Ein Mail-Kontakt im Nachtrag zu einer Beratung

von Arno Zucknick

 

Hallo Herr Zucknick,

vielleicht erinnern Sie sich, ich war in Ihrem Fortbildungskurs und hatte Sie wegen meines Sohnes angesprochen, der zu dem Zeitpunkt ganz verrückt nach Autokennzeichen war. Die hat er bald alle auswendig gekonnt, und das Thema hat sich erledigt. Er hat es nicht vergessen, aber es ist nicht mehr so brisant, dann kamen Fahnen und Flaggen aller Länder und gleich danach kam Fußball dran und ist es auch gegenwärtig noch. Er ist inzwischen 5;0 Jahre alt und liest nun jeden Morgen die Sportseite der Tageszeitung.

Wir haben versucht, ihn im Kinderzentrum testen zu lassen; das ging komplett daneben, nicht unseretwegen, aber die Leute dort waren total unfähig, das möchte ich hier nicht näher beschreiben. Ich habe dann eine Schulpsychologin konsultiert, und bei dieser hatten wir heute einen Termin. Unser Sohn braucht immer extrem lange, bis er mit einer fremden Person warm wird, es ging aber einigermaßen.

Einen Test hat er nur teilweise mitgemacht, wir haben noch zwei weitere Termine, jedoch hat die Psychologin mir gleich mitgeteilt, dass er sich in der 1. und 2. Klasse langweilen wird. Das Einzige, was er nicht kann, ist die Schreibschrift, er hat sich eine eigene Schreibweise der Druckbuchstaben und Zahlen angewöhnt. Sie riet uns ab, ihn in eine „normale“ Schule zu schicken, Montessori wäre empfehlenswert, jedoch haben die erst im nächsten Jahr einen Platz frei. Für den Fall, dass wir uns für eine Einschulung in die hiesige Grundschule entscheiden, hat sie Einzelförderung angemahnt und Gespräche mit den Lehrern. Unser Sohn ist wohl ein Extremfall, sagte sie. Mein Eindruck ist ebenfalls: Wenn ihm etwas in der Schule nicht so passt, würde er seine Tasche packen und nach Hause wollen.

Nun weiß ich gar nicht mehr, was ich mit ihm machen soll: zu Hause lassen, evtl. Privatunterricht, um die Schreibschrift zu erlernen, und dann in eine höhere Klasse, aber da wird er doch auch nicht ernst genommen, eine andere Schule in der nächsten Stadt mit täglich insgesamt 2 Stunden Autofahrt oder gar Umzug in diese Stadt. Ich glaube, so richtig würde das keiner von uns wollen.

Ich wäre froh, wenn Sie mir noch einmal einen guten Rat geben könnten.

Mit freundlichen Grüßen

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Liebe Frau …,

ich grüße Sie. Ich erinnere mich sehr gut an Sie und Ihre Erzählungen von Ihrem Sohn. Nach dem zu urteilen, was sie jetzt über die neuesten Entwicklungen berichten, würde ich der Schulpsychologin zustimmen, dass sich Ihr Sohn in einer Regelschule aller Wahrscheinlichkeit nach unterfordert fühlen wird. Es besteht aber anscheinend zunächst keine Alternative, denn – wie Sie schreiben – ist auf der Montessori-Schule in diesem Jahr kein Platz frei, und die Stadt ist zu weit weg.

Die Frage ist also, in wie weit Ihr Sohn in der normalen Grundschule seinen Potentialen entsprechend gefördert werden kann und wie man eventuelle Frustrationen auffangen kann. Es ist jetzt ganz wichtig, dass Sie auf zwei Schienen präsent sind.

Zum einen sollten Sie einen möglichst engen Kontakt zur Schule und zu der zukünftigen Lehrerin Ihres Sohnes unterhalten und darauf hinwirken, dass er so individuell wie irgend möglich gefördert wird und vielleicht zum Halbjahr in die 2. Klasse wechseln kann. In der Zwischenzeit wäre zu prüfen, ob dann eine Umschulung in die Montessori-Schule nach dem ersten Jahr möglich ist.

Zum anderen ist für Ihren Sohn das Wichtigste, dass er Sie an seiner Seite weiß und Sie ihm signalisieren, dass er – wenn es dann dazu kommt – mit seiner Frustration nicht allein ist. Es wird sich über kurz oder lang nicht verhindern lassen, dass er die ernüchternde und zuweilen deprimierende Erfahrung macht, in einer Welt zu leben, in der die meisten nicht so können wie er. Wichtig ist dann, dass er Menschen um sich hat, die das verstehen, die ihm Kraft geben, das zu ertragen und ihm helfen, seine besondere Situation zu verstehen.

Ich entnehme Ihren Zeilen und hatte auch schon in unserem Seminar das Gefühl, dass Sie diesbezüglich hellwach sind und Ihren Sohn mit der richtigen Einstellung begleiten. Es ist daher mein Eindruck, dass Sie sich keine allzu großen Sorgen machen müssen.

Ich rate Ihnen also zu einer Art Doppelstrategie, die darin besteht, auf eine für Ihren Sohn geeignete Unterbringung im Schulsystem hinzuarbeiten und ihn in der Zwischenzeit emotional zu unterstützen, wenn sich gewisse „Durststrecken“ mangels besserer Alternativen nicht vermeiden lassen. Es wird ihm sicherlich helfen, wenn Sie ihn so weit wie möglich in die mit diesen Vorgängen verbundenen Entscheidungsprozesse einbeziehen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Erfolg und hoffe, dass sich letztlich alles zu Ihrer und Ihres Sohnes Zufriedenheit entwickelt. Es würde mich sehr interessieren, wie es weitergeht. Vielleicht mögen Sie mir zu gegebener Zeit einmal wieder eine E-Mail schreiben und mir von Ihrem Sohn berichten.

Ich hoffe, dass Ihnen meine Gedanken bei den nächsten Schritten helfen. Wenn sich weitere Fragen ergeben, zögern Sie bitte nicht, mich jederzeit zu kontaktieren.

Mit herzlichen Grüßen

Arno Zucknick

(Siehe auch: Dauerfrustration wegen Unterforderung und Unverständnis)

Und so ging der Kontakt weiter:

Sehr geehrter Herr Zucknick,

es freut mich sehr, dass Sie sich noch mit unserem „Fall“ beschäftigen.

Mit einer Veröffentlichung sind wir einverstanden.

Unserem Sohn gefällt es bis heute in der Grundschule sehr gut. Er hat das ganz große Glück, eine Lehrerin zu haben, die vollstes Verständnis für ihn hat, ihn 2x in der Woche extra fördert, auf Antrag der Schulpsychologin. Er bekommt während des Unterrichts andere Rechenaufgaben und andere Lesetexte, damit kommen laut Aussage der Lehrerin alle, auch die anderen Kinder, sehr gut zurecht. Seine Tasche packen wollte er noch nie, das habe ich ganz falsch eingeschätzt, bisher ist es ganz im Gegenteil, ein Wochenende müsste es für ihn nicht geben und Ferien auch nicht.

Ich frage jeden Tag nach der Schule, was denn am schönsten und am schlechtesten war. Schön war alles, sagt er, schlecht war manchmal Mathe, weil es langweilig war, aber auch das kommt selten vor.

Zusammen mit der Schulpsychologin, die sich mit den Lehrern und Eltern an einen Tisch gesetzt hat in der Schule, wurde geplant, dass unser Sohn ab Februar diesen Jahres in die 2. Klasse gehen soll, in die auch seine Schwester geht. Zuerst wollte er nun gar nicht mehr. Er möchte bei „seiner“ Lehrerin bleiben. Das halten wir in Anbetracht der Tatsache, dass die Lehrerin der 2. Klasse (es gibt nur eine 2. Klasse) mit ihren 24 Schülern total überfordert ist, auch für die bessere Variante. Wir schauen einfach mal, wie sich alles weiterentwickelt.

Seine Klassenlehrerin hat im Gespräch mit der Psychologin gesagt, dass sie so ein Kind noch nie hatte (sie ist ca. 55 Jahre alt) und dass sie sehr stolz darauf ist, auch so etwas noch zu erleben. Sie möchte gern, dass er in ihrer Klasse bleibt, aber davon machen wir natürlich unsere Entscheidung nicht abhängig.

Unser Sohn interessiert sich weiterhin hauptsächlich für die Themen Fußball, Handball, er liest jeden Morgen die Sportseite der Tageszeitung, auch vor der Schule (wie wir Eltern, nebenbei, beim Frühstück) und ich denke, er versteht genau die Zusammenhänge, wer gegen wen spielt und wohin aufsteigt usw. Was das Lesen betrifft, fand ich es auch ganz interessant, dass er, als wir im Vogelpark Walsrode waren, die wirklich schwer auszusprechenden Namen mancher Vögel mühelos lesen konnte, da ging er ja noch nicht zur Schule…. Außerdem hatte ich ja erwähnt, dass er die Fahnen und Flaggen alle kennt und auch zuordnen kann. Die Weltkarte interessiert ihn nach wie vor, auch hier kann er wirklich alles zuordnen mit Hauptstädten usw., auch die Deutschlandkarte mit allen größeren Städten und Bundesländern kennt er genau.

Wenn wir gelegentlich mal ein paar Multiplikationsaufgaben abfragen, dann rechnet er das schnell aus, es ist manchmal auch beängstigend.

Im letzten Sommer hat er sich außerdem für Schmetterlinge interessiert. Wir haben sie gefangen, bestimmt, alles darüber gelesen und er wusste sehr schnell auch hier Bescheid. Das hat sich auch auf unsere jüngste Tochter ausgewirkt. Wir haben in einem Naturerlebniszentrum einen Nachmittag verbracht, und ich habe zu ihr gesagt: „Sieh mal, ein Schmetterling“, er war aus Holz und ohne Farbe, sie hat mir geantwortet „Pfauenauge“, das stimmte und ich war erschrocken, denn zu dem Zeitpunkt war sie noch keine 2 Jahre alt. Jetzt ist sie 2 Jahre und 4 Monate, spielt mit uns „Stadt, Land, Fluss“, interessiert sich nicht für altersgerechtes Spielzeug und, und, und……wir sind ja informiert und wissen, was da möglicherweise auf uns zukommt.

Getestet ist unser Sohn bisher nicht, wir legen auch nicht wirklich Wert drauf. Es ergibt sich sicherlich mal.

Ich finde es im Rückblick schon sehr aufregend, wie sich vor allem unser Sohn (weil er am krassesten war) so entwickelt hat. Für uns Eltern war es auch eine Zeit, in der viel geschehen ist: vom Gedanken „der ist nicht so wie die anderen“ (natürlich auch viel Stolz dabei, aber auch Ängste) über eine gewisse Ausgrenzung durch die Dorfbewohner „warum geben Sie ihn nicht in den Kindergarten, Sie könnten es doch viel einfacher haben…“ bis zu den ersten Schulerfahrungen, auch bis hin zu Bewunderung… ich könnte noch Seiten schreiben, aber es ist schon spät.

Es freut mich sehr, von Ihnen gehört zu haben.

Mit freundlichen Grüßen

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Guten Morgen Herr Zucknick,

gestern Abend habe ich ja schon ausführlicher geschrieben, aber wie das so ist, in der Nacht denkt man noch mal drüber nach…

…Außerdem wollte ich noch sagen, dass uns diese ganzen Besonderheiten in unserer Familie überhaupt nicht so bewusst sind, es ist Alltag bei uns und wird nur etwas deutlicher, wenn mich jemand anspricht, wenn wir Vergleiche ziehen zu Gleichaltrigen, wir sind eine ruhige Familie, die eigentlich sehr zurückgezogen lebt. Wir wissen inzwischen allerdings auch, dass wir als Eltern auch nicht dumm sind, ganz besonders mein Mann ist sicher ähnlich begabt wie unser Sohn, das wurde mir nach Ihrem Kurs klar, viel zu oft dachte ich „wie denkt der denn?“ Jetzt wo ich es weiß, ist alles leichter zu verstehen.

Könnte ich vielleicht auch der Lehrerin von Jan Ihre Email-Adresse geben, falls sie mal Fragen hat?

Nochmals herzliche Grüße

***

Nachtrag:

Der Junge wurde eingeschult, besuchte bald darauf den Matheunterricht der 2. Klasse und wird demnächst in die 3. Klasse gehen.

Datum der Veröffentlichung 14.4.2010 /Version: 14.4.2010

Arno Zucknick, IHVO-Master-Zertifikat 2009