von Edeltraut Walter

 

Ansgar (4;11 Jahre alt) lebt bei seiner Mutter. Sie ist freiberufliche Schriftstellerin, hat einen Doktortitel und ist hoch begabt. Die Geschwister der Mutter sind nach ihrer Aussage auch alle hoch begabt und üben naturwissenschaftliche Berufe aus.

Ansgar hat großes Interesse an Buchstaben und Zahlen. Er schaut sich gerne Bilderbücher an und versucht, Wörter selber zu schreiben oder zu lesen.

…kurz gefasst…

Am Anfang ihres IHVO-Zertifikatskurses beschrieb die Autorin den noch Vierjährigen, bezog den Interessenfragebogen für den Kindergarten und den Elternfragebogen mit ein und ließ den Jungen an einem Computerprojekt teilnehmen, das für die älteren Kinder gedacht war.

Ansgar hat eine schnelle Auffassungsgabe – so braucht er im Stuhlkreis immer nur eine einzige Erklärung, während andere Kinder oft noch weitere Erläuterungen in anderen Worten brauchen. In solchen Situationen wird Ansgar schon mal ungeduldig, da er die Zusammenhänge schon längst verstanden hat und es ihm zu lange dauert, bis es weitergeht. Er stellt dann weitergehende Fragen und fordert so Aufmerksamkeit ein.

Zunächst orientierte er sich in der großen altersgemischten Gruppe an den Schulkindern. Seit diese Möglichkeit entfallen ist (da wir leider keine Schulkinder mehr betreuen), sucht er verstärkt das Gespräch mit den Erwachsenen, zeigt uns Gebasteltes oder fragt gezielt nach Büchern, zum Beispiel über den Weltraum aus der Serie „Was ist was?“. Er sucht dann das Gespräch und fragt nach, möchte zum Beispiel die Namen von Sternen oder Planeten wissen und weiß sie auch noch nach einigen Tagen. Er bastelt Weltraumschmuck und zeigt mir daran den Saturnring.

Wenn ihn ein Thema besonders interessiert, zeigt er große Eigenmotivation und Ausdauer. Das wurde zum Beispiel deutlich, als wir die Weihnachtsgeschichte in unserer Kita mit einem Weihnachtsweg gestalteten. Ansgar war so begeistert, dass er jeden Morgen kontrollierte, wie weit Maria und Josef schon gegangen waren. Seine Mutter erzählte, dass er unseren Weihnachtsweg zu Hause nachgebaut hat. Dabei nutzte er kreativ eine Tierfigur mit Handwerkszeug als Josef, um ihn so als Zimmermann darzustellen. Dann fragte er seine Mutter, ob sie erkennen könne, wer Josef sei. Mit dem Aufbau seines Weihnachtsweges war er tagelang beschäftigt.

Wenn seine Basteleien nicht seinen Vorstellungen entsprechen, ist er unzufrieden und fängt noch einmal an oder erweitert das Produkt. Manchmal ist er frustriert darüber, dass seine Hände noch nicht das umsetzen können, was er sich überlegt hat.

Ansgar ist gern bereit, sich neuen Aufgaben zu stellen.

Er fordert häufig Diskussionen über Kita-Regeln und versucht auch, eigene Regeln aufzustellen. Die möchte er dann im Gruppenalltag umsetzen, auch wenn es aus organisatorischen Gründen gerade nicht passt: etwa beim Mittagessen auf dem Flur spielen.

Er möchte mehr Selbstständigkeit, will alleine – wie die Vorschulkinder – in den Werkraum gehen dürfen.

Seine Mutter berichtet, dass er im Theater in der ersten Reihe sitzen wollte, wo nur noch ein Platz frei war. Während der Rest der Gruppe – mehrere Eltern und Kinder – viel weiter hinten saß, blieb er bis zur Mitte des Stückes vorne sitzen. Dann kam er zur Mutter und meinte, nun gehe es, er könne nun auch hier bleiben.

Wenn in der Kita-Gruppe die Rätselkiste mit Fragekarten zu bestimmten Bereichen ausgepackt wird, beendet er sofort seine bisherigen Aktivitäten und will mitmachen. Meistens beantwortet er die Fragen am schnellsten.

Vorrangig beschäftigt sich Ansgar mit Kindern, die ihm bei seiner Wortgewandtheit und seinen Fragen folgen können.

Der innovative Gebrauch von Materialien ist bei Ansgar sehr ausgeprägt. Er bastelt, malt und klebt sehr viel, sehr konzentriert und ausdauernd. Er holt sich verschiedene Materialien aus dem Werkraum und fragt nach solchen, die für die Kindern nicht frei zugänglich sind. Damit konstruiert er phantasievolle Werke, die er dann Kindern und Erwachsenen genau erklärt.

Ansgar hat einen ausgeprägten Sinn für Humor. Er liebt es geradezu, Geschichten zu erfinden und Witze zu erzählen. Sobald er eine Erzieherin auf dem Flur trifft, wird die ausgedachte Geschichte oder der neueste Witz erzählt. Er genießt es dann, eine positive Bestätigung zu erhalten.

Ansgar stellt sich gerne eine Phantasiewelt vor und bittet andere Kinder mitzuspielen.

Wenn Ansgar unterfordert ist, kommt es vor, dass er zum Gruppen-Clown wird: er macht Faxen, provoziert die Erzieherin, indem er immer redet, auch wenn es nicht zum Thema gehört, wobei er versucht, andere Kinder zum Mitmachen zu gewinnen.

Es fällt besonders auf, dass Ansgar einen ungewöhnlich ausgeprägten Wortschatz besitzt. Er gibt in der Gruppe anderen Kindern Erklärungshilfen, umschreibt Wörter mit anderen Wörtern, wenn Kinder etwas nicht verstanden haben. Seine Ausdrucksfähigkeit und seine Grammatik liegen deutlich über dem Altersdurchschnitt.

Auch verfügt er über ein gutes Abstraktionsvermögen und über ein gutes räumliches Denkvermögen. Das merke ich immer wieder bei seinen ausgedachten Geschichten und bei seinen Reaktionen und Äußerungen in bestimmten Situationen.

Er kann gut beobachten und wahrnehmen. Er kann sich in Kinder in besonderen Situationen hineinversetzen und sie dann gegebenenfalls auch sehr gut trösten.

Ansgar besitzt Führungskompetenz. Bei Rollenspielen übernimmt er immer die Führungsrolle und führt Regie. Dabei achtet er darauf, dass alles gerecht zugeht. Die anderen Kinder lassen sich gerne leiten, wenn sie sich dabei auch selbst verwirklichen können.

Ansgar hat eine Vorliebe für Kunst, Sprache und Schrift. Er hat sich bereits ein Fachwissen zum Thema Weltraum angeeignet. Er experimentiert gerne: So baute er sich aus einer Milchtüte und einer Linse einen Fotoapparat, den er dann in seiner Funktion genau erklären konnte.

Um mein Bild von Ansgar zu ergänzen, bat ich seine Mutter, den Elternfragebogen auszufüllen und sprach anschließend mit ihr darüber.
Die Antworten der Mutter finden Sie hier.

Ansgars Antworten zum Interessen-Fragebogen für den Kindergarten finden Sie hier.

Aus all diesen Eindrücken zog ich den Schluss, dass Ansgar an einem Computerprojekt Interesse haben und davon profitieren könnte.

Computerprojekt

Als zusätzliche Förderung für Ansgar habe ich mir also ein Computerprojekt überlegt. Seine Mutter berichtet, dass er noch nicht am Computer gearbeitet hat.
Das Projekt soll Ansgars Medienkompetenz stärken, seine Vorlieben für Schrift und Sprache unterstützen und zur Entwicklung seines mathematischen Denkens beitragen.

Gemeinsam mit einer weiteren Erzieherin gehe ich mit den am Projekt teilnehmenden Kindern in den Werkraum, wo unsere Computer für die Kinder stehen. Als ich den Kindern sage, dass sie nun am Computerprojekt teilnehmen, erklärt Ansgar ganz stolz, er dürfe teilnehmen, obwohl er noch nicht fünf Jahre alt und kein Vorschulkind sei.

Anmerkung der Kursleitung:
Für Ansgar ist das offenbar ein ganz wichtiges Signal: Die Erzieherin sieht mich richtig. Sie weiß, was ich gerne machen will und was in mir steckt.

Nachdem wir einige Computerbegriffe erläutert haben, beginnen wir mit dem aktiven Teil, einer Schulung der Auge-Hand-Koordination. Dazu nutzen wir ein entsprechendes Schulungsprogramm: Bewegt man die Maus, wird der Mauszeiger über ein Rasterfeld bewegt. Durch Berührung mit dem Mauszeiger wird das jeweilige Rasterkästchen gelöscht und das darunter liegende Bild sukzessive freigelegt. In einem weiteren Schritt wird die Mausmotorik weiter verfeinert und der Mausklick eingeführt. Danach wird das Tippen der Zahlen und Buchstaben auf der Standard-Tastatur geübt.

Danach geht es in drei Schritten um das rechnerische Denken. Zunächst werden Würfelbilder im Zahlenraum von 1 bis 9 gezählt und die jeweiligen Zahlen über die Tastatur eingegeben. Dann werden durch Sortieren unterschiedlicher geometrischer Figuren Reihen gebildet. Im letzten Teil werden einfache Additionsaufgaben dargeboten.

In einem weiteren Unterprogramm geht es um Buchstaben, die über den Bildschirm verteilt sind und dann über die Tastatur eingegeben werden.

Jedes Kind bekommt zum Abschluss eine Teilnehmer-Urkunde.

Ansgars Einstellung zu dem Computerprojekt

Ansgar ist begeistert und fragt immer nach neuen Terminen für das Projekt. Wenn er dran ist, mag er gar nicht aufhören.

Es fällt ihm zuerst schwer, die Mausklicks auszulösen, weil er dabei seine Hand verkrampft. Aber er lässt sich dadurch nicht entmutigen und bleibt weiterhin sehr motiviert. Er nutzt die kleine Gruppe (insgesamt drei Kinder, meistens gruppenübergreifend), um mit den anderen über die Computerprogramme zu diskutieren.

Offenbar ist es für Ansgar eine weitere Möglichkeit sich zu entfalten. Da die Teilprogramme nach Schwierigkeitsgraden unterteilt sind, gibt es für ihn immer neue Anregungen und Herausforderungen. Er kann seine mathematischen Fähigkeiten ausbauen und wird nicht einseitig nur nach seinen bisherigen Vorlieben gefördert. Ansgar nimmt an dem Computerprogramm bis zu seiner Einschulung teil.

Anmerkung der Kursleitung:
Ansgars positive emotionale Reaktion auf das Computerprojekt lässt vermuten, dass sein Potenzial hoch und wahrscheinlich noch längst nicht ausgeschöpft ist.

 

Datum der Veröffentlichung: Oktober 2016
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