– Ein Mädchen zeigt und entwickelt seine Talente –

von Silke Boden

 

Carina, 6 Jahre alt, ist ein vielseitig interessiertes und begabtes Kind. Wir hatten ihre Einschulung empfohlen, die Eltern hatten aber anders entschieden. Nach den Sommerferien hatte sie wieder enorme Schwierigkeiten. Sie wirkte schlecht orientiert, unlustig, demotiviert; sie langweilte sich, schlug Spielangebote aus. Die Kommunikation mit ihr war sehr reduziert. Sie zog sich in Spielecken oder den Malraum zurück.

Bedingt durch die Neuaufnahme von zwei Säuglingen waren wir Erzieherinnen gut ausgelastet, und wir und die Kinder brauchten einige Wochen, um wieder einen Rhythmus zu finden.

Carinas Situation machte mir große Sorgen, und ich füllte mit ihr gemeinsam den Kinder-Fragebogen von Huser aus. Danach hatte ich den Eindruck, dass es ihr besser ging. Sie kam morgens wieder freudig auf mich zu und erzählte Erlebnisse aus ihrem Alltag.

Die Idee, ein Märchen zu spielen, kam von Carina. Sie hatte den Wunsch, Rotkäppchen zu spielen, und sie wollte das Rotkäppchen sein. Schon zu diesem Zeitpunkt war ihr auch die Präsentation vor Zuschauern wichtig. (Es wurden dann dazu später die Kinder und Erzieherinnen der Einrichtung eingeladen.)

1. Vorbereitungen

Carina hatte klare Vorstellungen über die Requisiten. Sie zeichnete eine Utensilienliste und gab sie an uns weiter. Sie konnte die Geschichte gut erzählen und schmückte sie mit reichem Wortschatz sowie guter Betonung beim Erzählen in der Gruppe aus.

Sie hatte Vorschläge für Mitschauspieler, zum Beispiel „Noah als Jäger“ oder „Selin als Mutter“ und hatte auch Ideen zum Bühnenbild. So schlug sie zum Beispiel vor, Krepp-Papier-Blumen zu basteln, die Rotkäppchen dann pflücken könne.

Wir – die Erzieherinnen – unterstützten Carina in der Auswahl der übrigen „Darsteller“, wobei wir auf die Fähigkeiten achteten. Außer Carina war noch Lasse, der den Wolf spielte, in der Lage, den Text völlig alleine zu sprechen. Bei Selin, die Mutter und Oma spielte, sowie bei Noah, der den Jäger spielte, war dies nur mit unserer Unterstützung (Text erzählen) möglich.

Sehr wichtig waren Carina die Kostüme. Sie freute sich, nach einigen „Trockenproben“ richtig über die erste Kostümprobe! Sie zeigte schauspielerisches Talent, was sich schon in den Proben in Sprache, Mimik und Gestik ausdrückte.

Alle Kinder waren in die Vorbereitungen einbezogen. Sogar die zweijährige Jennifer bemalte einen Tannenbaum. Antonia malte die Einladungskarten für die übrigen Gruppen.

2. Vorführung

Leider musste der erste geplante Termin für die Vorführung verlegt werden, da an dem Tag Carina und Lasse krank waren.

So verzögerte sich die Aufführung um zwei Wochen. Alle Kinder waren dennoch motiviert, das Stück auch später noch zu spielen.

Carina spielte ihre Rolle sehr konzentriert.

Sie hielt sich an den Ablauf der Geschichte und kannte genau die Abfolge der Handlungen. Sie half Selin, die leichte Textschwierigkeiten hatte, zum Beispiel durch leises Zuflüstern. Carina versuchte auch immer während der Vorführung zum Publikum gewandt zu sein, wie wir es bei den Proben versucht hatten. Sie nahm am Ende des Stückes den Applaus zufrieden lächelnd entgegen.

3. Zusammenfassende Auswertung

Carina hat selbst eine Idee mitgebracht, welche für sie eine Herausforderung bedeutete und bei der sie ihre Fähigkeiten präsentieren konnte.

Sie spielte gerne die Hauptrolle in diesem Stück, weil dies bedeutet, dass sie ihre Fähigkeit, darstellerisch zu agieren, präsentieren konnte. Ebenso konnte sie ihre sprachlichen Fähigkeiten zeigen. Sie war in der Lage – mit kleinen Hinweisen – die Geschichte folgerichtig in eigener Sprache fortzusetzen und gleichzeitig darstellerisch zu präsentieren. Carina brauchte nur wenige Proben.

Vorstellungskraft und Überblick über den Handlungsablauf sind bei ihr sehr gut ausgeprägt, und sie setzt alles sofort in Spielhandlung um. Die anderen Kinder benötigten mehrere Proben, welche für Carina langweilig wurden. (Sie wird dann schnell albern und lenkt die anderen ab.) Nach Ermahnung von unserer Seite lenkte sie wieder ein, da sie wohl einsah, dass die anderen die Proben brauchten.

Wie wäre es für sie wohl gewesen, wenn sie kongeniale Spielpartner gehabt hätte?

Carina fragte schon früh immer wieder nach den Kostümen, die dann – als sie dazu kamen – Carinas Konzentration noch einmal stärkten und ihr darstellerisches Talent noch deutlicher werden ließen.

Carina bewegte sich tänzerisch anmutig im Rotkäppchenkleid und spielte wieder konzentrierter mit. Sie zeigte Ausdauer beim Herstellen von Papierblumen und beim Malen der Kulissen.

Während des Projektes zeigte sie ein hohes Maß an Geduld mit den anderen Mitspielerinnen, welche längere Zeit zum Üben benötigten.

Sie versuchte, sie zu unterstützen, indem sie z. B. vorsichtige Zeichen gab oder Text vorflüsterte. Sie zeigte sich kooperativ anderen gegenüber und konnte abwarten, bis die anderen ihre Rolle „erlernt“ hatten.

Ich glaube, dass Carina durch ihre Idee und das Spielen der Hauptrolle so viel Gelassenheit bekam, die Fehler und Unzulänglichkeiten der anderen hinnehmen und aushalten zu können. Das kann sie sonst im Alltag häufig nicht.

Während des Projektes war sie plötzlich sehr entgegenkommend. Sie konzentrierte sich auf ihre Rolle und füllte sie sprachlich, mimisch und darstellerisch sehr gut aus. Carina präsentierte sich gerne vor Publikum und hatte keine Ängste, vor vielen Menschen zu stehen und zu agieren. Sie wollte ihre Rolle perfekt spielen und hatte eine genaue Vorstellung davon, was „perfekt“ ist.

Im Gegensatz zu den anderen Kindern brauchte Carina von uns Erwachsenen nur wenig Hilfestellung.