von Jordis Overödder

 

Adrian ist 5;0 Jahre alt. Er besucht unsere Einrichtung und diese Gruppe seit zwei Jahren. Ich bin vor etwa einem Jahr als Gruppenleitung in die Gruppe gekommen. Meine Beobachtungen aus diesem Jahr will ich hier beschreiben.

Adrian fiel mir von Beginn an (er war 4;0) als ein sehr aktives und begeisterungsfähiges Kind auf. Die Anerkennungspraktikantin hatte für die damals in der Gruppe zahlenmäßig unterlegenen Jungen ein besonderes Angebot ins Leben gerufen, die „Krokodilbande“. Bewegungsspiele, Eiscreme herstellen, Knete machen, egal was es war, Adrian nahm immer sehr gerne an diesen Aktivitäten teil.

Adrians Spielfreunde waren und sind besonders die älteren Kinder. Ob es daran liegt, dass es keine gleichaltrigen Jungen in der Gruppe gibt, weiß ich nicht. Jedenfalls spielte er auch seltener mit den gleichaltrigen Mädchen, sondern lieber mit den älteren, zum Beispiel mit Lotta und Nele, die beide über ein Jahr älter sind.

Nach den Sommerferien im letzten Jahr, als die „Großen“ in der Schule waren und die nächste Generation Vorschulkinder nachrückte, begann für Adrian eine schwere Zeit. Die neuen Vorschulkinder waren sehr damit beschäftigt, ihre neue Rolle und Rangordnung auszuhandeln. Adrian wollte immer gerne mitspielen, wurde aber plötzlich abgewiesen, weil er ja noch „klein“ sei. Das beschäftigte ihn sehr, denn von seinen Fähigkeiten und Interessen her konnte er durchaus mit den älteren Kindern mithalten. Ständig gibt es Streit, weil Adrian beharrlich darum kämpfte, in die Gruppe aufgenommen zu werden.

Anmerkung der Kursleitung:
Wäre es aus Deiner heutigen Sicht möglich gewesen, ihn so zu unterstützen, dass er in die Gruppe der Vorschulkinder hinein gekommen wäre? Offensichtlich war es ihm ja sehr wichtig. Oft haben sehr begabte Kinder ein sicheres Gefühl dafür, wo sie am besten hinpassen. Was hätte geschehen müssen, damit die Großen ihn akzeptiert hätten? Wie war die Haltung der Erzieherinnen? War sie in diesem Zusammenhang ausschlaggebend?

Er steckte sehr viel Energie in diese Auseinandersetzungen und sie zehrten an seinem Selbstwertgefühl. Adrian zeigte zu dieser Zeit eine große Unruhe, war ständig in Bewegung und konnte, zum Beispiel beim Mittagessen, kaum einen Augenblick sitzen bleiben. Das gleiche berichteten auch seine Eltern von zu Hause.
Adrian kaute intensiv an seinen Fingernägeln, am Ärmel seines Pullis und abends im Bett sogar an den Fußnägeln. Er hatte große Schwierigkeiten einzuschlafen und wachte beim kleinsten Geräusch wieder auf, war dann nicht mehr müde.

Im Kindergarten war Adrian sehr ungeduldig. Wenn er etwas haben wollte, so musste das sofort sein. Oft nahm er anderen Kindern Spielsachen weg. „Die Mara hatte das jetzt schon ganz lange!“ war dann sein Argument.
Mara hatte von zu Hause ihre Knete mitgebracht und wollte sie nach gemeinsamem Spiel wieder einpacken.

Als Mara Adrian dazu bringen wollte, die Knete herzugeben, antwortete er: „Das ist nicht Maras, die ist vom Kindergarten!“

Er versuchte seine Ziele oft mit Argumenten zu erreichen, auch wenn er wusste, dass diese nicht haltbar waren. Die Mutter äußerte sich besorgt: „Mein Kind lügt ganz bewusst!“

Ich sehe in diesem Verhalten Adrians unbändigen Drang, für seine Interessen zu kämpfen, für die Dinge, die ihn im wahrsten Sinne des Wortes „umtreiben“. Er will mit den langen Bauklötzen eine Autobahnbrücke bauen. Er will aus Knete einen Nudelsalat machen, er braucht jetzt sofort die Kleberflasche weil er…

Er stößt mit seinem Ideenreichtum und seiner Kreativität an die Grenzen der anderen Kinder.

Im Herbst lernten die Vorschulkinder im Computerkurs, wie man mit dem PC umgeht, wie die Spiele funktionieren. (Siehe: Unser Fachfrauenprinzip…)

Adrian (inzwischen 5;4) war Feuer und Flamme.

Er wollte auch gleich noch den Computerführerschein machen!

Mit großer Ausdauer und Konzentration saß er dabei, wenn die älteren Kinder spielten. Er kannte ganz schnell die einzelnen Funktionen und wusste, wie man diese oder jene Aufgabe lösen muss.

Er jammerte und bettelte beständig, wann er denn endlich den PC-Führerschein machen darf. Da die Gruppe der Vorschulkinder sehr groß war, konnte er nicht sofort mitmachen, sondern musste sich etwas gedulden.

Anmerkung der Kursleitung:
Auch hier muss er wieder warten, obwohl er riesiges Interesse zeigte.

Zu dieser Zeit hatte ich das erste Gespräch mit den Eltern. Zusätzlich zu der Unruhe und den Schlafschwierigkeiten…

Kursleitung:
Lies doch bitte in diesem Zusammenhang mal den Artikel Geringes Schlafbedürfnis. Vielleicht könnte der Artikel den Eltern helfen.

… berichten sie von heftigen Wutausbrüchen und davon, dass Adrian oft Regeln missachtet und dann lange diskutiert. Der Vater hat 24-Stunden Dienste bei der Feuerwehr. Die Mutter fühlt sich oft abends mit beiden Kindern überfordert, wenn der Vater im Dienst ist. Adrian hat die kleine einjährige Schwester sehr gern und kümmert sich ganz fürsorglich um sie, manchmal mehr, als der Mutter recht ist.

Den Umgang in der Familie erlebe ich von außen als sehr liebevoll und auf gegenseitiges Verständnis bedacht. Die Eltern sagten von sich, sie möchten nicht so streng sein, wie sie selbst damals erzogen worden sind. Wir sprachen über die Bedeutung von klaren Regeln und Grenzen, dass sie nicht im Widerspruch zu einer liebevollen Erziehung stehen, und wie Adrians Bedarf an Freiräumen für seine Interessen gesichert werden könnte.

Anmerkung der Kursleitung:
Gut formuliert! Beides ist gleich wichtig.

Er möchte zum Beispiel immer an der Kerze spielen. Einmal hat er so fest gepustet, dass ihm das heiße Wachs ins Gesicht gespritzt ist. Die Eltern reagierten mit einem Kerzen-Verbot. Ich plädierte dafür, ihm dieses Lernfeld nicht zu verwehren, aber klare Bedingungen aufzustellen, zum Beispiel dass Adrian nur unter Aufsicht der Eltern Kerzen anzündet, dann auch in Anwesenheit eines Elternteils kleine Experimente machen darf.

In seinen häufigen Grenzüberschreitungen sehe ich auch einen Drang nach Unabhängigkeit.

Anmerkung der Kursleitung:
Du hast es oben gut formuliert: Nicht der Drang nach Unabhängigkeit an sich ist gefährlich; Die Kinder sind nur dann in realer Gefahr, wenn die Erwachsenen mit ihrer Aufmerksamkeit und Erfahrungsvermittlung nicht hinterher kommen.

Er will Dinge für sich entscheiden, eigene Ideen verfolgen und eigene Erfahrungen machen.

Dabei kann er seine Fähigkeiten noch nicht gut einschätzen, oder er nimmt sich für eine langwierige Einschätzung der Lage keine Zeit.
So sprang er zum Beispiel einmal in Nachbars Teich, obwohl er noch nicht schwimmen konnte.

Anmerkung der Kursleitung:
Hier kann aber pädagogisch angesetzt werden. Die Eltern (und Ihr) müsstet nicht an seiner Experimentierlust, sondern nur an seiner Unvorsichtigkeit arbeiten.

Adrian besucht jetzt schon seit längerem auf Wunsch der Mutter am Nachmittag einen Schwimmkurs. Anfangs wollte er das nicht und hat sich sehr dagegen gewehrt. Ich vermute, die Schwelle war ihm wieder einmal zu hoch. Vielleicht hatte er Angst, es nicht zu schaffen oder das langwierige Üben war ihm zu lästig. Die Mutter hat jedenfalls darauf bestanden. Mittlerweile hat er das Froschabzeichen bekommen und das Schwimmen-Üben macht ihm sehr viel Spaß.

Anmerkung der Kursleitung:
War das nach seinem Teich-Abenteuer? Dann ist wäre es nicht sehr verwunderlich, wenn er erst mal mit Angst reagierte.
„Die Schwelle war ihm wieder einmal zu hoch“ => in welchen Situationen konntest Du das noch beobachten, unabhängig vom Thema Schwimmen?

Adrian macht bei den älteren Kindern mit

Im Kindergarten ermöglichten wir ihm dann die Teilnahme am Computer-Kurs. Adrian war darüber sehr glücklich und stolz. Er war bald so fit auf diesem Gebiet, dass er sogar den älteren Kindern, die bei einigen Spielen noch Schwierigkeiten hatten, Tipps und Ratschläge geben konnte.

Anmerkung der Kursleitung:
Hier zeigen sich doch ein großes Potenzial und ein großes Lerntempo?

Unterstützt durch unseren Zuspruch und mit seiner eisernen Beharrlichkeit erreichte er auch schließlich sein Ziel, dass die älteren Kinder ihn öfters mitspielen ließen.

Dabei gab es immer noch Situationen, in denen er mit seinen Ideen aneckte. Einmal bauten die Kinder draußen einen Iglu aus Schnee. Sie waren den ganzen Vormittag eifrig mit der Ausgestaltung beschäftigt und hatten schon rote Nasen.
Da hatte Adrian den großen Wunsch, neben Haustür, Toilette und Garten in diesem schönen Iglu auch noch Steckdosen zu installieren.

Sein Vorgehen, mit dem Besenstiel Löcher in die Wände zu drücken, stieß auf erbosten Widerstand der anderen Kinder. Die anschließende Diskussion um eine Elektroinstallation, zu der Adrian mit großer Überzeugung Argumente lieferte, endete schließlich damit, dass die Anderen Adrian klar machten, dass er entweder von seiner Idee Abstand nahm oder am Spiel nicht mehr beteiligt würde.

Ich hatte das Gefühl, dass es hier von Seiten der Großen vornehmlich darum ging, ihre Machtposition nicht aus der Hand zu geben. Adrian kam mit seinen Argumenten dagegen nicht an. Ich habe versucht, ihm das auch so zu erklären, dass er wohl Recht hat, aber die anderen eben bestimmen möchten. Er fühlte sich von mir ernst genommen. Er entschied sich dafür, auf seine Steckdosen zu verzichten, um wieder mitspielen zu dürfen.

In solchen Situationen treffen zwei Herzenswünsche bei ihm aufeinander: „Dabei sein, mitspielen dürfen!“ und „Ich habe eine tolle Idee, die ich sofort umsetzten muss!“. Das ist ganz typisch für Adrian.

Anmerkung der Kursleitung:
Hoffentlich muss er nicht zu oft die Erfahrung machen, seine Ideen zurückzustellen (zu vergessen), um dazu gehören zu dürfen. Was könnte sonst mit ihm passieren?

Ein weiteres Angebot, an dem Adrian gerne teilnehmen wollte, war das Turnen der Vorschulkinder. Wir haben die Turngruppen nach Altersgruppen unterteilt, um den Kindern altersgemäße Bewegungsangebote machen zu können. Adrian setzte sich auch hier wieder vehement dafür ein, mit seinen älteren Freunden zusammen turnen zu können. Von seinen Fähigkeiten her konnte er gut mithalten. Wir gaben ihm die Möglichkeit, jedoch nicht jedes Mal, denn von Seiten der Älteren gab es Proteste, denn sie wollten auch mal unter sich sein.

Anmerkung der Kursleitung:
Hat er sich denn störend verhalten? Was heißt „unter sich“, was macht sie zu einer Gruppe, zu der Adrian nicht dazugehört? Nur sein Alter?

Wie die Eltern Adrian sehen

Vor ein paar Monaten hatte ich das zweite Gespräch mit den Eltern. Dazu habe ich sie gebeten, den Elternfragebogen auszufüllen. Als besondere Interessen nennen die Eltern Autos, Feuerwehr, Sachbücher (Was ist was – Feuerwehr und Polizei, Wieso Weshalb Warum – Thema Wetter, die Erde), Lernspiele am PC. Fernsehen schaut Adrian ungern, weil er, wie die Eltern vermuten, dabei nicht selbst aktiv sein kann.

Sie haben beobachtet, dass Adrian oft eine hohe Auffassungsgabe hat, dass er Dinge nur ganz am Rande hören und sehen muss, um sie irgendwann später abzurufen. So kann er sich gleichzeitig unterhalten und im Hintergrund den Wetterbericht im Radio hören, den er dann später ausführlich wiedergibt.

Auch scheinbar belanglose Informationen und Kleinigkeiten werden über sehr lange Zeit von ihm gespeichert und tauchen dann plötzlich wieder auf, weil er eine gedankliche Verbindung findet.

Anmerkung der Kursleitung:
Er hat vielleicht schon ein Gefühl dafür, dass er viel im Gedächtnis behalten kann, und sein Gehirn sammelt deshalb Informationen, auch wenn sie zur Zeit belanglos erscheinen mögen.
Vielleicht hat sein Gedächtnissystem sogar schon öfter die Erfahrung gemacht und gespeichert, dass es später dafür Verwendung hatte und hat für sich den Schluss gezogen: Aufheben! Wer weiß, wofür es irgendwann noch gut sein mag.

Adrian ist zu Hause sehr selbstständig, hat immer viele Lösungsvorschläge für Probleme und ein gutes technisches Verständnis. Besonders konzentrieren kann er sich nach Meinung der Eltern bei Gesellschaftsspielen, am PC und bei handwerklichen Tätigkeiten.

Fragen, die ihn beschäftigen, sind zum Beispiel: „Warum ist die Erde rund und warum fallen wir nicht runter?“

Angst hat er im Dunklen, zum Beispiel im Keller oder auf der Toilette. Beim Fahrradfahren-Lernen tat er sich schwer, weil er Angst hatte hinzufallen.

Diese Einschätzung der Eltern deckt sich auch mit meinen Beobachtungen. Adrian ist sehr neugierig und wissbegierig, besonders im Bereich der Naturwissenschaften.

Zu seinem Geburtstag haben Kinder ihm eine Krone bemalt, mit Piratenschiff, Sonne und Mond. Nach dem Zusammentackern liegen sich Sonne und Mond zufällig gegenüber. Adrian dreht die Krone begeistert hin und her: „Tag – Nacht! Das ist wie in echt!“

Adrian probiert vieles aus

Materialeigenschaften werden von ihm genau untersucht. Eine Zeit lang fanden sich mysteriöse Schnitte von der Schere in Tischdecken und Plastikfolien. Adrian wollte wohl mal testen, wie sich dies und das denn schneiden lässt. Auch die Werkzeuge in der Holzwerkstatt hatten einen großen Reiz. Aber ich musste Adrian immer wieder ermahnen, denn er hatte noch kein Werkstattdiplom und durfte sie noch nicht alleine nutzen.

Der Werkstattkurs war in Adrians Augen ein lästiger Umweg. Er hätte am liebsten gleich losgelegt. Aber ich bestand darauf, denn sein Umgang mit den Werkzeugen war sehr „experimentell“ und stellte für ihn und andere eine Gefahr dar.

Die bei uns gewöhnlich praktizierte Vorgehensweise ist folgende: Die Kinder stellen im Werkstattkurs in meinem Beisein alleine ein Werkstück her, um dabei den Umgang mit den Werkzeugen zu üben. Das Werkstück wird bei der Prüfung den Meistern vorgestellt.

Für Adrian war das eine schwierige Aufgabe. Er sägte und hämmerte hier und da ein wenig, verwarf aber alles wieder. Vielleicht hatte er zu viele Ideen, vielleicht hatte er hohe Ansprüche an sich, konnte seine Ideen aber noch nicht so ausführen, weil ihm das Geschick dazu noch fehlte.

Ich schlug ihm vor, sich erst mal eine Skizze anzufertigen. Das half ihm sehr. Er wollte eine Futterstelle für Vögel bauen. Nach einer Woche war sein „Zaunkönig“ fertig, mit Haken und Ösen, wo man Knödel aufhängen kann. Er war sehr stolz.

Jetzt ist er oft in der Werkstatt beschäftigt, baut sich Pfeil und Bogen, beklebt sich von oben bis unten mit Klebefolie und ist dann ein „Ritter“ oder erfindet für mich eine „Schutzbrille“ aus Plastikfolie. Arbeiten, die Ausdauer erfordern, meidet er nach wie vor, zum Beispiel ein dickes Brett durchsägen.

Anmerkung der Kursleitung:
…auch wenn er ein Stück vom dicken Brett für seine Pläne braucht?
– Vielleicht ist er aber wirklich eher der kreative Entwickler, der für die Umsetzung seiner Ideen später Maschinen und seine Helfer und Mitarbeiter hat.

Provozierende Beobachtung:

Um sein Verhalten in Situationen näher zu beobachten, in denen etwas gezielt von ihm verlangt wird, biete ich den Kindern eine Bastelarbeit aus einem Buch an. Mit Hilfe einer Schablone können die Kinder aus bunter Pappe, Wolle und Perlen eine Blumenkette herstellen.

Nachdem einige Kinder schon eine Kette angefertigt haben, findet auch Adrian Gefallen daran und möchte so eine Kette für seine Mama basteln. Guten Mutes geht er ans Werk. Er arbeitet ganz eigenständig, malt sich die Blüten vor.
Beim Ausschneiden hat er manchmal noch Schwierigkeiten, so auch jetzt: Er verfehlt die Rundung der Linie. „Jetzt ist das so gerade!“ beklagt er sich. Aus Frust schneidet er die Blüte mitten durch.

Ich ermutigte ihn, es noch einmal zu versuchen. Es gelingt und er ist zufrieden. Nun piekst er Löcher in die Blüte. „Wie ein Gesicht, guck mal!“ Er schneidet einen Wollfaden ab. Ans Ende soll eine Perle geknotet werden.

Doch die Perle, die er aussucht, hat ein verstopftes Loch. „Ich weiß, wie ich das kann! So, das rein, und raus ziehen.“ Er versucht den Faden erst mit der Schere, dann mit der Nadel durch zu schieben, nimmt sich schließlich eine neue Perle. Er knickt die Blüte und schneidet mit der Schere ein größeres Loch, weil der Wollfaden nicht hindurch passt.

Aus der entfernten Turnhalle hört er etwas. Er spricht vor sich hin, halb zu mir: „Die sind in die Turnhalle gegangen. Die knallen mit der Matte. – Aber die Wichtel (die U3-Kinder) schlafen ja nicht. – Da verkrumpeln die Ohrenhaare! – Bei mir in der Straße wohnt eine Frau, die Lizzi. Die ist ganz taub. Wenn ich schreie, hört sie immer noch nichts.“

Dann fädelt er die Perle und die Blüte auf, hält den Faden mit beiden Händen gespannt und lässt sie eine Weile hin und her rutschen. Er freut sich darüber. Er macht an einem Ende einen dicken Knoten, indem er die Schnur mehrmals doppelt nimmt. Der Knoten ist nicht dick genug, die Perle fällt runter. „Jetzt kann ich das nicht mehr drauf stecken, -ach doch!“ Er steckt die Perle ans andere Ende. Die Blume rutscht zum Knoten, die Perle darauf, das hält.

Er lässt das schwingen wie ein Pendel. „Fertig! Ich will das nur so haben!“ Dann hilft er Mara mit ihrer Perle.

Adrian hat oft eine sehr geringe Frustrationstoleranz. Wenn etwas nicht seinen Vorstellungen entspricht, gibt er leicht auf. Seine Ausdauer bei sich wiederholenden Tätigkeiten (zum Beispiel mehrere Blumen ausschneiden) ist gering. Er braucht bald eine Abwechslung.

Seine Gedanken arbeiten schnell und sprunghaft (besser: flexibel ?). Der Knall aus der Turnhalle erinnert ihn an unser Gespräch über Lautstärke und dass Lärm den Ohren schadet. Er denkt direkt weiter und stellt eine Verbindung zur Nachbarin her.

Ein andermal hat er einen Marienkäfer gebastelt. Auf den Kopf will er seinen Namen schreiben. Er verschreibt sich und malt zu Beginn zwei A hintereinander. Nach kurzem Zögern malt er lauter A auf das Gesicht. „Der hat Masern!“ sagt er zu mir. Es scheint, als wolle er sein Malheur damit vertuschen.

Anmerkung der Kursleitung:
Du hast schon des öfteren auf seine Beweglichkeit im Denken und seine Kreativität hingewiesen. Bist Du sicher, dass er die beiden A als Malheur empfunden hat? Vielleicht hat er einfach schnell eine andere gute Idee erfunden, die ihm auch gut gefiel?

Naturwissenschaftliches Interesse

Adrians naturwissenschaftliches Interesse zeigt sich auch immer wieder im Freispiel. So beobachte ich ihn oft, wenn er draußen Dinge untersucht. Was kann man alles mit einem Stück Eis machen, wie geht es kaputt? Wie kommen die Luftblasen da rein? Was macht das Kreidestück im Wasser? Schwimmt es, geht es unter? Warum wird das Rosa plötzlich dunkelrot? Mit solchen Dingen beschäftigt er sich sehr ausdauernd über längere Zeit. Dabei lässt er sich auch nicht stören und ist ganz vertieft bei der Sache.

Meine Kollegin hat eine Experimente-AG mit Adrians Altersgruppe gestartet. Adrian ist immer sehr aufmerksam und neugierig dabei. Er hat oft besondere Ideen, wie man ein Experiment noch verändern kann und kann dann sehr freudig und ausgelassen sein.

Bei der Brandschutzerziehung, die ich jedes Jahr mit den Kindern durchführe, traf ich eines seiner Interessen. Er brachte als Sohn eines Feuerwehrmannes schon einiges Wissen mit. Gefahrensituationen konnte er an Hand von Fotos gut erklären und er wusste genau, was im Ernstfall zu tun ist.

Bei den Experimenten mit Verbrennungsproben war ich dann überrascht, dass Adrian mit seinen Vermutungen, ob etwas brennt oder nicht, eben so oft falsch lag wie die anderen Kinder auch. Er hatte wohl in diesem Bereich doch noch wenig Erfahrungen gesammelt.
Auf jeden Fall hat das Experimentieren ihm und den anderen Kindern viel Spaß gemacht.

Adrian erzählt oft von den Feuerwehrfahrzeugen vom Flughafen, vom „Simba“ und „Panther“. Da ich mich als Feuerwehrfrau etwas auskenne, kann ich jedoch sagen, dass sein Wissen nicht sehr umfassend und tiefgreifend ist.

Anmerkung der Kursleitung:
Wie viel gibt sein Vater an ihn weiter? Manche Väter halten sich da sehr zurück und denken, ihr Kind sei noch zu klein, um ihm ernsthaft etwas beizubringen von der eigenen wichtigen Arbeit…

Charme, Hilfsbereitschaft und Humor

Adrian ist sehr gesellig und sucht immer Kontakt zu anderen Kindern. Dabei hat er sehr viel Charme und kann andere begeistern und mitziehen. Er ist sehr hilfsbereit. Er bemerkt schnell Situationen, in denen er helfen kann, und ergreift ohne Aufforderung die Initiative. Er hilft die Wasserflasche aufdrehen, etwas festknoten, einen Hammer holen, ein Rätsel lösen…

Den jüngeren Kindern gegenüber ist er sehr fürsorglich und umsichtig. Seit Januar schon hat er ein Amt inne, das er sich selbst ausgesucht hat (dieses Amt gab es vorher nicht): Er holt zum Mittagessen den Wagen mit den Schüsseln aus der Küche.
Dieses Amt erledigt er selbstständig und zuverlässig und es kommt ihm auch sehr entgegen: auf dem Weg bieten sich immer Gelegenheiten für ein kleines Pläuschchen und in der Küche schnappt man die neusten Neuigkeiten auf. Er springt sogar während des Essens auf, um für die Anderen noch mal Nachschlag zu holen. Die Bedeutsamkeit seiner Rolle tut ihm gut!

Adrian hat einen besonderen Sinn für Humor. Oft schlüpft er in die Rolle des Clowns. Er lacht gerne und genießt die Aufmerksamkeit, die er für seine originellen Späße von den Kindern bekommt. Ihm fallen häufig Wortspiele und lustige Gedankenverbindungen ein.

Im Morgenkreis und bei Kreisspielen beteiligt er sich aktiv und überwindet immer mehr seine frühere Schüchternheit. Mittlerweile steht er gerne im Mittelpunkt und ist viel selbstbewusster geworden.

Das Kauen an Fingernägeln und Pullover hat inzwischen fast ganz aufgehört. Nur in Situationen, wo er tatenlos zusehen muss und gerne selber in Aktion wäre, zum Beispiel wenn jemand anderes am PC spielt, tritt es noch auf.

Anmerkung der Kursleitung:
Siehst Du bei Adrian bei aller guten Entwicklung und allen Möglichkeiten, die er bei Euch hat, Symptome der – zumindest zeitweiligen – Unterforderung?

Adrian ist insgesamt ausgeglichener und zufriedener geworden.

Es tut ihm gut, dass sein Freundeskreis an Stabilität gewonnen hat. Er spielt inzwischen auch häufig mit den gleichaltrigen oder jüngeren Kindern. Es war eine gute Entscheidung, ihn vorzeitig an bestimmten Angeboten teilnehmen zu lassen.

Anmerkung der Kursleitung:
Auf jeden Fall! Ein Glück für ihn!

Für den nächsten Computerkurs wird er der Erzieherin als Computer-Spezialist zur Seite stehen und die anderen Kinder die erste Zeit begleiten. Die Experimente-AG entspricht auch seinem Interesse. Das Labor, das wir augenblicklich einrichten, wird sicher demnächst für ihn ein neues Entdeckungsfeld werden.

Beobachtungsbogen nach Huser

Nehme ich nun den Beobachtungsbogen nach Joelle Huser zur Hand, so fallen mir gleich einige Punkte ins Auge, die ich ankreuzen könnte.

Adrian ist sehr neugierig. Seine Wahrnehmung ist vielseitig und intensiv. Denkprozesse verlaufen bei ihm schnell und er stellt oft überraschende Gedankenverbindungen her.

Adrian ist gesellig und zeigt ein ausgeprägtes Sozialverhalten. Er spielte im letzten Jahr vornehmlich mit älteren Kindern. Nun sind die anderen Jungs mindestens ein halbes Jahr jünger als er. Mittlerweile baut er auch feste Kontakte zu den gleichaltrigen Mädchen auf.

Seine Gedächtnisfähigkeit ist vergleichsweise groß. Er behält auch Einzelheiten über eine lange Zeit. Die Informationen sind jedoch nicht immer verlässlich. Manchmal erfindet er Geschichten oder ist von seiner Aussage überzeugt, die nachweisbar falsch ist.

Anmerkung der Kursleitung:
Er braucht, wie wir alle, ein Team als Korrektiv.

Eine hohe Eigenmotivation zeigt er häufig. Er findet überall etwas Interessantes – ob er betrachtet, wie die Soße auf seinem Teller verläuft, oder wenn er beim Stiefel anziehen verschiedene Erdkrümel entdeckt, die aus seiner Sohle fallen.

Sein Interesse kann aber auch sehr schnell wieder nachlassen. Bei manchen Dingen kann er ganz vertieft sein. Die Konzentrationsausdauer ist nicht länger als bei anderen Kindern auch. Er wehrt sich aber vehementer gegen Störungen.

Adrian hat einen hohen Anspruch an sich. Er möchte vieles können, hat aber auch Angst, es nicht zu lernen. Es scheint ein riesiger Berg vor ihm zu stehen.

Anmerkung der Kursleitung:
Er vertraut vielleicht noch nicht genügend darauf, dass er sehr lernfähig ist und auch die nötige Anleitung und Unterstützung erhalten wird. (?)

Sein Streben nach Perfektion wird in Kleinigkeiten ersichtlich, beim Schneiden oder wenn er sich ein wenig vermalt hat. Auf der anderen Seite kann er auch sehr fahrig und oberflächlich arbeiten, wenn ihm etwas nicht so wichtig ist. Fleißarbeiten sind definitiv nichts für Adrian. Es langweilt ihn einfach, über eine längere Zeit das Gleiche zu machen.

Dass er sich früher wenig in feinmotorischen Tätigkeiten geübt hat, führte auch dazu, dass er seine Ideen nicht umsetzten konnte, weil ihm das handwerkliche Geschick fehlte. Das holt er im Augenblick nach.

Adrian drängt es immer nach der Umsetzung eigener Ideen. Kreativität und Originalität kann ich ihm zuschreiben. Auch ein gutes Abstraktionsvermögen beobachte ich bei Adrian häufig, wenn er vor einem Problem steht. Er nutzt Wissen aus unterschiedlichen Bereichen, um zu einer Lösung zu gelangen.

Adrian spielt gerne den Clown, sucht dadurch aber nicht nur Bestätigung, sondern hat selber Freude an seinen Späßen und Gedankenspielen. Sein Wortschatz ist durchschnittlich. Manchmal macht er noch kleine Fehler. Er hat aber eine überaus hohe Sprachbereitschaft und er diskutiert gerne.

Adrian hat nach wie vor Einschlafprobleme. Deshalb und um ihr Erziehungsverhalten zu Hause zu überprüfen, haben seine Eltern sich an eine Beratungsstelle gewandt.

Anmerkung der Kursleitung:
Siehe den Tipp oben. (Geringes Schlafbedürfnis?). Er ist halt ein sehr wacher Geist, der nicht leicht zur Ruhe kommt, sowohl wenn er frustriert ist, als auch wenn er positiv aufgeregt ist, weil alles so interessant ist…

Fazit meiner Beobachtungen ist, dass Adrian in einigen Bereichen besondere Begabungen aufweist. So sind nach meiner Einschätzung seine praktische (technische?) und wissenschaftliche Intelligenz ausgeprägt. Er zeigt Interesse an naturkundlichen Themen: Naturbeobachtungen, Experimente, Technik und Computer. Sein Wissen darüber ist jedoch weder besonders breit noch tief ausgeprägt.
Vielleicht fehlt ihm hier noch das geeignete „Futter“ zum weiteren Lernen.

Anmerkung der Kursleitung:
Welche Bedingungen hatte er bisher, an tieferes und breiteres Wissen zu gelangen? Hat er einen Lehrer/Förderer/Mentor?
Das ist eine wichtige Vermutung, der Du weiter folgen solltest. Statt „Futter“ könnte man auch „Projekte“ sagen.

Adrian ist sehr kreativ, hat eine gute Kombinationsgabe.
Diese Begabungen sind ausgeprägt, meinen jetzigen Erkenntnissen nach jedoch nicht so weit überdurchschnittlich, wie ich es schon bei anderen, später als hoch begabt eingeschätzten Kindern gesehen habe. Betrachte ich sein Können mit diesen Maßstäben, so bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das ein oder andere überhaupt ankreuzen kann. Setzte ich im Vergleich dazu die Mädchen in seinem Alter, so kann ich ihnen besondere Fähigkeiten zusprechen, die Adrian noch nicht hat.

Anmerkung der Kursleitung:
Welche Fähigkeiten sind das?

Wenn ich es so im Rückblick bewerte, würde ich sagen, er hat in der ersten Hälfte dieses Kindergartenjahres einen großen Entwicklungssprung gemacht, der sich im Verlauf der letzten Monate wieder relativiert hat. Ich erlebe die gleichaltrigen Kinder jetzt ähnlich motiviert und aufgeweckt.

Auch wenn keine Hochbegabung vorliegen sollte, so kann ich doch jetzt sein auffälliges Verhalten und seine besonderen Bedürfnisse besser verstehen, darauf reagieren und ihm damit weiterhelfen.

Anmerkung der Kursleitung:
Das ist sehr wertvoll.
Es besteht ja keine Notwendigkeit, sich in der Frage nach der Hochbegabung jetzt schon positiv oder negativ festzulegen. Hochbegabungen sind sehr verschieden!

Letztendlich kommt es nicht darauf an, auf einem Bogen einen Punktwert zu erreichen. Denn im Grunde helfen den Kindern diesseits und jenseits der Grenze zur Hochbegabung die gleichen Dinge: Verständnis für ihre Bedürfnisse, Vertrauen in ihre Fähigkeiten, Freiraum und Rückhalt, Bestätigung und Zuwendung.

Anmerkung der Kursleitung:
Zusätzlich brauchen besonders begabte Kinder auch viele Impulse von Älteren, Erfahreneren – oder wenn sie wie Adrian selber viele Ideen haben, gezielte Hilfe bei der Umsetzung einiger ihrer Ideen, so dass am Ende klar Erfolgserlebnisse stehen.
Auf den Punktwert kommt es tatsächlich nicht so sehr an, aber auf das dahinter liegende tatsächliche Potenzial. Die Frage ist, wie weit Adrian sein Potenzial bisher ausschöpfen kann.

Adrian hat in den letzten Wochen vermehrt mit Mara gespielt. Sie ist fünf Monate älter und wie Adrian sehr kreativ.

Die beiden haben große Freude daran, gemeinsam ihre ausgefallenen Ideen zu verfolgen, sich gegenseitig zu ergänzen und weiter zu treiben.

Bei Mara sehe ich auch großes Potenzial, was es weiter zu beobachten gilt. Sie überrascht oft durch sehr detaillierte Äußerungen und verfügt allgemein über ein großes Sachwissen. Beide werden nach den Ferien zu den Vorschulkindern gehören. Ich bin sehr gespannt.

Anmerkung der Kursleitung:
Eine sehr einfühlsame, umfangreiche Beschreibung eines sehr interessanten Kindes.

Wie es mit Adrian im Kindergarten weiter ging, lesen Sie hier:

Adrian und das Gekreuch und Gefleuch


Adrian entdeckt das Zeitunglesen – Fragen von Leben und Tod

 

Datum der Veröffentlichung: September 2015
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