von Antonia Herberg

 

In unserem Montessori-Kinderhaus werden Beobachtungen schriftlich notiert und später in die Akte des Kindes eingetragen. Für meine erste IHVO-Hausaufgabe möchte ich die gesammelten Notizen an Hand des Beobachtungsbogens nach Huser betrachten, und zwar nach den Punkten A und B (siehe unten). Es gilt also die Notizen auszuwählen, die etwas zu diesen Punkten aussagen können.

Mein Ziel dabei ist, deutlicher wahrzunehmen, wie Manuel sich in verschiedenen Situationen verhält, welche Bedingungen für seine Entwicklung förderlich sind und ob meine Vermutung zutrifft, dass er ein großes Begabungspotenzial hat.

Eine kurze Kindbeschreibung

Manuel ist jetzt 5;0 Jahre alt und seit anderthalb Jahren bei uns. Seine Eltern haben beide hochqualifizierte Berufe, Manuel hat noch zwei ältere und ein jüngeres Geschwister.

Von Beginn an erscheint Manuel als ein Kind, dem die Begegnung mit den Dingen wichtiger ist als die Beziehung zu den Erwachsenen und den anderen Kindern. Er macht einen ausgesprochen ernsten Eindruck, spricht sehr gezielt und mit Nachdruck. Längere Zeit hat er Sprache bei uns nur dann eingesetzt, wenn er etwas haben wollte. Die Kommunikation beschränkte sich von seiner Seite aus vorwiegend auf „ja“ und „nein“. Jetzt erzählt er uns auch von seinen Erlebnissen, Gefühlen und tauscht sich gerne mit uns Erzieherinnen aus.

Zunächst hatte er eine ausschließliche Beziehung zu einem gleichaltrigen Jungen, der ihm kognitiv mit Abstand unterlegen war. Seine Spiele mit ihm wurden meistens innerhalb kurzer Zeit zu ausgelassenen Albereien, in denen Manuel die Clownsrolle einnahm.
Jetzt sucht er den Kontakt zu den Vorschulkindern. Ein Mädchen ist ihm anscheinend besonders wichtig. Er spricht viel und liebevoll mit Bewunderung von ihr, sie treffen sich auch „privat“.
Desweiteren ist mir nach wenigen Tagen aufgefallen, dass er in der Lage ist, sich ganz einer Tätigkeit hinzugeben und sie konzentriert über lange Zeiträume auszuführen. Wenn die Situation für ihn langweilig ist, nimmt er die Clownsrolle ein und kann dies auch bei nachdrücklicher Bitte der Erzieherinnen nicht ohne Hilfe stoppen.
Konfrontiert man ihn dann mit einer herausfordernden Aufgabenstellung, ist er sofort wieder in der Haltung der Sammlung. Sein Gesichtsausdruck wird freundlich und er agiert zugewendet zu dem Erwachsenen, der ihm die Aufgabe gegeben hat.

Anmerkung der Kursleitung:
Hier wird ein enger Zusammenhang zwischen Herausforderung und Stimmung sichtbar.

Die Mutter hat in Elterngesprächen berichtet, dass Manuel sich ganz anders verhält als seine Geschwister. Sie empfindet ihn als sehr schwierig, hat viele Konflikte mit ihm und weiß sich oft nicht anders zu helfen, als ihn von der Familie zu isolieren. In dieser Situaltion verliert Manuel dann vollkommen die Fassung, tobt und zerschlägt Dinge.

Ordnen der schriftlichen Beobachtungen

A1 – Allgemeiner Entwicklungsvorsprung / Interesse an Zahlen und Buchstaben

Manuel (5;0) möchte rechnen. Er löst mit Hilfe der Perltreppchen zehnerüberschreitende Plus-Aufgaben. Die gelösten Aufgaben trägt er sorgfältig in ein Heft ein.

Zwei Tage später möchte er weiter in seinem Rechenheft arbeiten. Er tut es selbstständig, 1,5 Stunden lang und zeigt mir dann seine Arbeit: „Guck mal, so viel hab ich geschafft.“ Er schaut während der Rechnerei überhaupt nicht nach den anderen Kindern.

A2 – Schnelle Auffassungsgabe und Neugier

Manuel (4;8) hat eine Einführung in Zahlen und Chips bekommen. Ich habe ihm gezeigt, dass es gerade und ungerade Zahlen gibt. Zahlen, die man halbieren (durch 2 teilen) kann und die ungeraden Zahlen, bei denen das nicht so einfach geht.
Er probiert alle Zahlen von 1 bis 10 durch und sagt dann: „Null kann man auch nicht teilen.“
Anschließend fordere ich ihn auf, die geraden Zahlen mittels Papier, Wachsstiften und Sandpapier durchzureiben. Er tut das selbstständig und sorgfältig. Dabei beschließt er, daraus ein Buch zu machen. Zu mir sagt er: „Ich will aber auch die Zahlen, die man nicht teilen kann.“ Ich nicke und er macht zwei Bücher. Es geht ihm sichtlich gut dabei.

Manuel (4;9) spielt zurzeit täglich mit dem Stromkasten und ist dabei geschickt, hat einen Plan und versucht zäh, ihn zu verwirklichen (Reihenschaltung, Kreisschaltung). Er konrolliert, ob die Verbindungen geschlossen sind, entdeckt, wo sich Kabel lösen, und befestigt sie wieder, bis es funktioniert. Dann lehnt er sich zurück und schaut es lächelnd an.

Manuel (4;11) ist mit dem Stromkasten beschäftigt. Er entdeckt, dass der vordere Teil des Schraubenziehers den Strom leitet. Begeistert ruft er mich und zeigt es mir. Ich gebe ihm ein Holzstäbchen und fordere ihn auf, es an die Stelle des Schraubenziehers zu halten. Manuel nimmt das Stäbchen und wirft es verächtlich auf den Tisch. Mit Abwehr in der Stimme sagt er: „Holz leitet nicht.“ Ich frage: „Woher weißt du das?“ Er antwortet abwehrend: „Weiß ich eben!“

Manuel (4;11) zündelt beim Kerze anmachen gewagt herum. Ich nehme ihm die Streichhölzer weg und gebe ihm stattdessen ein Feuerzeug, weil ich denke, er ist unterfordert mit den Streichhölzern. Nach kurzer Zeit gelingt ihm, die Kerze auch mit dem Feuerzeug anzuzünden.

A 3 – Orientierung an älteren Kindern und Erwachsenen

Manuel (5;0) läuft im Garten hinter den großen Jungs her. Er ruft wie sie laute Anfeuerungsrufe. Mehrmals schubst er einen der Jungen von hinten. Zunächst ignorieren die Jungen das. Dann schubst Manuel kräftiger, einer fällt hin. Der Junge und seine Freunde schimpfen und sagen, er soll abhauen. Manuel steht still und hört zu; sobald die Jungen los laufen, läuft er wieder hinterher.
Dieser Ablauf wiederholt sich über ein paar Tage.

Manuel (5;2) sucht seit einiger Zeit verstärkt die Nähe von Luisa (6 Jahre). Sie spielt mit ihm und er wirkt strahlend und glücklich.

Anmerkung der Kursleitung:
Konntest Du beobachten, wie dieser Kontakt zustande kam? Was sind ihre gemeinsamen Spielinhalte?

A 5 – Lange Aufmerksamkeit und starke Eigenmotivation

Manuel (5;0) war einige Tage nicht da. Er kommt gleich rein und geht gleich zu seiner Schublade. Er sagt: „Ich habe hier noch was angefangen. Das will ich gleich weitermachen.“ (Dinos abpausen.) Er arbeitet 1,5 Stunden daran, ohne die Umgebung zu beachten.
Am nächsten Tag kommt er strahlend herein und geht gleich an die Arbeit. Er möchte noch mehr Dinos malen. Er arbeitet fast 2 Stunden daran und unterbricht nur für eine kurze Frühstückspause. Er fädelt sein Buch zusammen. Weil die Löcher klein sind und der Faden dick ist, hat er einige Mühe. Als es dann klappt, sagt er zu sich selber: „Geht doch!“

Manuel (4:6) spielt mit den NAEF-Steinen. Er baut die abgebildeten Vorlagen nach. Alle gelingen ihm. Immer wenn er eine geschafft hat, fordert er mich strahlend auf, sein Werk anzuschauen. Er spielt über Tag hinweg oft mit diesen Steinen und ist dabei sehr konzentriert und ausdauernd.

A 6  – Hohe Ansprüche an sich selbst

Manuel (4;11) macht beim Ritter-Projekt der Praktikantin mit. Sie basteln ein Schild und bemalen es mit einem selbst ausgedachtes Motiv. Nach einer Weile kommt Manuel aus dem Raum und schaut sehr bedröppelt aus.
Ich hocke mich zu ihm und frage ihn, warum er zurück kommt. Er schluchzt: „Ich kann nicht mehr mitmachen.“
Er lässt sich in den Arm nehmen und erzählt, dass er einen Löwen auf sein Schild malen will und das aber nicht kann. „Die B. (Praktikantin) kann es auch nicht.“
Ich erinnere ihn an die Wappen, mit denen er schon gearbeitet hat. Wir suchen gemeinsam eines mit einem Löwen aus und kopieren es. Er läuft fröhlich zurück und ruft: „Ich habe jetzt einen Löwen!“ Er verarbeitet die Kopie zu einem Ritter-Schild. Das Produkt ist gelungen: Ein Schild mit Haltegriff. Er ist das einzige Kinde der Gruppe, der auf diese Idee gekommen ist.

A 13 – Innovativer Gebrauch von Materialien, künstlerische Originalität

Manuel (4;7) schneidet tagelang briefmarkengroße Papierschnipsel und bemalt sie sorgfältig. Ich frage ihn, ob er nicht ein größeres Papier zum Malen möchte. Er lehnt es mit einem knappen „Nein“ ab. Nach mehreren Tagen kommt er mit den vielen bemalten Schnipseln zu mir und sagt:“Jetzt will ich ein Buch machen für meine Fotos.“

A 14 – Sinn für Humor und Wortspiele

Manuel (5;2) sagt nach längerer Suche und mit frohem Gesicht: „Jetzt weiß ich, was ich mache. Er holt sich das Europa-Puzzle, legt es auf den Teppich. Er sieht mich an und sagt: „Ich will das mit dem Drum-herum-malen machen.“ (Also die Puzzleteile als Zeichen-Schablonen benutzen.)
Ich helfe ihm beim Start und er zeichnet Stück für Stück ab. Dabei sagt er: „Jetzt kommen die Dänen mit den Zähnen“ – „Hier kommen die Schweden mit Krach und Radau“, usw. Er sucht für jedes Land, das er umzeichnet, einen Spruch und lacht dann erfreut. Als es knifflig wird, weil die Länder so klein sind, sage ich: „Eine schwierige Sache.“ Er antwortet: „Ja, ist anstrengend, aber macht Spaß. Davon will ich mehr.“

Als er die Europa-Karte fertig hat, bearbeitet er auf dieselbe Weise die Erdteil-Karte.

Manuel (5;1) bastelt seit zwei Tagen an einem Krokodil. Er wirkt zufrieden und stolz. Er klebt dem Krokodil ein Bein an, hebt es hoch, schaut es an und singt: „Krokodil hat nur ein Bein und ist irgendwie ein Schwein.“ Zwei ältere Kinder neben ihm verlangen mit tadelnder Stimme, er solle sofort aufhören. Manuel sieht sie mit erstauntem Gesicht an und singt wieder seinen Reim. Dabei schaut er das eine Kind an. Das Mädchen wendet sich zu mir und sagt: „Manuel singt böse Wörter.“ Ich frage: „Ist das böse?“ Manuel mit erhobener Stimme: „Das ist nicht böse, das ist lustig. Genau, lustig!“ Er singt es noch einmal und schaut mich dabei lachend an. Dann bastelt er weiter.

B 1 – Unkonzentriert bei Fleißarbeiten

Manuel  (5;2) malt die Europakarte aus, die er in den Tagen zuvor mit sehr viel Ausdauer und Sorgfalt aufgezeichnet hat (siehe oben). Zunächst überträgt er die Originalfarben sehr genau, später nimmt er irgendeine Farbe und schließlich malt er mit fahrigen Bewegungen über den Rand.
Er beginnt mit den Kindern in seiner Nähe zu sprechen und zu albern und verteilt dabei die Farbe auf dem Papier, ohne die Konturen zu beachten.

B 3 – Aggressives, forderndes oder clownhaftes Verhalten

Nachdem Manuel (5;0) einige Tage lang durch Alberei, große Lautstärke und Regelüberschreitungen die anderen Kinder der Gruppe gestört hat, fange ich ihn gleich morgens ab. Ich will ihm eine Aufgabe geben. Er reagiert abwehrend, schüttelt den Kopf und macht ein Schmollgesicht. Ich nehme ihn wortlos an die Hand, wähle ein Spiel, breite es auf dem Teppich aus und formuliere die Aufgabe.
Es handelt sich um ein Zuordnungsspiel aus dem sprachlichen Bereich (Zusammensetzen von Substantiven zu neuen Begriffen). Er hört zu, wir ordnen zwei Paare gemeinsam und dann macht er alleine weiter.
Manuel ist durch nichts abzulenken und schafft alle Karten. Danach geht er ausgeglichen und geschäftig anderen Dingen nach Es gibt an diesem Vormittag keinen Zusammenstoß mit anderen Kindern.

Manuel weiß genau, was er will und was nicht: Den Interessenfragebogen und insbesonders die letzte Seite hat er klar und energisch ausgefüllt:

Reflexion

Mein Ziel habe ich zum Teil erreicht. Es ist deutlich, dass Manuel eine eigene Vorstellung davon hat, was er tun will. Wenn wir es leisten können, ihn mit seinen Interessen im Blick zu haben, da einzuhaken und zur Stelle zu sein, kommt er zu weiterführenden Tätigkeiten.

Sehr bewusst ist mir geworden, wie stark seine emotionale Befindlichkeit davon abhängt, was er tun kann, und wie förderlich es für ihn ist, wenn er dabei einen angemessenen Spielpartner hat.

Es wäre gut gewesen, noch mehr konkrete Beobachtungen zur Verfügung zu haben. Das scheiterte daran, dass ich in den letzten Wochen mit anderen Aufgaben in der Kita sehr belegt war (Personalausfall). Ich möchte diese Form der Beobachtung mit Hilfe des Beobachtungsbogens weiter fortsetzen.

Darüber hinaus hat sich eine Irritation bei der Wertung des Wahrgenommenen dadurch ergeben, dass der Vater nicht mehr bei der Familie wohnt. Jetzt ist es notwendig, ganz besonders hinzuschauen, um erkennen zu können, welche Verhaltensweisen sich auf diesen Einbruch in Manuels Leben zurückführen lassen und welche „lediglich“ Ausdruck seines „Bildungshungers“ sind. Dadurch möchte ich den Fehler vermeiden, auf emotionale Bedürfnisse stets mit kognitiver Herausforderung zu antworten. Das könnte für seine Entwicklung unter Umständen fatale Folgen haben.

Mehr zu Manuel:
Vom Clown zum Könner

 

Datum der Veröffentlichung: April 2020
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