Kurz nach der Veröffentlichung des Artikels „Integrative Förderung – was heißt das?“ erreichte mich der folgende Brief, den ich wegen seiner klaren und eindringlichen Parteinahme für die behinderten Kinder gerne veröffentliche.

Die Verfasserin des Briefes ist eine erfahrene Sonderpädagogin, die seit vielen Jahren mit behinderten Kindern arbeitet.
Der Name ist der Redaktion bekannt.

Sehr geehrte Frau Vock!

Ich las Ihren Artikel mit großem Interesse und stimme ihm auch im Hinblick auf behinderte Kinder zu.
Besonders gut gelungen finde ich Ihre Beispiele für seh- und geistig-behinderte Kinder oder Kinder mit einer Spastik.

Es gibt noch viele weitere Beispiele für ungünstige Situationen, die das Wohlbefinden und die Lernmöglichkeiten von behinderten Kindern beeinträchtigen, wenn sie in Regelkitas und Regelschulen „inkludiert“ werden.

– Das hörgeschädigte Kind kann in einer Klasse mit 25 Schülern kaum etwas verstehen. Es wird dies der Lehrerin selten kund tun.

– Ein stark stotterndes Kind wird sich kaum im Unterricht zu Wort melden, und jedes Antworten ist eine Qual.

– Für ein Kind, dessen Behinderung nicht offensichtlich ist, z.B. ADS, Lern- oder Emotional-soziale Behinderung ist es besonders schwierig.
Es kann selten von allen Mitschülern, Eltern, anderen Lehrern Verständnis und Unterstützung erwarten.

– Wer übt und praktiziert die Gehörlosensprache, die Blindenschrift oder vermittelt Schülern ohne verbale Sprache andere Unterstützte Kommunikationsmöglichkeiten (z.B. Sprachcomputer)?

Dazu braucht es immer eine kompetente Fachkraft, die das Kind kontinuierlich mehrere Jahre lang unterrichtet.

Wechselnde Aushilfskräfte, die selten das Wissen, die Motivation und oft auch nicht das nötige Verständnis für

pädagogische Arbeit (Geduld und üben, üben, üben…) beruhigen nur das Gewissen derer, die es besser wissen müssten.

Die Finanzierung notwendiger Hilfsmittel ist zur Zeit problemlos und gut, aber ein Gerät, was nicht bedient werden kann, ist wie ein Buch im Schrank, welches man nicht gelernt hat zu lesen.

Mir gefiel auch Ihre Anmerkung zu den Kindern aus „Problem“- Familien – obwohl: nach außen wird ja alles immer so dargestellt, dass alles normal ist und dass alle Kinder hervorragend zurecht kommen. Was ist mit Kindern, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen? Es gibt nicht mehr viele Schulkinder, deren Eltern nicht getrennt sind.

Selbst ältere Schulkinder brauchen dringend die nötige Nestwärme, Personen in der Schule, denen sie vertrauen, die sie akzeptieren und sie zu nehmen wissen. Wechselnde Lehrer, klassenübergreifender Unterricht, große Schulen und Klassen. Das Kind/ der Schüler kann das angeblich prima vertragen – so lange, bis es sich und Anderen Probleme bereitet.

Inklusion verhilft vielen Eltern behinderter Kinder zu der Wunschvorstellung oder dem Image in der Umgebung: “Mein Kind ist ja nur körperbehindert.“

Und: Viele behinderte Kinder erhalten in der Schule durch eine Hilfskraft Unterstützung, durch die dann oft auch das eingeschränkte Leistungsvermögen des Kindes vertuscht wird. Gedacht ist, dass diese Hilfskraft durch den Sonderpädagogen angeleitet wird. Aber die Erfahrung zeigt, dass es oft wenig bringt, wenn Aufgaben an eine ungelernte Person delegiert werden.

Es gibt zu diesem Thema unendlich viel zu sagen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Kinder/ Schüler, die Hilfe im Schulalltag benötigten, vor einigen Jahren auch unkomplizierter, fachlich kompetenter und schneller Unterstützung erhielten. Und die Eltern/ Schüler, die es nicht wollten oder benötigten, waren im integrativen Bereich aufgehoben.
Heute aber wissen viele Eltern gar nicht mehr, dass es auch Förderschulen gibt, und über allem steht oft nicht die Frage: „Welche Schulbildung ist für welches Kind optimal? Wer zeigt sich verantwortlich? Heute ist es Frau X im 1.Schuljahr; morgen der Therapeut XY (das Kind bringt ja Rezepte); am nächsten Tag die ungelernte Helferin, die das macht, was ihr in den Sinn kommt.
Und bald darauf sind es wieder andere, für die dann irgendwann kein Geld mehr da ist, weil Jemand entschieden hat, dass das Kind keine Förderung mehr benötigt…

Datum der Veröffentlichung: Mai 2016
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