von Ayla Altın

 

Pablo (3;9) beschäftigt sich noch immer hauptsächlich mit Zahlen, sein Interesse gilt zur Zeit ganz besonders dem Abmessen. In der Gruppe versucht er zu schätzen, wie groß die Möbelstücke sein könnten. Dabei nannte er ganz unrealistische Zahlen, da er noch keine Vorstellung von Zentimetern und Metern hatte.
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Vor ein paar Tagen habe ich Pablo beobachtet, wie er zusammen mit ein paar anderen Kindern eine lange Straße aus Holzklötzen baute, dabei schätzte er die Länge der Straße auf 100 Meter. Er versuchte den Kindern zu erklären, wie lang die Straße ist und sagte: „Ich glaube, die Straße ist 100 Meter lang.“

Diese Beobachtungen waren für mich der Anlass, mit Pablo ein Projekt im Bereich Bauen und Konstruieren zum Thema „Abmessen“ durchzuführen. Da wir bei uns (in unserem „Integrativen Schwerpunktkindergarten für Hochbegabtenförderung“) gruppenübergreifend arbeiten, kam auch aus jeder Gruppe noch ein Kind hinzu, das wie Pablo großes Interesse am Abmessen und Bauen hat.

Folgende Kinder haben teilgenommen:
Pablo, 3;9 Jahre ( mein Beobachtungskind )
Maya, 4;9 Jahre
Onur, 5;5 Jahre
Selin, 4;8 Jahre
Pablo ist in dieser Gruppe zwar mit Abstand das jüngste Kind, aber durch sein mathematisches Interesse kann er mit den älteren Kindern sehr gut mitarbeiten.

Tag 1

Wir versammelten uns im Werkraum, weil es dort viele Messinstrumente gibt und wir dort auch die nötige Ruhe hatten. In der Reggio-Pädagogik, an der wir uns orientieren, ist der Raum der Dritte Erzieher. Unser Werkraum ist so gestaltet, dass er viele Impulse setzt und zum selbstständigen Arbeiten anregt.
Ich legte verschiedene Messinstrumente (Lineal, Geodreieck und einen Zollstock) auf den Tisch und fragte die Kinder, ob sie diese kennen. Die Kinder kannten namentlich nur das Lineal, wussten aber, dass die anderen Instrumente auch zum Abmessen waren.
Sie sahen sie sich genau an, die besondere Aufmerksamkeit galt dem Zollstock.

Selin sagte: „Das kann man so raus ziehen und dann abmessen“. Pablo: „Ja genau, da sind Meter drauf.“ Alle Kinder brachten mit dem Abmessen den Begriff Meter in Verbindung.

Wir schauten uns gemeinsam die Zahlen an. Ich wollte erst einmal sicher stellen, ob auch alle Kinder die Zahlen von 1 bis 10 kennen. Für die Kinder war es kein Problem, die 10er Reihe bis 100 zu erkennen. Dies bedeutet nicht, dass sie von 1 bis 100 zählen können. Sie erkennen die 10er Reihe. Wie weit jeder Einzelne tatsächlich zählen und Zahlen erkennen kann, wird sich während des Projektes zeigen.

Ich fand es wichtig, dass die Kinder verstehen, dass es auch eine kleinere Einheit gibt, nämlich Zentimeter. Damit sie überhaupt verstehen, wie sie richtig abmessen können.
Ich fragte die Kinder, ob sie schon einmal was abgemessen haben. Pablo sagte: „Ich habe eine Stütze vom Tisch zu Hause gemessen.“ Daraufhin schauten wir uns gemeinsam das Lineal an. Ich fragte: „Wie können wir damit messen?“

Selin sagte: „Da sind Zahlen und Striche darauf, damit kann man das abmessen.“ Ich erklärte ihnen, dass vor dem Meter der Zentimeter kommt und dass die Zahlen, die auf dem Lineal sind, Zentimeter sind und das erst 100 Zentimeter 1 Meter ergeben. Diese Aussage konnte ich ganz gut mit dem Zollstock demonstrieren. Die Kinder verstanden ganz schnell und wollten sofort mit dem Lineal einiges mit der Einheit Zentimeter abmessen.

Sie gaben sich abwechselnd das Lineal und nahmen an verschiedenen Gegenständen Maß. Onur versuchte ein Blatt auszumessen, das länger als 29 cm war und fragte mich: „Ayla, was sind denn die ganz kleinen Striche neben den Zentimetern?“ Ich erklärte ihm, dass es vor dem Zentimeter noch eine kleinere Maßeinheit gibt und zwar den Millimeter und dass 10 Striche, 10 mm und somit 1 cm ergeben. Die Kinder hörten dabei aufmerksam zu.

So fingen alle an, neben den Zentimetern noch die kleinen Striche zu zählen. Onurs Blatt war 29,6 cm groß, Pablos Löffel 24,8 cm, Mayas Stab 27,0 cm und Selins Stab 14,0 cm. Die Kinder waren sehr genau und zählten jeden Millimeter.
Aus diesem Anlass beschloss ich, erst mal bei den Begriffen Millimeter und Zentimeter zu bleiben. Hier zeigten sie das meiste Interesse und ich wollte nicht, dass sie durcheinander kamen.
Die Kinder hatten so viel Freude daran, Dinge abzumessen, dass sie gerne zu Hause weiter messen wollten. Ich sagte, das könnten sie gerne tun und wenn sie Lust haben, könnten sie die abgemessen Gegenstände aufmalen und die Messergebnisse daneben schreiben.
Onur wollte alles abmessen, was 50 cm lang war. Er fand die Maßeinheit passend und alle anderen Kinder ließen sich von dieser Idee leiten. So wollten sie auch zu Hause alles abmessen, was 50 cm lang ist.

Fazit des Tages
Am Ende dieses Tages wurde mir auch bewusst, wieso sich Onur für die Zahl 50 entschied. Er kann sicher im Zahlenraum bis 50 zählen und deswegen wollte er in diesem Zahlenbereich bleiben. Pablo, der bis vor kurzem sicher bis 39 zählen konnte, zeigte sich wissbegierig und schloss sich Onur an, um von ihm was zu lernen.

Tag 2

Am zweiten Tag unseres Projektes trafen wir uns wieder im Werkraum. Pablo, Selin und Onur brachten ganz stolz ihre Zeichnungen mit. Selin hatte zu Hause einiges abgemessen und aufgemalt. Pablo und Onur hatten dies bereits am Nachmittag in ihren Gruppen gemacht. Maya hatte zu Hause nicht mehr daran gedacht, etwas abzumessen, was aber nicht schlimm war, denn die Kinder bekamen nicht genug vom Abmessen, so dass es weiter ging.

Sie wollten alle durch das Haus laufen und alles abmessen, was etwa 50 cm groß ist. Da ich aber in der Kita nicht genügend Zollstöcke hatte, nahm sich jedes Kind ein Band, maß 50 cm davon ab und machte sich auf den Weg. Während sie überall Maß nahmen, überlegten sie, was sie noch alles abmessen könnten.

Sie sagten: „Fieber kann man messen oder die Körpergröße.“ Wir waren uns schnell einig, dass man Fieber mit einem Thermometer misst und nicht mit einem Zollstock. Aber unsere Körpergröße konnten wir alle messen.
Nachdem die vier Kinder ihre Körpergröße gemessen hatten und geklärt hatten, wer wie groß ist, überlegten wir gemeinsam, was wir mit unserem Wissen jetzt noch tun könnten.

Pablo sagte:
„Ich möchte einen Tisch bauen!“

Dieser Idee schloss sich Onur an. Die Mädchen wollten einen Puppenschrank bauen. Woraufhin Pablo sagte: „Dann können wir auch einen Puppentisch bauen.“
Das nahmen wir uns für den nächsten Tag vor.

Fazit des Tages
Beim Abmessen konnte ich Pablos Freude richtig spüren, er war sehr motiviert und wurde in keiner Situation unaufmerksam. Es war die richtige Herausforderung für ihn.

Tag 3

Am dritten Tag versammelten wir uns wieder im Werkraum. Die Kinder waren schon ganz aufgeregt und wollten direkt loslegen. Sie holten sich Holzplatten und den Hammer und wussten dann aber nicht mehr weiter.

Ich sagte: „Wollen wir uns erst einmal überlegen, wie der Tisch und der Schrank aussehen sollten?“
Selin hatte die Idee, Tisch und Schrank aufzuzeichnen. Sie war früher öfter im Werkraum gewesen und hatte bereits einige Erfahrungen im Bereich Bauen gesammelt.

Damit ich mich in dieser Phase intensiver mit Pablo und Onur beschäftigen konnte, teilte ich die Kinder in zwei Gruppen auf. Da Pablo mein Beobachtungskind ist, werde ich in diesem Bericht die Bauphase der beiden Jungs weiter dokumentieren.
Beide bekamen ein Blatt, Bleistift und ein Lineal von mir und überlegten genau, wie lang die Beine des Tisches werden sollten und wie breit die Arbeitsplatte sein muss, damit die Proportionen stimmen. Sie machten eine genaue Zeichnung. Sie legten dabei das Lineal genau an und konnten auch schon erkennen, wie groß der Tisch am Ende wird. Während sie zeichneten, wurde ihnen auch bewusst, welche Materialien sie brauchen, zum Beispiel eine Tischplatte.

Die Planung war sehr wichtig, denn nur eine ordentlich gemachte Planung führt zu einem guten Ergebnis. Die beiden Jungs waren sehr konzentriert und setzten dabei ihre neu erlernten Fähigkeiten ein. Sie wussten, wie sie das Lineal ansetzen sollten und wie sie genau die Zentimeter und die Millimeter ablesen können. Sie hatten in den letzten Tagen einiges an Erfahrung sammeln können.

Da diese Phase etwas länger dauerte und es bereits Zeit fürs Mittagessen war, verlegten wir das Handwerkliche auf den nächsten Tag.

Fazit des Tages
Die beiden Jungs ergänzen sich sehr gut und können viel voneinander lernen: Vor allem für Pablo ist dieses Projekt eine Bereicherung.

Tag 4

Die beiden Jungs kamen am nächsten Tag pünktlich in den Werkraum und machten sich sofort an die Arbeit. Sie holten ihre Zeichnungen und legten sie so vor sich, dass sie immer wieder darauf schauen konnten. Sie suchten sich die Materialien aus den Regalen.

Pablo nahm eine Holzlatte in die Hand und fragte mich, ob er die für die Tischbeine benutzen könnte. Ich sagte ihm, dass er das selber einmal ausprobieren soll. Er stellte die Tischbeine hin und sagte: „Das ist nur zu lang.“ Daraufhin Onur: „Das müssen wir absägen.“

Sie holten sich eine Säge und wollten schon loslegen. Ich erinnerte die Beiden daran, mal auf ihre Zeichnung zu schauen. Da fiel den Jungs wieder ein, dass sie ja erst die Länge abmessen mussten. Sie schauten auf den Plan und Pablo sagte: „Die Beine müssen 15 cm lang sein.“

Er nahm den Zollstock und maß genau 15 cm an der Holzlatte ab. Pablo markierte die Stelle. Ich half ihm noch, die Holzlatte mit den Schraubzwingen am Tisch zu befestigen. Dann konnte Pablo loslegen.
Der Tisch brauchte vier Beine; sie teilten sich die Aufgabe. Onur nahm sich die beiden anderen Beine vor.

Da man beim Sägen sehr viel Kraft anwenden muss, fanden beide es sehr anstrengend. Pablo musste zwischendurch eine Pause einlegen, doch er war sehr motiviert und hatte den Ehrgeiz, sein Werk zu beenden.

Als die Jungs die Beine fertig gesägt hatten, suchten sie sich eine passende Platte aus dem Regal. Sie nahmen Maß an der Platte und stellten fest, dass sie nur etwas von der Länge kürzen mussten. Pablo sagte: „Guck mal, die ist hier nur 3 cm zu lang, sonst passt sie.“

Damit sich jeder von den Beiden einmal ausruhen konnte, teilten sie sich die Arbeit, indem sie abwechselnd sägten. Sie merkten, dass das Sägen ganz schön „in die Arme geht“. Da Pablo und Onur auch eher „Kopfmenschen“ sind, fällt ihnen körperliche Arbeit, in welche sie Kraft investieren müssen, etwas schwerer.

Im nächsten Schritt wollten sie die Beine an die Platte nageln. Ich sagte ihnen, dass sie erst einmal die Platte auf die Beine stellen sollten, damit sie sehen, wo sie genau befestigt werden sollen. Als sie das gemacht hatten, stellten sie fest, dass die Beine nicht alle gleich lang waren, obwohl sie sorgfältig abgemessen hatten.

Ich fragte die Kinder, ob es schlimm wäre.

Pablo antworte fassungslos:
„Natürlich, dann wackelt der Tisch doch!“

Dies bedeutete, dass die Jungs erneut abmessen mussten, um die Beine auf die gleiche Länge zu bringen.

Fazit des Tages
Dieser Tag war besonders anstrengend für Pablo und Onur, aber beide waren so motiviert, dass sie über die Anstrengungen gerne hinweg schauten und ihr Ziel erreichen wollten.

Tag 5

An diesem Tag sollte das Werk vollendet werden. Die beiden Jungs kamen pünktlich zu mir in den Werkraum.

In den letzten vier Tagen hatten sie gelernt, im Werkraum selbstständig zu arbeiten. Sie wussten, wo sie ihre Materialien finden konnten, die sie zum Arbeiten brauchten.

Ich musste nur als Begleitperson dabei sein.
Onur und Pablo holten sich ihre vorbereiteten Holzbeine, die Platte und die nötigen Werkzeuge, wie den Hammer und die Nägel. Die beiden Jungs hatten sich gut aufeinander eingespielt und arbeiteten gut miteinander.

Onur stellte die vier Tischbeine auf die Arbeitspatte und Pablo die Platte darüber. Sie verstellten die Tischbeine so lange, bis sie parallel zueinander unter der Platte lagen. Diesen Teil der Arbeit bewältigten sie sogar ohne Lineal, sie schätzten die Länge.
Nun wollten sie die Arbeitsplatte mit den Nägeln an den Beinen befestigen. Erst bei diesem Schritt benötigten sie meine Hilfe.

Pablo fragte: „Ayla, kannst du das festhalten?“ Ich hielt ein Tischbein und die Arbeitsplatte fest, so dass er die Nägel einschlagen konnte. Das war für ihn wieder ein Kraftakt. Beim ersten Nagel hatte er die meisten Schwierigkeiten, beim zweiten konnte er die Kraft schon besser dosieren. Sie befestigten jedes Bein mit zwei Nägeln. Dabei wechselten sie sich regelmäßig ab.

Im Anschluss daran war noch die Feinarbeit gefragt. Sie einigten sich auf zwei Farben: Rot und Blau. Gemeinsam malten sie den Tisch an. Sie waren sehr stolz auf ihr Werk. Sie wollten es unbedingt eine Weile ausstellen, damit die anderen Kinder auch sehen konnten, was sie Besonderes hergestellt hatten.
Selin hat den fertigen Schrank mit nach Hause genommen und Pablo den Tisch.

Fazit des Projektes

In diesem Projekt ging es anfänglich um das Abmessen und das Kennenlernen der Maßeinheiten. Ich konnte beobachten, dass es den Kindern sehr gut gelungen ist. Was besonders spannend war: Keiner wusste am Anfang, wie das Projekt verlaufen würde. Die Kinder entschieden jeden weiteren Schritt selbstständig und planten, was sie als Nächstes tun wollten.

Das fleißige Abmessen führte dazu, dass die Kinder motiviert waren, etwas herzustellen und ihr Wissen praktisch umzusetzen. Dabei entwickelten sie ein besonders starkes Team. Sie planten und führten ihre Ideen gemeinsam aus.

Sie hatten eine besonders schöne Art, miteinander zu kommunizieren: sie konnten alles miteinander diskutieren, ohne zu streiten, und wurden sich am Ende immer einig.

Bauen und Konstruieren ist eine besondere Art der Förderung. Die Kinder können durch das Handwerkliche, durch das Greifen und Gestalten, die Theorie erst verstehen. Sie lernen spielerisch ihre Ideen umzusetzen und verstehen, was lang, klein, hoch und tief bedeutet. Durch die handwerkliche Tätigkeit sammeln sie ihre eigenen Erfahrungen und entwickeln sich somit weiter.

In diesem Projekt wurde mir wieder einmal bewusst, wie wichtig es ist, stärkenorientiert zu arbeiten. Da bei Pablo und Onur die Stärken eher im kognitiven Bereich liegen, konnten sie mit ihren Ideen motiviert und spielerisch ihre Motorik trainieren.

Hier sei auch auf die wunderschönen Hör CDs verwiesen:
„Kasimir backt“ und „Kasimir tischlert“ siehe in
Bilderbücher, Sachbücher und Geschichten
Datum der Veröffentlichung: Juni 2015
Copyright © Ayla Altın, siehe Impressum