche Begriffe – und Jasmin konnte sie alle benennen. Ich erzählte eine kleine Geschichte, in der die Gegenstände vorkamen. Jasmin und Amanda sollten sich die Gegenstände schnell nehmen, sobald sie genannt wurden.
Von den 17 Teilen hat Jasmin sich 14 geschnappt.
Das hatte ich nicht erwartet, Jasmin kennt viel mehr Begriffe, als sie uns im Alltag zeigt. Ich vermute, dass wir sie häufig unterschätzen und auch unterfordern.
Bei den nächsten Angeboten werde ich das berücksichtigen.

Ein überraschendes Erlebnis hatte ich drei Tage später. Ich setzte mich auf unser Sofa in der Leseecke. Sofort kam Jasmin, schnappte sich das Buch “Regenbogenfisch“ und setzte sich dazu.
Sie zeigte mir die erste Seite und sagte: “Regenbogenfisch, viele Schuppen.“ Auf mehreren Seiten zeigte und sagte sie mir, was sie sah.

Dies war das erste Mal, dass sich Jasmin ein Bilderbuch genommen und darüber gesprochen hat. Vielleicht hat doch meine Bildgeschichte dazu beigetragen.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass wir mit Jasmin noch einige Überraschungen erleben werden, und darauf freue ich mich.

 

Datum der Veröffentlichung: Februar 2015
Copyright © Martina Böckling, siehe Impressum