von Margrit Bernsmann und Sabine Handke

 

(Die Autorinnen arbeiteten zur Zeit ihres IHVO-Zertifikatskurses als Leiterin und Stellvertretende Leiterin in einem Kinderhaus in Köln.)

In unserer Arbeit orientieren wir uns an den Ideen Janusz Korczaks.

Janusz Korczak (1878 bis 1942) war ein polnischer Arzt, Kinderbuchautor und bedeutender Pädagoge. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Einsatz für Kinder und ihre Rechte.
Im Jahr 1942 wurden die Kinder seines Waisenhauses in ein nationalsozialistisches Vernichtungslager abtransportiert. Er begleitete die Kinder, obwohl er selbst nicht in den Transport gezwungen wurde und obwohl er wusste, dass das auch für ihn den Tod bedeutete.

 

…kurz gefasst…

Die vier Grundrechte des Kindes nach Janusz Korczak werden genannt, ihre konzeptionelle Umsetzung in der Kita erläutert, und es wird hinterfragt, was sie für die Hochbegabtenförderung bedeuten.

Die Autorinnen stellen dar, wie sie Offene Arbeit verstehen und welche Anforderungen diese Form der Arbeit an die Pädagoginnen in der Kita stellt.

Es wird beleuchtet, welche Vorteile sich für hoch begabte Kinder aus der Offenen Arbeit ergeben können.

In unserer Konzeption heißt es:

„Wie alle Menschen bewegen sich Kinder in dem Spannungsgeflecht zwischen Individuum und Gemeinschaft. Das Kinderhaus bietet einem Kind die Möglichkeit, sich selbst in einer Gemeinschaft mit anderen Kindern zu erleben. Jedes Kind bindet sich selbstständig in die Gemeinschaft des Kinderhauses sozial ein. Dabei wird es gemeinsam mit seinen Eltern durch das Team und die Gemeinschaft unterstützt.

Maßgeblich für die Einbindung ist, dass jedes Kind die von Janusz Korczak entwickelten Grundrechte erfährt, annimmt und umzusetzen lernt.“

Mit der Gewährleistung dieser Rechte wird der Grundstein dafür gelegt, hoch begabten Kindern eine hochwertige Betreuung zu bieten. Hoch begabte Kinder mit ihren Bedürfnissen und ihrem großen Wissensdurst brauchen eine ihrer Persönlichkeit entsprechende Umgebung und Menschen, die sie achten und verstehen.

Im Folgenden sind die vier Grundrechte nach Janusz Korczak aufgeführt und für den Kita-Alltag erläutert:

1. Das Recht des Kindes auf Achtung

Zitat aus der Kita-Konzeption:

„Ein Kind wird in seiner menschlichen Würde gesehen und so angenommen und geachtet, wie es ist. Die Funktion des erzieherischen Einwirkens durch das Team beschränkt sich deshalb darauf, dem Kind zu helfen, seinen eigenen Weg selbst zu finden und zu gehen. Dazu wird zu jedem einzelnen Kind unter Einbindung der Eltern ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und gepflegt, das als Basis für die eigenständige Entfaltung dient. Das Kind soll sich sicher und wahrgenommen fühlen.“

Für unsere hoch begabten Kinder heißt das:

  • Es wird ihnen zugehört und sie werden als gleichberechtigte Gesprächspartner ernst genommen.
  • Lösungen und/oder Erwachsenen-Meinungen werden nicht vorgegeben.
  • Ihre Bedürfnisse und Probleme werden ernst genommen. Die Kinder werden dabei unterstützt, ein positives Selbstbild zu entwickeln.

2. Das Recht des Kindes auf eigenständige Erfahrungen

Zitat aus der Konzeption:

„Das Kind hat die Möglichkeit, die Ziele seines Handelns selbst zu stecken und die Verantwortung für seine eigenen Entscheidungen zu übernehmen. Es kann sich in der Gemeinschaft des Kinderhauses frei bewegen und Lösungen selbst erarbeiten.

Dazu erhält es zunächst genügend Zeit und Freiraum, tatsächlich eine eigene Wahl zu treffen, und dann behutsame Unterstützung, sofern es dabei Hilfe braucht. Die professionelle Betreuung erfordert vom Team insoweit sensible Aufmerksamkeit und angemessene Zurückhaltung gegenüber der Entscheidungsfindung des Kindes, die möglichst ohne Werturteile von außen erfolgen soll.“

Für unsere hoch begabten Kinder heißt das:

  • Das Kind darf experimentieren, ausprobieren, tüfteln.
  • Es hat die Möglichkeit, eigene Ziele zu formulieren, zu entwickeln, zu erreichen und abzuschließen.
  • Es kann in Ruhe etwas beginnen und in Ruhe etwas beenden.
  • Eigene Projekte oder Arbeiten können über einen längeren Zeitraum bearbeitet werden.
  • Dem Kind stehen alle Materialien ohne Altersbeschränkung zur Verfügung, es wird nicht begrenzt in seinen Möglichkeiten.

3. Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist

Zitat aus der Konzeption:

„Dieses Recht gewährt dem Kind weitestgehende Freiheit in seiner Gefühlswelt und fordert, die Gefühle des Anderen zu beachten und zu akzeptieren. Das Kind darf alle seine Gefühle leben. In der Betreuung strebt das Team deshalb danach, die Gefühlslage jedes einzelnen Kindes zu erkennen und auf sie einzugehen.“

Für unsere hoch begabten Kinder heißt das:

  • Unsicherheiten, Ängste, Unterforderungen etc. darf ein Kind zum Ausdruck bringen.
  • Neue Ideen, Meinungen, divergentes Denken werden nicht abgelehnt, sondern herausgefordert und gefördert.
  • Das Kind darf sich seiner Fähigkeiten bewusst sein und wird als Teil unserer Gemeinschaft wert geschätzt.

4. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag

Zitat aus der Konzeption:

„Kinder erleben das Geschehen im Kinderhaus <hier und jetzt>. Der Bedeutung des Augenblicks kommt ein sehr hoher Stellenwert zu, weil dieses Recht sehr eng mit dem Recht auf Achtung verwoben ist. Das Team ist insoweit bemüht, auf die Kinder nach Möglichkeit zeitlich unmittelbar und damit situativ einzugehen.“

Für unsere hoch begabten Kinder heißt das:

  • Fragen und Bedürfnisse der Kinder werden wahrgenommen, die Ernsthaftigkeit des kindlichen Anliegens wird verbalisiert. Allenfalls in Ausnahmesituationen kann das Anliegen zurückgestellt und auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

Ein wunderbares Bilderbuch über die Arbeit und Persönlichkeit von Janusz Korczak ist:
Blumkas Tagebuch.

 

Offene Arbeit

In unserem Kinderhaus arbeiten wir offen, das heißt es gibt keine festen Gruppen und die Kinder bewegen sich im ganzen Kinderhaus.

Uns ist bewusst, dass Kinder mit Wahrnehmungsstörungen oder Defiziten – oder auch besonders sensible Kinder – sich in der offenen Arbeit leicht verlieren können.

Deshalb ist eine intensive Beobachtung jedes einzelnen Kindes durch das gesamte Team von hoher Bedeutung.

 

Warum arbeiten wir offen?

Kinder wachsen heute in einer Umgebung auf, die ihre elementaren Spiel- und Erfahrungsräume immer weiter eingrenzt.

Im Vergleich zu früher weichen die selbst bestimmten Aktivitäten der Kinder zunehmend einem verplanten Tagesablauf.

Der kindlichen Wissbegierde, der Unternehmungslust und der Spontaneität sind damit häufig enge Grenzen gesetzt.

Kinder benötigen mit zunehmendem Alter immer größer werdende Spielräume und Lernfelder zum Ausprobieren und Erfahrungen sammeln.

Sie müssen über Spiel und Bewegung verarbeiten können, was sie in ihrem Leben beeindruckt und beschäftigt.

Sie müssen Herausforderungen eingehen, Lebensmut und Initiative entwickeln können und Grenzen kennen lernen.

Kinder brauchen Erwachsene, die kindlichen Entwicklungskräften vertrauen, die sie im nötigen Maß anleiten und bei Bedarf Anregungen und Orientierung geben.

In einer annehmbaren und einfühlsamen Beziehung wächst ein Kind und ruht in sich selbst.

Kinder entwickeln sich weiter. Kinder wachsen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln an ihren Vorbildern und an ihrer Umgebung.

Sie sind wissensdurstig und voller Lebenskraft, die sich äußern will. Das Kind ist Akteur seiner Entwicklung.

 

Offenheit als Prinzip

Bin ich ein offener Mensch?

Diese Frage muss sich jeder stellen, der in einer Einrichtung mit offenem Konzept arbeitet, ebenso die Eltern und Kinder, die in einer offenen Einrichtung leben und mitwirken.

Offenheit ist nicht nur etwas Äußeres, sondern bedarf vor allem einer von innen kommenden Offenheit.

Offenes Arbeiten erfordert die Bereitschaft, im Erziehungsprozess vielfältig offen zu sein, sich aufzuschließen und in Beziehung zu treten.

Es werden Qualitäten gefordert, die jeden einzelnen pädagogischen Mitarbeiter, aber auch Eltern und Träger herausfordern.

Das bedeutet für die betreuenden Personen:

Eine Zunahme an professioneller und kritischer Distanz zur eigenen Wertevorstellung.

  • Gesteigerte und reflektierte Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber dem beobachtbaren und kontinuierlich wachsenden, natürlichen kindlichen Lern-, Forschungs- und Entdeckungsdrang.
  • Die Reduzierung des – wie auch immer pädagogisch begründeten – erzieherischen Interventionsverhaltens auf das jeweils individuell und behutsam zu balancierende Maß.
  • Weniger Lenkung und Beeinflussung kindlicher Lernbedürfnisse und Lerninteressen. Verzicht auf curricular aufbereitete und gruppen- oder einzelorientiert durchzusetzende und abzuarbeitende Lerninhalte oder Lernprogramme.
  • Stärkung von Empathiefähigkeit und Verhaltenssicherheit zugunsten kultivierter und regelmäßig reflektierter, auf Symmetrie und Dialog hin angelegter Gestaltung von Beziehungen.
  • Bewusste Unterstützung, Begleitung und Engagement beim Aufbau anregungsreicher Lernmilieus sowie stimulierender, lebensnaher Erfahrungs- und Erlebnisräume.
  • Ansprechbarkeit, Geduld, Freundlichkeit, Kontakt- und Begeisterungsfähigkeit, Vitalität, Neugier und Interessiertheit als persönliche Verhaltenskompetenzen.
  • Grundsätzliche Lern- und Innovationsbereitschaft sowie ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit.

Was bedeutet die Offene Arbeit für unsere hoch begabten Kinder?

Jedes Kind kann sein individuelles Spiel- und Lerntempo in hohem Maße selbst bestimmen. Es kann die möglichst große Altersmischung voll ausnutzen. So können sich hoch begabte Kinder ihrem Entwicklungsstand und ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechend zusammenschließen.

Hochbegabte suchen sich oft ältere Spiel- und Lernpartner, um sich selbst herauszufordern und gleichwertige Mitstreiter zu haben. Hierzu haben sie jederzeit die Möglichkeit.

Sie verfügen über ein sehr hohes Lerntempo. Die erhöhte Aufmerksamkeit und Ansprechbarkeit der Erwachsenen, die mit der Offenen Arbeit einhergehen muss, hilft ihnen ihr Lerntempo zu verwirklichen.

Ihre Bezugspersonen können die Kinder individuell wählen. Hierbei spielen das Wissen und Können der betreuenden Personen eine wichtige Rolle. Sympathie ist dabei nicht unwichtig, aber gerade für hoch begabte Kinder oft nur sekundär von Bedeutung.

Die Erwachsenen begleiten und unterstützen den Entwicklungsprozess, aber keinesfalls bestimmen sie ihn oder lenken das Kind von seinen eigentlichen Interessen weg. Dies kommt hoch begabten Kindern und ihrem frühen Drang nach Selbstbestimmung auch im Lernen sehr entgegen.

Das Kinderhaus ist somit eine Bildungs- und kindgemäße Forschungseinrichtung, in der es spannend ist und in der Kinder gerne auf Entdeckungsreise gehen.

Damit sind für die hoch begabten Kinder positive Gruppenerfahrungen sowohl in altershomogenen als auch in altersgemischten Gruppen möglich: „Es bringt mich weiter, etwas mit den anderen Kindern zu unternehmen!“

Hoch begabte Kinder haben einen extrem hohen Anspruch an die Ergebnisse ihres Tuns, also an die eigene Leistung.

 

Auch deshalb sind Maßnahmen zur Individualisierung unbedingt im Sinne jedes einzelnen Kindes einzuleiten.

Dazu bedienen wir uns der Methode des Enrichments, das heißt, wir reichern das Spiel- und Lerngeschehen an, um es besser an die Lern- und Entwicklungsbedürfnisse der hoch begabten Kinder anzupassen.

Schematische Tagesabläufe lassen den hoch begabten Kindern zu wenig Raum für Individualität. Gerade sie benötigen genügend Zeit und die Möglichkeit, in geistiger Bewegung zu sein. Darüber hinaus müssen wir ihnen Zeit lassen zum Nachdenken, denn auch dies ist eine Form von Aktivität.

 

Wir haben ein Kinderparlament

Um die Grundrechte aller Kinder, und die der hoch begabten im Besonderen, zu wahren, erachten wir es für überaus wichtig, dass sich alle im Erlernen von demokratischen Verhaltensweisen üben.

Dies geschieht mit Hilfe eines Kinderparlaments. Hier hat jedes Kind die Möglichkeit, seine Meinung zu äußern, Vorschläge zu unterbreiten, Kritik zu äußern und vieles mehr. Das Forum Kinderparlament bietet die Chance, sich für wichtige Belange einzusetzen und stark zu machen. Hier verschaffen sich Kinder Gehör. (Siehe: Pia Fidler, So machen wir´s im Kinderparlament im Kindergarten. In: Kindergarten heute Nr. 28 (1998), S. 36 )

Wir müssen Kindern helfen, Vertrauen in ihre eigene Lernkompetenz und Leistungsfähigkeit zu fassen. Sie müssen geistig und körperlich aktiv sein können, ohne die Angst, Fehler zu machen.

Es ist wichtig, dass sie ihre Kreativität ausleben können ohne Vorgaben von Erziehern, nach dem Motto von Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun!“

Hoch begabte Kinder müssen die Möglichkeit erhalten, selbstbewusst und geschlechtsunabhängig zu agieren. Geschlechtstypische Selbstbewertungsstile sind möglicherweise durch die jeweiligen geschlechtstypischen Erfahrungen und Verhaltensweisen beeinflusst. Wir wollen den Kindern helfen, auch andere Erfahrungen zu machen, abseits von Geschlechterklischees.

 

Datum der Veröffentlichung: Oktober 2012
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