von Bianca Arens

 

Ich möchte das Selbstbewusstsein der sehr schüchternen und zurückhaltenden Kira (2;10) (alle Namen geändert) fördern, damit sie sowohl ihre Sprachbegabung als auch ihre anderen Fähigkeiten zeigen kann. (Ihre Mutter vermutet eine Hochbegabung.) Ich möchte Kira darin unterstützen, ihre kaum vorhandenen sozialen Kontakte auszubauen und ihre Integration in die Gruppe zu fördern.

Kira kam vor zwei Monaten zu uns in die Kita, da war sie 2;8 Jahre alt. Zusammen mit ihrer Mutter machte sie eine Eingewöhnungswoche mit meiner Kollegin, die in der ersten Zeit ihre Hauptbezugsperson sein sollte. Das bedeutet, dass sie den ersten Kontakt zum Kind und zur Mutter aufbaut, damit den Beiden der Eintritt in die Kita so angenehm wie möglich gemacht wird. Die „Eingewöhnungserzieherin“ erklärt die ersten wichtigen Regeln und hilft dem Kind, erste Kontakte zu den anderen Kindern zu knüpfen.

Für die Eltern gilt in etwa das Gleiche, da sie sich bei uns in der Elterninitiative mit den Regeln und Abläufen genauso gut auskennen sollen. Das heißt aber auch, dass die anderen Erzieherinnen sich erst mal zurückhalten, damit das Kind nicht mit neuen Eindrücken überfordert wird.

 

… kurz gefasst …

Die Autorin beschreibt, wie sich ein zweijähriges Mädchen allmählich in die Gruppe integrieren lässt. Zwar ist die Kleine das jüngste Kind der Gruppe, erstaunt die Autorin aber mit ihrem starken Selbstbewusstsein, ihrer großen Durchsetzungsfähigkeit und ihrer außergewöhnlichen Sprachkompetenz.
Allerdings sah es zunächst ganz anders aus. Kira wirkte schüchtern und sprach in der Kita nicht.
Erst der sorgfältige Beziehungsaufbau Erzieherin-Kind und die behutsame, aber nicht abwartende, sondern zielstrebige Integrationsarbeit brachte das wirkliche Wesen und die Fähigkeiten des kleinen Mädchens zum Vorschein und ließ Kira in der Gruppe dann doch relativ schnell „Fuß fassen“.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nur Kinder ab drei Jahren aufgenommen, Kira war das erste Kind, das deutlich jünger war. Die Mutter hatte bereits davon gehört, dass wir eine Weiterbildung zum Thema Hochbegabung begonnen haben, und unsere Leiterin hatte uns berichtet, dass die Mutter bei ihrer Tochter eine besondere Begabung oder Intelligenz vermutet.

Ehrlich gesagt waren die ersten Eindrücke für mich eher enttäuschend. Kira schien ganz zurückgezogen, zeigte großen Ablösungs- und Trennungsschmerz und war eigentlich kaum ansprechbar. In den ersten Wochen war ihre Eingewöhnungserzieherin die einzige Person, auf die sie überhaupt reagierte.

Wenn wir anderen Erzieherinnen sie ansprachen, wurde ihre Körperhaltung ganz verkrampft, sie senkte den Kopf und weigerte sich, mit uns zu sprechen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt sprechen konnte. Oft beobachtete ich sie und hatte das Gefühl, dass sie sich mit ihrer Art „selbst im Weg stand“. Eigentlich stand sie einfach nur verloren herum.

Sie wirkte den ganzen Tag über unnahbar, sowohl für uns als auch leider für die anderen Kinder. Die Kinder mochten sie anscheinend. Einige Kinder hatten Mitleid, wenn es ihr morgens nicht so gut ging, und versuchten sie hilfsbereit zu „betüddeln“, da sie auch wussten, dass Kira mit ihren zwei Jahren die Jüngste bei uns war. Andere Kinder nahmen zumindest genug Rücksicht und machten ihr den Kindergartenvormittag so angenehm es ihnen möglich war.

Nach der für Kira harten Eingewöhnungszeit entwickelte es sich so, dass Kira zwar da war, aber eigentlich niemandem mehr besonders auffiel, sowohl drinnen wie draußen. Von sich aus nahm sie keinen Kontakt zu anderen Kindern oder zu uns Erzieherinnen auf.

Sie schaute einfach nur zu und zeigte keine anderen Aktivitäten.

Ich beobachtete sie oft und dachte, dass sie schon „ein komisches Mädchen“ sei. Na ja, diese Feststellung ist nun wirklich nicht sehr professionell, also kam ich bei den Überlegungen zum Thema dieser Praxisaufgabe (für den IHVO-Zertifikatskurs) auch mit meinen Gedanken wieder zu Kira zurück. Ich dachte mir, in dieser kleinen Persönlichkeit muss doch noch mehr schlummern, wenn ihre Mutter sogar eine Hochbegabung vermutet. Es müsste nur jemand zu ihr „durchdringen“ oder so weit einen positiven Kontakt zu ihr aufbauen und ihr Vertrauen gewinnen, damit sie „aus sich raus kommen kann“.

Ich will zu ihr durchdringen!

Also verbrachte ich immer viel Zeit in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie schaute mir jedes Mal zu, wie ich mit anderen Kindern agierte, wobei ich auch zu ihr Blickkontakt hielt und versuchte, sie viel anzulächeln.

Ich suchte immer wieder die Gelegenheit, in ihrer Nähe zu sprechen. Zum Beispiel sprach ich darüber, was ich gerade so tat, und stellte ihr auch oft Fragen, die sie allerdings nicht beantwortete. Dann ging ich zu Fragen über, die sie nur mit kurzem Ja oder Nein hätte beantworten müssen – auch zunächst ohne sichtbaren oder hörbaren Erfolg.

Schließlich, nach Wochen, bekam ich auf die meisten Fragen zumindest ein Nicken oder ein Kopfschütteln zur Antwort. Je länger sich dieses „Plaudern“ so hinzog, desto mehr fiel mir auf, dass sie sich immer häufiger absichtlich in meiner Nähe aufhielt.

Etwa zur gleichen Zeit bemerkte ich, dass sie, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, sehr wohl eine laute Stimme hatte. Und zwar hörte ich sie im Sandkasten unser Geburtstagslied „Heute kann es regnen, stürmen oder schneien“ singen.

 

Alle drei Strophen! Laut und deutlich!

 

Wird sie mitmachen und „aus sich heraus kommen“?

Nun begann ich sie gezielt in meine Angebote mit einzubeziehen. Wir hatten neue große Stempel mit Buchstaben eingekauft, und unsere Kinder vom Buchstabenprojekt hantierten damit ausgiebig.

Siehe:
Buchstabenprojekt in Kleingruppenarbeit und Selin ist unterfordert.

Kira (nun 2;11) und ein Junge namens Anton (4;8) waren nicht beim Buchstabenprojekt dabei gewesen. Von Anton wusste ich, dass er Kira gern mochte und immer versuchte sie zum Mitspielen zu bringen. Seine Mutter berichtete mir, dass er zu Hause auch häufiger Kiras Namen erwähnte.

Also schien es da, zumindest seinerseits, eine gewisse Zuneigung zu geben.

Ich fragte Beide, ob sie nicht auch mal stempeln wollten. Anton bejahte, allerdings schüttelte Kira verneinend den Kopf. Also fragte ich sie nur, ob sie denn mal zuschauen wollte; sie könnte wieder gehen, wenn sie keine Lust mehr hätte. Sie antwortete mir nicht. Schließlich schaffte es Anton, sie zu überreden. Sie nickte und kam mit.
Tatsächlich setzte sie sich sogar mit an den Tisch, wo das Angebot stattfand, und wollte sich einen Malkittel anziehen, wobei ich ihr half.

Nachdem ich den Kindern die Technik erläutert hatte, wollte ich auch ihr ein Blatt geben, was sie aber nicht wollte. Ich fragte sie, ob sie sich mit Anton ein Blatt teilen mochte, worauf sie nickte. Auch Anton war einverstanden. Dann ging es los.

Zu meiner Überraschung hatte sie eine genaue Vorstellung, wie es bei ihr aussehen sollte. Sie stempelte mit einer ausgewählten Farbe in gleichmäßigen Abständen reihenweise nebeneinander auf ihre Blatthälfte.

Plötzlich meinte sie zu mir, dass sie fertig sei und ein neues Blatt anfangen möchte. Anton begann zu protestieren, weil er darauf noch weiter machen wollte. Doch Kira teilte ihm ganz bestimmt mit, dass es fertig sei und er nicht weiter machen dürfe. Sie nahm ihm sogar den Stempel aus der Hand, was ihn ziemlich erstaunte.

Eigentlich waren alle Kinder verwundert und hielten mit ihrer Arbeit inne, um zu sehen, wie es weiter ging.

Kira legte das Blatt selbstbewusst zur Seite zum Trocknen und verlangte ein neues. Zum Glück war Anton dann auch einverstanden.

 

Nicht schüchtern, sondern selbstbewusst!

Nach dieser Situation war klar, dass Kira nicht das schüchterne stille kleine Mädchen war, sondern dass sie sehr wohl verbal wie auch tatkräftig ihren Willen äußern und durchsetzen konnte. Dass sie sich ihrer Meinung sogar so genau bewusst war, erstaunte mich schon sehr. Ich hatte es aber, um ehrlich zu sein, auch gehofft.

In nächster Zeit habe ich sie in einige meiner Angebote mit einbezogen, wie zum Beispiel beim Basteln oder beim Fenster bemalen.

Außerdem halte ich weiter verstärkt Kontakt zu ihr. Dabei habe ich zum Beispiel mit ihr im Bauzimmer gespielt, wobei sie plötzlich anfing mir zu erzählen, dass sie am liebsten mit Holzspielzeug spielt. Sie erzählte mir auch kurze Erlebnisse mit ihren Großeltern, was ich für ihr Alter schon sehr beeindruckend finde.

Im Freispiel probierten wir verschiedene Puzzles oder auch mal ein Quartettspiel aus, bei dem sie aber noch viel Hilfestellung benötigte.

Am liebsten war ihr, wenn sie Bücher vorgelesen bekam. Am Anfang fragte ich sie noch, ob sie zuhören möchte, im Laufe der Zeit kam sie dann immer häufiger mit Vorlesewünschen auf mich zu. Sie ließ sich gerne Sachbücher vorlesen, eigentlich immer über Tiere. Durch diese Bücher kamen wir dann auch immer öfter ins Gespräch. Anfangs stellte ich immer die Fragen und schließlich traute sie sich auch, mir Fragen zum Buchinhalt zu stellen.

 

Wir haben inzwischen einen Draht zueinander, aber wie geht sie mit den Kindern um?

Es entwickelte sich so, dass ich eigentlich erst immer den Kontakt zu ihr aufbauen musste, bevor sie sprach. Meine Fragen waren über einen längeren Zeitraum nötig, um ein bisschen mit ihr warm zu werden. Inzwischen ist es aber so, dass es meistens ohne diese Aufwärmphase funktioniert, wenn ich sie etwas frage oder versuche mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Mit der Zeit wurde sie dann auch zu den anderen Kindern aufgeschlossener und begann Freunde zu finden. Besonders Anton und Benni (wie Anton ebenfalls jetzt 4;10) müssen da erwähnt werden. Die drei spielen am meisten zusammen, allerdings von Kiras Seite aus nur, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Dann quatscht sie lustig drauf los!

Auch ihre Körperhaltung ist dann viel freier, sie bewegt sich auch viel schneller und scheint ein lustiges kleines Mädchen zu sein, das viel kichert. Außerdem konnte ich beobachten, wie sie ihrem Freund Anton einmal ein Küsschen gab.

Auf alle Fälle ist klar, dass ihr anfängliches verschlossenes Auftreten nichts mit der „wahren“ Kira zu tun hat.

Sie kann klar und deutlich sprechen, so wie ich es bei einem Kind ihres Alters oder sogar bei älteren noch nie gehört habe.

Natürlich ist sie jetzt nicht plötzlich immer aufgeschlossen und ansprechbar. Zum Beispiel macht sie bei den Spielen in unserem täglichen Morgenkreis nicht mit.

Es gab eine Ausnahme. Nach Möglichkeit sind alle Erzieher beim Kreis dabei. Als ich allerdings in Tagen besonderen Personalmangels die Kreise allein mit den Kindern durchführen musste, machte sie genauso mit wie alle anderen Kinder. Zum Beispiel machte sie bei „Der dicke Tanzbär“ ganz unbefangen mit. Da war ich erstaunt und freute mich. Leider hielt diese Mitmachbereitschaft nicht mehr an, als die Erzieherbesetzung ­im Kreis wieder größer wurde. Aber ich habe die Hoffnung, dass Kira sich in Zukunft auch dann trauen wird.

 

Eine Freundin namens Lydie

Neuerdings hat sie eine neue Freundin namens Lydie (5;2) gewonnen, und die zwei können stundenlang miteinander spielen. Da kann man dann auch erkennen, dass der große Altersunterschied absolut unbedeutend ist. Sie unterhalten sich auf gleicher Ebene und können stundenlang ins Rollenspiel vertieft sein. Wenn die beiden zusammen spielen und Kira wird abgeholt, weigert sie sich schon mal lautstark, nach Hause zu gehen. Dabei jammert sie nicht kleinkindmäßig wie andere Kinder in ihrem Alter, sondern stellt klare Forderungen an ihre Oma oder Mutter, dass diese später kommen sollen. „Diskussionstechnisch“, auch verglichen mit anderen Kindern, finde ich ihre Redegewandtheit sehr beeindruckend.

Es ist zu beobachten, dass sie keinen Kontakt zu anderen Zwei­- oder Dreijährigen hat. Kira wirkt einfach viel reifer und älter.

Jetzt sehe ich ihr Potenzial und wir handeln entsprechend.

Zu einem Theaterausflug – das Stück war für Kinder ab vier Jahren – nahmen wir Kira mit. Sie schaute sich das komplette Stück an und schien es aufzunehmen. Zu Hause hat sie ihrer Mutter von der Geschichte erzählt.

In letzter Zeit beobachte ich auch kleine Streitereien zwischen ihr und anderen Kindern. Ich weiß dann leider nicht immer, wie sie zu Stande gekommen sind, aber Kira „kämpft“ dann (verbal) um die Durchsetzung ihrer Ansichten. Auch protestiert und wehrt sie sich laut, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. In letzter Zeit kommt sie dann auch oft zu mir und erzählt mir, wenn die anderen sie „ärgern“. Sie kann also inzwischen auch um Hilfe fragen, wenn sie alleine nicht weiterkommt.

Ich denke, ihre Rolle und Position in der Gruppe beginnt sich zu ändern. Sie ist nicht mehr das kleine, angepasste Mädchen, das den Tagesablauf nur in einer beobachtenden Stellung erlebt, sondern sie vertritt nun eine eigene Persönlichkeit, die immer stärker und selbstbewusster wird.

Ganz sicher ist es wichtig, ihre Entwicklung weiter zu beobachten, auch im Hinblick auf eine sprachliche Hochbegabung und weitere Begabungen, die sie uns noch zeigen kann. Der Grundstein zu einer positiven Entwicklung ist zumindest gelegt, denke ich, und ich hoffe ich konnte meinen Anteil dazu beitragen.

Weitere Beobachtungen zu Kiras Entwicklung siehe:
Kiras Interessen und Begabungen.

 

Datum der Veröffentlichung: Februar 2013
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