von Hanna Vock

 

Frau Becker war mit Leib und Seele Musiklehrerin. Außerdem hatte sie als Klassenlehrerin eine 3. Klasse mit 28 Kindern zu unterrichten, und zwar in allem außer Mathe und Sport. Ihre Klasse war leistungsmäßig eine ganz durchschnittliche Klasse.

Nach einem Jahr Proben führte sie mit ihren Schülerinnen und Schülern fünfmal die Oper „Pollicino“ im Großen Konzertsaal der Hochschule für Musik und Theater Hannover auf. Und alle Kinder erreichten das Klassenziel der 3. und 4. Klasse, niemand musste die Klasse wiederholen.

Wie hat Frau Becker das gemacht?

1.
Sie begeisterte die Kinder für die spannende Geschichte der Oper: Sie ist eine Mischung aus den Märchen „Hänsel und Gretel“ und „Der Däumling“, und es kommt auch ein Menschenfresser vor.

2.
Die Musik von Hans Werner Henze (1926 – 2012) ist so modern, dass schätzungsweise höchstens 1 Prozent aller Zuhörer mit Sicherheit sagen konnten, ob gerade dieser Ton jetzt von dem singenden Kind getroffen wurde oder nicht. Das nahm den Kindern viel Druck, hinderte sie aber nicht am unerhört fleißigen Üben.
Meine Tochter, die eine Menschenfressertochter „gab“, sang Partien (nicht nur ihre eigenen) aus der Oper auch häufig zuhause. Oft stutzte sie dann plötzlich: „O ich habe mich versungen.“ Eltern: „Das haben wir nicht gemerkt.“ Tochter: „Die anderen Eltern merken das auch nicht, aber Frau Becker merkt das.“ Und bis zu den Aufführungen konnten die Kinder die schwierigen Partien wirklich richtig singen.

3.
Frau Becker überzeugte ihre Schulleiterin, sich an dem Projekt zu beteiligen und die verhalten reagierenden Schulbehörden dafür anzuwärmen. Die Initiative zu dem Projekt war von einem Professor der Musikhochschule ausgegangen, das Opernhaus übernahm dann die Produktion. Mitgewirkt haben drei Gymnasien (je eines war verantwortlich für die Kulissen / die Tiere des Waldes / das Orchester), zwei Grundschulen (Bewegungschor / Brüder und Schwestern) und das Hannoversche Opernhaus (Regie, Dramaturgie, Dirigent, sechs Opernsänger, die die Erwachsenenrollen übernahmen).

4.
Es gab einen großen Spannungsbogen, der sich von den ersten Singproben in der Klasse über die Besichtigung der Opernhausbühne, über das Kennenlernen der erwachsenen Mitwirkenden (und ihrer Stimmen und ihrer Instrumente), über Kostümproben und Schminkproben bis hin zur Generalprobe und zu den Aufführungen hinzog.

5.
Sie übertrug ihre eigene Begeisterung für die Musik und für das Projekt auf die Kinder.

6.
– und das war für den Erfolg meiner Ansicht nach mitentscheidend: Frau Becker agierte pädagogisch sehr selbstbewusst, erfahren und souverän. Das will ich näher beleuchten.

Das bisschen Lesen und Schreiben schaffen wir auch noch!

Als es dann mit den Proben losging, erhielten die Kinder einen abgewandelten Stundenplan. Er war ungewöhnlich. Täglich war die erste oder letzte Schulstunde den Proben vorbehalten, je nachdem wann Frau Becker Unterricht in dieser Klasse hatte. Dort stand dann nur ein großes A oder B.

Die Klasse war in zwei Besetzungen (A und B) aufgeteilt. Beide waren gleichwertig und führten die Oper später auch auf. In jeder Besetzung gab es, entsprechend den Anforderungen der Oper, sechs Brüder des Titelhelden Pollicino und sieben Menschenfressertöchter. (Zu ihrer Enttäuschung bekamen die Menschenfressertöchter kein Kostüm, sondern sollten ihr „schönstes Nachthemd“ mitbringen.)

Die Aufteilung in die beiden Besetzungen hatte auch den Vorteil, dass kaum einmal ein Kind eine Probe versäumte, es konnte ja notfalls bei der anderen Besetzung mitproben. Und so wurde auch der große Frust vermieden, der sich ergeben hätte, wenn ein Kind wegen Krankheit bei der Aufführung nicht hätte dabei sein können. Einmal wenigstens war jedes Kind dabei.

Für den Stundenplan bedeutete die Doppelbesetzung: Wenn ein A im Stundenplan stand, musste die Besetzung A da sein, die andere (B) hatte frei – und umgekehrt.

Gegen Ende des Schuljahres, als die Aufführungstermine heran rückten, erweiterte Frau Becker die Proben, es gab jetzt zusätzlich wöchentlich zwei Nachmittage, an denen im Opernhaus geprobt wurde.

Aber schon ganz am Anfang gab es Unruhe in der Elternschaft: Die Kinder würden zu viel Unterricht versäumen und das Klassenziel nicht schaffen. Das waren die Sorgen der Eltern.

Beim Elternabend trat Frau Becker sehr sicher auf. Sie schilderte den Eltern, wie begeistert die Kinder schon bei der Sache waren, erläuterte, welchen Lernwert das Projekt Kinderoper hatte und dass die Kinder einen großen Motivationsschub erlebten, auch die „anderen Sachen“ (den Deutsch- und Sachunterricht) zu bewältigen. Die Durchführung der Proben war an den Lernfortschritt der Kinder gekoppelt, an ihre Aufmerksamkeit und Aktivität im Rest-Unterricht und die verlässliche Bearbeitung der Hausaufgaben. Den Kindern war das klar.

Es klappte! Und ich habe noch heute den von Frau Becker souverän vorgetragenen Satz im Ohr:

„Das bisschen Lesen und Schreiben machen wir noch nebenbei.“

Manchmal kommt mir dabei eine Analogie in den Sinn: Das „bisschen“ Hausarbeit (mit dem viele nicht berufstätige Frauen sich ausgelastet fühlen), das macht die berufstätige Frau und Mutter „noch so nebenbei“.

Ein Kind war von sich aus entschieden, nicht mitzumachen, drei anderen Kindern verboten die Eltern das Mitmachen. Je weiter das Schuljahr voran kam, desto ruhiger wurden die Eltern der beteiligten Kinder. Die klügeren bemerkten, dass in den Opernproben auch ganz viel Deutsch-Unterricht untergebracht war: Die Kinder mussten den Text immer wieder erlesen, die Handlung wurde immer wieder von verschiedenen Seiten beleuchtet und diskutiert – und es war auch viel für das Gedächtnis der Kinder getan – manche Kinder lernten den Text komplett auswendig. Ganz zu schweigen vom Zuwachs an Ausdauer und Disziplin!

Und der Sachunterricht hatte eben nicht etwas Beliebiges zum Thema (wie etwa >Die Wasserspülung<, >Unsere Frühlingsblumen< oder >Regen – Eis – Schnee<), sondern das Funktionieren eines Theaters und die Musikinstrumente.

So wirkte sich das „Fehlen“ von einigen Wochenstunden auf den Lernerfolg der Kinder absolut nicht negativ aus.

Die Aufführungen wurden ein voller Erfolg. Sie waren immer ausverkauft, es gab frenetischen Applaus. Die Kinder fanden sich in der Presse wieder und rissen sich um Autogramme der von ihnen bewunderten erwachsenen Mitwirkenden. Der „Menschenfresser“ war übrigens ein feiner Typ und bat auch die Kinder um Autogramme. Als er gefragt wurde, warum er das tue, sagte er:

„Das ist kein Gag. Die Kinder haben eine riesige Leistung erbracht. Hochachtung!“

Wegen des großen Erfolges gab es später, als die Kinder schon auf den weiterführenden Schulen waren, noch eine Wiederaufnahme mit mehreren Aufführungen.

 

Datum der Veröffentlichung: Juni 2012.
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum .

 

 

VG Wort Zählmarke