Hochbegabtenförderung im Kindergarten ???
– eine Argumentationshilfe für pädagogische Fachkräfte –

 

von Hanna Vock

Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass es Eltern von weit entwickelten Kindern wichtig ist, dass die Kindertagesstätte auch dem ausgeprägten Wissensdrang, den ungewöhnlichen Denkprozessen und den damit verbundenen Gefühlen ihres Kindes gerecht wird.

Andererseits gibt es bei Eltern auch verständliche Vorbehalte und Unsicherheiten, wenn das Thema Hochbegabung zur Sprache kommt.

Im Folgenden will ich versuchen, immer wieder gehörte Sorgen und Vorbehalte von Eltern aufzugreifen und aus meiner Sicht zu beantworten.

Dies sind:

    • „Wir wissen ja gar nicht, ob unser Kind besondere, geschweige denn hohe Begabungen hat.“
    • „Der Begriff Hochbegabung schreckt mich ab“.
    • „Unser Kind soll ganz normal aufwachsen.“
    • „Im Kindergarten spielt Hochbegabung doch noch keine Rolle. Dort soll das Kind spielen, und es soll lernen, mit Anderen gut auszukommen.“
    • „Unser Kind soll nicht überheblich sein und nicht ausgegrenzt werden.“
    • „Was würden die Verwandten, Nachbarn, Freunde dazu sagen?“
    • „Unser Kind soll in einen Kindergarten gehen, der in der Nähe unserer Wohnung und in der Nähe der Schule liegt, in die unser Kind später eingeschult wird.“
    • „Ich will kein hoch begabtes Kind.“

„Wir wissen ja gar nicht, ob unser Kind besondere, geschweige denn hohe Begabungen hat.“

Hier wird die Sorge spürbar, das eigene Kind falsch einzuschätzen, es früh fest zu legen und dann falsche Erwartungen an das Kind zu stellen.

Es geht aber nicht um Festlegung für die Zukunft oder um Etikettierung. Es geht um die aktuell erkennbaren Spiel- und Lernbedürfnisse des Kindes. Die sollen auch im Kindergarten nach Möglichkeit befriedigt werden, damit das Kind sich wohlfühlt und sich gemäß seinem Potenzial und Tempo entwickeln kann.

Jedes Kind hat auch schon im Kindergarten ein (gesetzliches) Recht auf Bildung. Dies sollte auch für besonders begabte Kinder verwirklicht werden.

Dabei ist es selbstverständlich, dass die Erkenntnisse zu den Begabungen des Kindes von den Fachkräften vertraulich behandelt werden.

Lesetipps für die Eltern:
Dauerfrustration wegen Unterforderung und Unverständnis
Besondere Spiel- und Lernbedürfnisse hoch begabter Kinder


„Der Begriff Hochbegabung schreckt mich ab“.

Der Begriff Hochbegabung ist ein pädagogisch-psychologischer Fachbegriff. Ob Sie ihn in Ihre Alltagssprache übernehmen, bleibt Ihre Entscheidung. In vielen Umfeldern ist es nicht ratsam, ein Kind in frühen Jahren als hoch begabt zu bezeichnen, zum Beispiel, wenn Neid oder Ausgrenzung zu befürchten sind.
Deshalb benutze ich den Begriff zwar in der fachlichen Diskussion ganz selbstverständlich. In der Öffentlichkeit (des Kindergartens) muss vorsichtig damit umgegangen werden, wenn es um bestimmte Kinder geht – es sei denn die Hochbegabung ist zweifelsfrei festgestellt und die Eltern haben sich dafür entschieden, offen darüber zu reden.

Lesetipp für Eltern:
Den Begriff „Hochbegabung“ vorsichtig verwenden

In der Fachdiskussion wird immer wieder versucht, diesen Begriff zu umgehen und andere Begriffe an seine Stelle zu setzen, zum Beispiel „besondere Begabung“ oder einfach „Begabung“ oder auch „Entwicklungsvorsprung“. Alle diese Begriffe sind unseres Erachtens nicht treffend und führen zu Unklarheiten.

Jedes Kind ist begabt. Verschiedene Begabungshöhen unterscheiden wir mit den Bezeichnungen „mittlere Begabung“ (IQ 85 bis 115), „weit unterdurchschnittliche Begabung“ (IQ kleiner als 85), „weit überduchschnittliche oder besondere Begabung“ (IQ 115 bis 130) und „hohe Begabung“ (IQ größer als 130). Hoch begabt sind etwa 2 bis 3 Prozent eines Jahrgangs. Als „besonders begabt“ bezeichnen wir die Gesamtgruppe der weit
überdurchschnittlich oder hoch begabten Kinder. Das sind etwa 15 Prozent des Jahrgangs.
Lese-Tipp für Eltern:
Normalverteilung der Intelligenz
und
Mögliche Gründe für die Durchführung einer Begabungsdiagnostik

Hochbegabung ist keine Krankheit und sollte die Eltern nicht erschrecken. Ich sehe die Aufgabe der Kita-Fachkräfte darin, dazu beizutragen, dass auch das hoch begabte Kind mit seinen Begabungen glücklich sein kann, ohne „schwierig“ für sich selbst oder für seine Umwelt zu werden.


„Unser Kind soll ganz normal aufwachsen.“

Für ein hoch begabtes Kind ist seine Hochbegabung normal. Sie ist ein wichtiger Bestandteil seiner Persönlichkeit, der geachtet und beachtet werden sollte. Seine Normalität besteht darin, dass es einerseits ein Kind mit kindlichen Bedürfnissen ist und dass es andererseits in vielem anders ist als die meisten Gleichaltrigen:
Das Kind zeigt früh andere Interessen als die meisten Gleichaltrigen, es nimmt die Welt anders wahr, und es hat andere Fragen. Es entwickelt bestimmte Fähigkeiten (zum Beispiel Sprechen oder Rechnen oder das Nachdenken über existenzielle Fragen) sehr viel früher und auch anders. Es kann aber durchaus auch Bereiche geben, in denen ihm das Lernen genauso schwerfällt wie den anderen Kindern. Das führt zu Verwirrung, wenn dem Kind nicht geholfen wird.

Aus all dem ergeben sich teilweise ganz andere Spiel- und Lernbedürfnisse des Kindes, die erkannt und ernst genommen werden sollten. Für hoch begabte Kinder ist es normal, schnell zu begreifen und an das Ergebnis der eigenen Tätigkeit hohe Ansprüche zu stellen.
Das Kind spürt sein Anders-Sein schon früh – spätestens wenn es einige Wochen im Kindergarten ist – und hat Schwierigkeiten sich in die Anderen einzufühlen. Die anderen Kinder erleben es als „irgendwie anders“ und reagieren nicht immer positiv.
Es besteht für das hoch begabte Kind die Gefahr der (Selbst-) Isolierung in der Kindergartengruppe, wenn das Kind keine einfühlsame Hilfe erhält.

Damit hoch begabte Kinder normal aufwachsen können, gilt es:
1. die Individualität des Kindes, die durch seine Hochbegabung stark geprägt ist, zu schützen,
2. gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen,
3. eine wirkliche Integration in die Gruppe zu erreichen, so dass das hoch begabte Kind sich im Kindergarten wohl fühlt und seine Fähigkeiten unbelastet entwickeln kann.

Lesetipp für Eltern:
Besondere Spiel- und Lernbedürfnisse oder das frühe Gefühl, anders zu sein.


„Im Kindergarten spielt Hochbegabung doch noch keine Rolle. Dort soll das Kind spielen, und es soll lernen, mit Anderen gut auszukommen.“

Das Kind kann und soll im Kindergarten auch hauptsächlich spielen, und die Erzieherinnen wollen ihm helfen, mit den anderen Kindern gut auszukommen.

Allerdings ist ständige geistige Unterforderung ein Hauptproblem vieler besonders begabter Kinder im Kindergarten. Besteht dieses Problem über längere Zeit, dann besteht die Gefahr, dass das Kind irgendwann die negativen Anzeichen einer Dauerfrustration zeigt: Entweder eine aggressiv getönte Grundstimmung und das daraus resultierende Verhalten (Stören, Kaspern, Zerstören, Gewalt gegen andere Kinder, Autoaggression…) oder eine depressiv getönte Grundstimmung (Rückzug, Aktivitätsverlust, Traurigkeit, Müdigkeit, Lustlosigkeit, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen…). Manche Kinder zeigen auch beide Grundstimmungen abwechselnd oder verteilt auf verschiedene Lebensorte; sie können sich zum Beispiel im Kindergarten unauffällig („brav“, „angepasst“) verhalten, zu Hause aber aggressiv.

Ständige Unterforderung ist also zu vermeiden. Der Kindergarten kann dazu beitragen, indem er interessante Kleingruppen- und Projektarbeit anbietet und dabei auch die Interessen und Fähigkeiten des hoch begabten Kindes gekonnt einbezieht.

Lesetipp für die Eltern:
Dauerfrustration wegen Unterforderung und Unverständnis.


„Unser Kind soll nicht überheblich sein und nicht ausgegrenzt werden.“

Die Gefahr, dass ein hoch begabtes Kind überheblich wird, besteht dann, wenn es sich von den Anderen nicht akzeptiert fühlt, wenn seine Fähigkeiten nicht anerkannt, sondern (latent) abgewertet werden.
Werden aber seine besonderen Stärken im Kindergarten auch anerkannt und versteht es früh, dass seine besonderen Fähigkeiten auf seine Begabung zurückzuführen sind (für die es ja nichts kann), ist die Gefahr des „Abhebens“ minimal.

Die beste Vorsorge gegen Arroganz und Ausgrenzung ist es, wenn das Kind das gelungene Zusammenwirken mit Anderen (Teamwork) erfährt. Die Spiele der Kinder im Kindergarten sind Teamwork. Nur sind sie aus Sicht des hoch begabten Kindes oft nicht gelungen: Die anderen Kinder halten die Regeln nicht richtig ein, spielen nur ganz einfache Spiele, machen in Rollenspielen alles falsch, bezeichnen einen gemalten „Kopffüßler“ als Bildnis der eigenen Mutter, können noch nicht richtig sprechen, schlagen sich um ein Spielzeug anstatt zu verhandeln…

Das hoch begabte Kind muss wissen dürfen, dass es Vieles schon besser weiß oder kann. Im Kindergarten wird einfühlsam angesprochen, dass jedes Kind über Fähigkeiten und Stärken verfügt, die für gutes Teamwork unverzichtbar sind. Erst auf dieser Grundlage ist die Forderung nach gegenseitigem Respekt sinnvoll. Dieses wichtige Wissen erarbeiten sich die Kinder in Spielaktionen und Projekten, die von den Erzieherinnen aufmerksam und aktiv begleitet werden.

Lese-Tipp für Eltern:
Projekt: Professoren, zeigt euch!

Ein Kindergarten, den mehrere hoch begabte Kinder besuchen, bietet dazu noch eine sehr wichtige Erlebnis- und Erkenntnismöglichkeit für das hoch begabte Kind. Es findet mehr adäquate Spiel- und Gesprächspartner. Man spielt am liebsten mit Anderen, die ähnliche Interessen und Gedankengänge haben. Die Ergebnisse der gemeinsamen Tätigkeit, des gemeinsamen Spiels empfinden sie befriedigender. Das kann bei so unterschiedlichen Tätigkeiten geschehen wie zum Beispiel beim frei gestalteten Rollenspiel, bei Gesprächsrunden, beim Aufbau eines „eigenen“ Museums, bei groß angelegten Bauaktionen, beim „Ausspinnen“ von Geschichten, bei naturwissenschaftlichen Experimenten, beim Theaterspiel, bei einem selbstorganisierten Sportfest…

Das Kind kann in diesem Umfeld häufiger erleben, wie es sich anfühlt, auch in den Bereichen seiner hohen Begabung an seine eigenen Grenzen zu stoßen. Es macht die Erfahrung, wie es ist, wenn man sich anstrengen und Schwierigkeiten überwinden muss, um erfolgreich zu sein. Auch das hilft ihm, Andere besser zu verstehen.


„Was würden die Verwandten, Nachbarn, Freunde sagen?“

Sie sollten sich mit Ihnen freuen, dass Ihr Kind besonders klug und wissbegierig ist, und dass Ihr Kind und Sie es im Kindergarten mit kompetenten Fachkräften zu tun haben, die sich mit Hochbegabung auskennen.
Sie müssen aber immer damit rechnen, in Ihrer sozialen Umwelt auf Unverständnis und negative Reaktionen zu stoßen.
Sie als Eltern gewinnen auf jeden Fall Erzieherinnen, mit denen Sie gut über die aktuellen Bedürfnisse und über die Entwicklung Ihres Kindes reden können.

Denken Sie an sportliche Begabungen. Hier ist es viel „normaler“, dass zum Beispiel ein kleiner Fußballer, der ganz besondere Trainingsbegeisterung und ganz besonderes Spielgeschick zeigt, vom Trainer auch besonders gefördert wird und bald in die nächste Mannschaft „aufsteigt“. Nur das Training für die „kleinen grauen Zellen“ wird oft problematisiert.

Vielleicht sind die Argumente in diesem Text auch hilfreich, wenn Sie Ihre Entscheidung Anderen, die Ihnen wichtig sind, verständlich machen wollen. Gegen Neid allerdings ist kein Kraut gewachsen. Damit müssen Sie aber irgendwann sowieso zurechtkommen, spätestens dann, wenn Ihr Kind Schulleistungen zeigt, die seiner Begabung entsprechen.


„Unser Kind soll in einen Kindergarten gehen, der in der Nähe unserer Wohnung und in der Nähe der Schule liegt, in die unser Kind später eingeschult wird.“

Organisatorische Probleme können es erschweren, Ihr Kind im Kindergarten Ihrer Wahl anzumelden. Vielleicht gibt es aber doch Möglichkeiten, diese Probleme zu lösen. Auf jeden Fall sollten Sie sich den in Frage kommenden Kindergarten einmal unverbindlich ansehen.
Wenn Ihr Kind die Situation schon vorher überblicken könnte, würde es sich vielleicht selbst für den längeren Weg zum Kindergarten entscheiden. Diese Erfahrung haben fünf- bis sechsjährige Kinder gemacht, die ihren Kindergarten wechselten, weil sie sich im ersten Kindergarten nicht wohl und nicht richtig verstanden fühlten. Sie fanden den weiteren Weg für sich zweitrangig, nachdem sie andere, für sie passendere Kindergarten-Erfahrungen machen durften.

Nach unserer Erfahrung werden Kindergartenfreundschaften von Eltern oft überschätzt: Durch die Einschulung werden die Karten für jedes Kind neu gemischt, und die Kinder entdecken oft bald andere attraktive Freunde, wodurch die Freundschaften aus dem Kindergarten an Bedeutung verlieren und allmählich verblassen. Auch nehmen Schulen bei der Klasseneinteilung häufig gar keine Rücksicht auf Kindergartenfreundschaften.

Hoch begabte Kinder, die in ihrer Kindergartenzeit gute soziale Kompetenzen entwickeln konnten, finden sich auch in einer Klasse mit zunächst fremden Kindern gut zurecht und entdecken schnell ihre Favoriten.


„Ich will kein hoch begabtes Kind.“

Wenn Sie aber nun eins haben??
Ist es dann nicht besser, sich damit auseinander zu setzen, ehe sich um das Kind herum zu viele Schwierigkeiten aufgehäuft haben? Freuen Sie sich über Erzieherinnen, die bereit und in der Lage sind, Sie dabei ein Stück weit zu unterstützen und Ihnen ihre Erfahrung und ihr Wissen zur Verfügung zu stellen.

Nur Mut! Hoch begabte Kinder, die mit ihren Begabungen glücklich werden, sind keine besondere Belastung, sondern hauptsächlich eine Freude und Bereicherung für ihre Umgebung.