von Birgit Walk

 

Jonathan besucht unsere Kita seit etwa eineinhalb Jahren. Im ersten Jahr fielen sein großes Interesse an Zahlen und sein großer Wortschatz auf. Auch im Elternhaus war bereits vor dem dritten Geburtstag aufgefallen, dass Jonathan sich ausnehmend gerne mit Mengen und Zahlen beschäftigte. Er sortierte zum Beispiel seine Spielsachen gerne nach Merkmalen, wie Farbe oder anderen bestimmten Eigenschaften.

In der Kita verhielt sich Jonathan zu Anfang sehr zurückhaltend, die Trennung von der Mutter fiel ihm schwer.

Jonathan ist der mittlere von insgesamt drei Brüdern. Positiv war in der ersten Zeit, dass sein um zwei Jahre älterer Bruder ebenfalls noch für ein Jahr die gleiche Gruppe besuchte. Anton, sein Freund seit Spielgruppentagen, kam ebenfalls zu uns in die Gruppe.

Jonathan hielt sich sehr gerne in der Peergroup seines Bruders auf und interessierte sich bereits zu dieser Zeit für die Themen der Vorschulkinder.

Bald wurde deutlich, dass Jonathans Leistungsmotivation für Fragen und Aufgaben im Bereich des mathematisch-logischen Denkens die seines Bruders übertraf. Seine rasche Auffassungsgabe und Vorstellungskraft für mathematische Prozesse zeigten sich so deutlich, dass ich nun gezielt beobachtet habe. So wurde ich Zeuge, dass er zum Beispiel bei einem Spiel mit zwei Zahlenwürfeln nicht mehr zählen musste, sondern mit einem Blick beide Zahlen addierte.

Ich habe ihn immer wieder mit einem anderen jüngeren Kind der Gruppe in die Themen der Vorschulkinder mit einbezogen. Jonathans Bruder, aus unserer Sicht ein alters-üblich entwickelter Junge, lernte im Vergleich zu ihm in einer wesentlich ausgedehnteren Zeitschiene mit gleichen Ergebnissen. Beiden Kindern gerecht zu werden, erforderte sensibles Vorgehen.

Das zweite Kindergartenjahr, mit der Einschulung seines Bruders verbunden, forderte Jonathan heraus, da er sich innerhalb der Kita neu orientieren musste. Zunächst schien es, als schaffe Jonathan die Veränderung gut, doch vorher insgesamt schon zurückhaltend, wurde Jonathan nun zeitweilig noch stiller. Zu dieser Zeit fehlte sein Freund Anton häufig durch Krankheit.

Ab November klagte Jonathan manchmal über Bauchschmerzen. Der Austausch mit dem Elternhaus über die Befindlichkeit von Jonathan war sehr intensiv. Viele Faktoren, die eine mögliche Erklärung für Jonathans zeitweiligen Rückzug hätten sein können, wurden bedacht (Einschulung des Bruders, neuer Status in der Gruppe, Fehlen von Anton).

Erst im Januar stellte ich in einem Gespräch mit dem Vater „Langeweile“ in den Raum. Jonathan hatte die Zeit über Weihnachten und die anschließenden Ferien sehr genossen und kam nicht gerne wieder in die Kita.

Nur wenige Tage später bestätigte Jonathan in einem Gespräch mit seiner Mutter meine Vermutung. Er habe keinen Spaß mehr im Kindergarten, er habe schon alles gespielt. Die Mutter schildert, dass er auch immer bei den Hausaufgaben seines Bruders mitmachen möchte.

Heute geht es Jonathan wieder gut in der Kita. Ich habe viel mit ihm gesprochen, und es gab viele neue Impulse für ihn.

Mittlerweile gelingt es Jonathan recht gut, seine Interessen zu formulieren. Sein Interesse hat sich neben mathematisch-logischen Prozessen auch aufs Lesen ausgedehnt. Er hat verinnerlicht, wie Lesen funktioniert, und nutzt fast alle Möglichkeiten, sich Schriftsprache zu erschließen.

Im folgenden möchte ich einige aktuelle gezielte Beobachtungen darstellen:

1. Das Spiel „Auf Zack“

Jonathan spielt mit Jerome, einem Vorschulkind (6;8 Jahre), das Spiel „Auf Zack“. Die Beiden sind zunächst sehr konzentriert im Dialog über die Regeln des Spiels.

Jonathan deckt zwei Karten auf, registriert mit Blicken, dass es ein Pärchen ist, addiert die Einzeldarstellungen und legt blitzschnell die Hand auf den richtigen Zahlenchip. Auf diese Weise bildet er dreimal hintereinander Pärchen.

Er entscheidet jedes Mal nur mit Augenkontakt über das Mengenverhältnis innerhalb eines Pärchens, erzielt dabei immer das richtige Ergebnis, oft schneller als Jeome.

Nach einiger Zeit spielt er immer noch sehr konzentriert, liegt nun vorne, gewinnt souverän, zeigt in Mimik und Gestik Freude und packt das Spiel zusammen mit Jerome zufrieden ein.

Auswertung der Beobachtung

Es wird deutlich, mit welchem Eifer er spielt, wie ihn die auf den Karten zu zählenden Dinge fesseln. Seine Zählfreude spiegelte sich während des gesamten Spielverlaufs wieder.

Er spielt mit seinem fast zwei Jahre älteren Partner auf Augenhöhe.

Der Spielverlauf war schnell. Zu keinem Zeitpunkt gab es eine Ablenkbarkeit, und ich hatte den Eindruck, Jonathan wusste sehr gut, dass er aufgrund seiner Fähigkeiten voraussichtlich gewinnt.

2. Die Katze landet auf dem Bauch

Jonathan sitzt mit allen Kindern im Kreis. Zu einem Projektthema wird ein neues Fingerspiel vorgestellt.

Jonathan wirkt mäßig aufmerksam, registriert aber wohl alles genau. Als zum Schluss die Frage gestellt wird, warum die Katze auf dem Bauch landet, antwortet Jonathan sofort:

„Weil sie versucht zu fliegen und die Beine wie Flügel ausgebreitet hat. Dadurch landet sie automatisch auf dem Bauch. Eigentlich hätte sie vorher wissen müssen, dass sie nicht fliegen kann.“

Jonathan musste keinen Augenblick überlegen, ehe er antwortete. Sprachlich sehr präzise hat er den Sachverhalt erklärt und Realität und Phantasie durchschaut.

3. Spinnen, Trichternetz und anderes

Während des Projektes „Können Hexen wirklich zaubern?“ haben sich zwei Beobachtungen ergeben, die aufeinander aufbauen.

Jonathan sieht eine Spinne mit sechs Beinen, die von einem Kind gebastelt wurde, und sagt: „Spinnen haben in Echt immer acht Beine. Ich habe ein Buch zu Hause über alle Spinnen, die hier vorkommen.“

Meine Frage, ob er das Buch einmal mitbringen kann, bejaht er eifrig.

Am nächsten Morgen findet Jonathan beim Ankommen im Kindergarten ein großes präpariertes Spinnennetz vor dem Eingangsbereich vor. Alle Erwachsenen müssen sich bücken, um in die Kita zu gelangen. Er hat sein Buch dabei und freut sich sichtlich über das von mir mit dicker Wolle gefertigte Netz und sagt, in dem er mehrmals den Blickwinkel wechselt:

„Wenn ich von hier gucke, sieht es fast aus wie ein Trichternetz.“

Ich war sehr beeindruckt von seinem Fachwissen und fragte nach: „Welche Spinnen weben denn ein Trichternetz?“ Jonathan lacht und sagt:

„Das ist doch klar – eine Trichterspinne. Ich kann dir eins zeigen.“

Nachdem er sich von seiner Mutter verabschiedet hat, sucht er in seinem Buch, bis er ein Trichternetz gefunden hat. Andere Kinder werden schnell aufmerksam und Jonathan ist unser „Lehrer“ in Sachen Spinne. Er ist während der ganzen Zeit sehr gelöst und sein Sprachverhalten ist sehr lebendig und ausdrucksstark.

Anmerkung der Kursleitung:
Schön, dass er als Fachmann sein Wissen weitergeben konnte. Das hat ihn sicher gestärkt. Wird er von den anderen Kindern mit seinem Fachwissen, geschätzt?

Jonathan besitzt bei vielen Themen und Sachgebieten ein fundiertes Wissen. Ich war sehr erstaunt, wie groß sein Wissen rund um Spinnen ist, zumal er sich noch nie vorher dazu geäußert hatte.

Auch über Dinosaurier, Vulkane und das Weltall weiß er unglaublich viel.

Gerade fällt mir wieder ein Gespräch über Planeten ein. Er wusste schon mit knapp vier Jahren, wie viele Planeten zu unserem Sonnensystem gehören und dass sie bestimmten Umlaufbahnen folgen.

Die Familie ist sehr belesen und nimmt sich viel Zeit, auch in die Bücherei zu gehen.

4. Muffins backen für einen Kindergeburtstag

Jonathan wird vom Geburtstagskind ausgewählt, beim Backen von Muffins zu helfen. Er kann Zahlen im Hunderterbereich sicher lesen, und so trägt er die einzelnen Zutaten aus dem Rezept vor und markiert die jeweils zu wiegende Grammzahl auf der Küchenwaage mit einem abwaschbaren Stift. (Die Zahlen sind jeweils in Hundertgrammschritten aufgeführt, die Grammzahlen sind jeweils in 20-Grammzahlen durch kleine Striche gekennzeichnet).

Jonathan versucht neben dem Lesen der gesuchten Grammzahl auch aus eigenem Impuls die betreffende Zutat zu erlesen. Beim Wort „Mehl“ wird sichtbar, dass Ansätze zur Worterkennung vorhanden sind.

Er überwacht kritisch das genaue Wiegen.
Später stellt er die richtige Backtemperatur am Backofen ein.

Als der fertige Teig in die Muffinform gefüllt wird, höre ich, wie er Paul (5 Jahre alt) erklärt:

„Guck mal, wie viele Reihen wir mit drei Muffins vollmachen können.“

Paul überlegt und zählt dann vier Reihen.

Jonathan folgert:

„Also haben wir 3 + 3 + 3 + 3.“

Die Reihen hat er jeweils durch einen Fingerzeig „markiert“. Auf meine Frage: „Wie viele Muffins können wir gleichzeitig backen?“, sagt Jonathan:

„12“ und Paul kommt durch Nachzählen auf die gleiche Zahl. Beide Kinder sind stolz auf ihr Ergebnis.

Jonathan ist hier die innere Motivation am Umgang mit Mengen, dem damit verbundenen Schriftbild der Zahlen und am Wiegen ins Gesicht geschrieben. Seine Aufmerksamkeit war während des gesamten Angebotes hoch.

5. Tangrams

Jonathan holt sich aus dem Nikitin-Material die Tangrams. Er experimentiert mit dem Material und legt kreative Formen aus den einzelnen Gruppen.

Nach einer Weile gebe ich ihm den Impuls, nach Vorlage zu arbeiten. Anfangs bereitet ihm die räumliche Zuordnung etwas Schwierigkeiten. Ich lasse ihn ausprobieren und frage ihn etwas später, ob er Hilfe braucht, oder ob er es alleine schaffen möchte. Jonathan möchte alleine arbeiten.

Mit Konzentration und guter Körperspannung gelingt die erste Formation. Man kann sehen, dass der Funke überspringt und sogleich holt er sich die nächste Gruppe und hört nicht auf, bis er jedes Tangram einmal gelegt hat. Zwischendurch genügt ihm meine Aufmerksamkeit, dass er immer schneller zum richtigen Ergebnis kommt.

Aus dem experimentellen Spiel gestaltet sich rasch ein ergebnisorientiertes Legen der vorgegebenen Formen. Jonathan zeigt Neugier am Material und ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen.

6. Recheneier

Einige Kinder lösen vor Ostern ein „Rechen-Ei“. Das Ei besteht aus einem Muster in Feldern. In jedem Feld sind Rechenaufgaben im Zahlenraum bis 10 – sowohl Plus- als auch Minusaufgaben. Jede Ergebniszahl ist mit einer bestimmten Farbe belegt.

Jonathan ist sehr interessiert, setzt sich zu den Kindern und möchte ebenfalls eine Vorlage. Konzentriert löst er zuerst alle Plus-Aufgaben und malt das Feld mit den richtigen Farben aus.
Er ist im Gespräch mit Maik, der im Sommer zur Schule gehen wird und ebenfalls schon gut im Zahlenrum bis 20 rechnet. Maik misst sich gerne mit Jonathan und reagiert nach einer Weile recht ungehalten. „Wieso kann Jonathan schon schneller rechnen als ich, obwohl er erst fünf ist?“, fragt er mich.

Jonathan lächelt in sich hinein, sagt aber nichts. Ich frage Maik, ob er mit sich und so wie er rechnet nicht zufrieden ist. „Doch“, sagt er, „aber wie kann Jonathan sooo schnell rechnen?“
Ich antworte, dass es im Moment wohl so ist und dass Jonathan so leicht falle, bestärke Maik aber, bei sich zu bleiben und nicht so zu vergleichen. Ich sage ihm, dass es wichtig ist, den Spaß am Zählen und Rechnen zu behalten, und dass ich sehen kann, wie gut auch er rechnet.

Jonathan hat die ganze Zeit aufmerksam zugehört, nickt kurz und sagt dann zu Maik: „Und ich sehe es auch!“

Anmerkung der Kursleitung:
Tolle Leistung im zwischenmenschlichen Bereich! Wie viele Erwachsene können das wohl anderen Menschen sagen?

Hier zeigt er eine hohe inter- und intrapersonalen Intelligenz: Er schätzt seine eigene Leistung realistisch ein, er registriert Gespräche aufmerksam und er beobachtet und würdigt sehr wohl auch die Leistung Anderer.

Siebte Beobachtung

In regelmäßigen Abständen stellen wir den Kindern auch themenzentriert Gedichte vor, versehen sie mit einem textbezogenen Symbol und schreiben sie in großen Druckbuchstaben auf.

In unserer Gruppe steht ein Baum, den wir zum Gedichtbaum umfunktioniert haben.
In Blattform sind dort bereits die verschiedensten Gedichte zu finden. Bei Bedarf kann ein Kind sich ein Gedicht holen und lesen oder sich vorlesen lassen.

Vor Ostern sucht Jonathan eifrig im Baum, und auf meine Frage, ob ich helfen kann, fragt er: „Weißt du noch den Auszählvers mit den sieben Hasen?“ Ich bejahe, darauf sagt er: „Ich auch, aber jetzt will ich ihn mal lesen!“

Er setzt sich dann damit hin und geht Wort für Wort durch. Er ist eine ganze Weile beschäftigt. Ich weiß allerdings nicht, was er erlesen hat. Er will nicht darüber reden.

Achte Beobachtung

Jonathan arbeitet gerne mit Lük-Material, vorwiegend mit Zuordnungen von Zahlen und Rechenoperationen im Wissensbereich des ersten Schuljahres. Seine Konzentration ist so hoch, dass er sehr unwillig reagiert, wenn er abgelenkt wird, und er bestimmt das Ende der Beschäftigung erst nach geraumer Zeit.

Jonathan beschäftigt sich immer wieder mit dem Lük-Material, betont aber häufig: „Such mir was aus, aber nicht so leicht wie beim letzten Mal!“

Neunte Beobachtung

Ein Kind findet ein 2-Cent-Stück im Kita-Flur und ist total stolz.

Jonathan kommt dazu und bemerkt lediglich: „Dafür kannst du dir heute nichts mehr kaufen!“

Mir war noch nicht bewusst, dass Jonathan eine so genaue Vorstellung der Kaufkraft einzelner Münzen hat.

 

Datum der Veröffentlichung: Dezember 2017
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