von Hanna Vock

 

Lena (Name geändert) war acht Jahre alt, als sie einige Wochen in einer Klinik verbringen musste, fernab von ihrem Wohnort. Die Klinik hatte eine eigene Schule, die Kinder mussten ihre Schulsachen mitbringen und einen Brief, in dem die Heimat-Klassenlehrerin aufzulisten hatte, welcher Schulstoff in den nächsten sechs Wochen dran kommen sollte.

Lena wollte schon am 3. Tag nach ihrer schweren Operation in die Klinikschule, weil es ihr so langweilig war, den ganzen Tag fast reglos auf dem Rücken zu liegen und die Zimmerdecke anzusehen. Sie musste noch längst nicht am Unterricht teilnehmen, und die Schwestern wollten sie davon abbringen. Aber Lena setzte durch, dass sie im Bett in die Schule gefahren wurde.

Sie hatte großes Glück und traf auf einen souveränen und geistig beweglichen jungen Lehrer. Er prüfte kurz die Lehrbuchinhalte für die nächsten Wochen ab, war zusehends verwundert und sagte: „Das kannst du ja alles schon.“

Er brauchte nur wenige Sekunden für die Entscheidung: „Dann können wir die Schulsachen weg packen.“ Wenige Sekunden später folgte die Frage: „Willst du am Computer programmieren lernen?“ Es ist lange her, und es war ein C 64, aber der junge Lehrer war aus eigenem Interesse schon fit damit. Hier hatte er etwas, was er auch gerne unterrichten wollte, obwohl es das Fach Informatik an den Schulen, geschweige denn an den Grundschulen, noch gar nicht gab.

Lena brauchte auch nur Sekunden, um Ja zu sagen, ohne eine genaue Vorstellung zu haben, was „programmieren“ bedeutet. Aber sie war hoch begabt, hatte schon eine Klasse übersprungen und offenbar in wenigen Sekunden Vertrauen zu dem Lehrer gefasst. Immerhin hatte er blitzschnell erkannt, was sie schon konnte, und eine vernünftige Schlussfolgerung gezogen: Schulsachen wegpacken. Dann konnte auch sein Vorschlag interessant sein.

Nichts ist ohne Probleme:
Wie soll man am Computer arbeiten, wenn man frisch operiert in einem Gipsbett liegen muss? Aber es hatten sich hier zwei Menschen gefunden, die zu unkonventionellen Lösungen fähig waren.

„Wann darfst du aufstehen?“ – „In einer Woche, dann kriege ich einen Steh-Gips.“ – „Gut, dann müssen wir erst mal Theorie machen.“

Das Wort „Theorie“ hatte Zauberkräfte für die Achtjährige. In jedem Telefonat mit der Familie spielte es eine große Rolle.
Ein Klemmbrett, das nicht nur den oberen, sondern auch den unteren Papierrand festhielt, half Lena, die Programmierregeln und -schritte zu notieren, die der Lehrer ihr beibrachte. Bald waren die ersten kleinen Programme geschrieben, denn Lena hörte erst auf zu arbeiten, „wenn ihr das Klemmbrett ein paar mal auf die Nase gefallen war und ihre Armkräfte erschöpft waren“ (O-Ton Lehrer). Nach einer Pause machte sie weiter, denn sie fand es ganz toll, programmieren zu lernen.

Später begrenzten die Beinkräfte das Arbeitspensum. Denn ein Steh-Gips ist schwer zu tragen und – wie der Name schon sagt – erlaubt er überhaupt kein Hinsetzen. So stand Lena also vor dem Computer und probierte aus, ob die in der Theorie erarbeiteten Programme in der Praxis auch liefen. Und so wurde weiter gemacht, bis die Beine drohten einzuknicken – dann kam wieder Theorie.

Lena hat in diesen Wochen viel gelernt. Die Beschwerlichkeiten des Kliniklebens wurden in ihrem Empfinden durch ihre Lernbegeisterung zurückgedrängt. Als sie in ihre Heimatklasse zurückkehrte, war absolut keine Nacharbeit nötig. Es war, als hätte sie überhaupt nicht einen einzigen Tag gefehlt. Aber sie konnte nun programmieren – was in der Schule nicht zu demonstrieren war und auch niemanden interessierte.

 

Datum der Veröffentlichung: Mai 2012
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