von Susanne Höfl

 

Da ich als gruppenübergreifende Fachkraft in der Kita arbeite, kann ich mein Beobachtungskind aus der gesamten Kita auswählen. Schnell stellt sich heraus, dass ich für meine Praxisaufgabe Florian (5;8 Jahre alt) (Name geändert) näher beobachten möchte. Er zeigt akute Verhaltensauffälligkeiten, ist schwierig, vor allem in der Mittagsphase, provoziert die Gruppe und die Gruppenerzieherin so lange, bis er vor die Tür gesetzt wird.

Vorüberlegungen

Nach einem ersten Gespräch mit seiner Gruppenerzieherin, in das meine neuen Erkenntnisse aus der ersten Seminarphase (des IHVO-Zertifikatskurses -H.V.) einflossen, will ich nun folgendermaßen vorgehen:

1. Gespräch mit Florians Mutter.

2. Bearbeitung der Hinweise auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung und des Fragebogens nach Joelle Huser, (siehe Literaturverzeichnis ) zusammen mit der Gruppenerzieherin.

3. Beobachtungen bei der Bewegungsbaustelle, beim Cafeteriadienst, während der Frühstücksphase und außerdem beim wöchentlichen „Schultütenbande-Treff“ (Projekt mit Vorschulkindern zum Thema „Das bin ich“).

4. Gespräche mit Kolleginnen, bei denen Florian an Projekten teilnimmt. Meine Fragen: Was fällt dir spontan zu Florian ein? Wie verhält er sich während des Projektes? Nimmt er freudig daran teil?

5. Interview mit der Kollegin, die 1 1/2Jahre lang Gruppenleitung in Florians Gruppe war, nachdem er neu in die Kita gekommen war.

6. Auswertung der Kinderbesprechungs-Protokolle aus der Morgenrunde. (Daran nehmen alle Kollegen der Kita teil.)

Die erste Woche war sehr spannend für mich. Ich stellte gleich montags dem Großteam meine geplante Arbeit vor. Es gab viele kontroverse Gespräche mit meinen Kolleginnen. Florian wurde von ihnen insgesamt recht negativ gesehen, mein Anliegen wurde zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich Ernst genommen.

Gespräch mit der Mutter

In dem Gespräch mit Florians Mutter erfuhr ich, dass Florian sich selbst das Lesen beigebracht hat und inzwischen flüssig Texte lesen kann. Er addiert und subtrahiert sicher bis 20. Er interessiert sich für Computer und Technik, ist sprachbegabt. Er hat nach Aussage seiner Mutter einen sehr großen Wortschatz in Deutsch und Polnisch, er vergleicht die beiden Sprachen mit Russisch, der Sprache seines Freundes.

Sie berichtete weiter, dass er nicht auf seine Kleidung achten kann (verliert oft Sachen), dass er gerne in den Kindergarten kommt und am liebsten mit seiner Gruppenleiterin zusammen spielt. Florians Mutter will mein Anliegen, mit Florian zu arbeiten, mit ihrem Mann besprechen und will mir dann am folgenden Montag Bescheid geben.

Am Montag kommt Florian nicht in die Einrichtung. „Oje“, denke ich, „war ich zu forsch?“ Am folgenden Tag wird er wegen fiebriger Angina für mindestens eine Woche krankgemeldet. Zwei Tage später kommt seine Mutter extra in die Kita, um mir zu sagen, dass ich gerne mit Florian arbeiten kann.

Meine ersten Beobachtungen

Durch Personalmangel (Grippeepidemie) konnte kaum eine Kollegin ihren Projekten nachgehen, die Küche war nicht besetzt, und die Putzfrauen waren auch unterbesetzt. Also absolutes Minimum an „schöner Arbeit“. Die Krönung des Ganzen war dann noch, dass ich selbst krank wurde. So konnte ich nur viel zu kurz mit Florian arbeiten und nicht so viele Informationen gewinnen, wie ich mir vorgestellt hatte.

Zunächst zu meinen Beobachtungen seines störenden Verhaltens:

Er bestand jeden Mittag darauf, neben seiner Gruppenleiterin zu sitzen. Ansonsten störte er so lange, bis er nicht mehr für die Gruppe tragbar war und den Raum verlassen musste. Ich bemerkte bei ihm eine ständige Reizbarkeit, eine ständige Bereitschaft in die Offensive zu gehen, gepaart mit einem außerordentlichen Sinn für Ironie. Er stellte immer wieder die Autorität der Kolleginnen in Frage.

Durch mein neues Wissen, das ich mir in den ersten Kurstagen und aus der Literaturaufgabe erarbeiten konnte, kam ich auf den Gedanken, dass Florians Clownerie, seine Wutausbrüche, seine extremen Verhaltensweisen auch ein Zeichen von Unterforderung sein könnten. Das wäre ein kräftiges Argument für eine intensive kognitive Förderung im Kindergarten.

Als Gesprächspartner akzeptierte er in seiner Gruppe nur die Gruppenleiterin, den Horterzieher und mich. Wenn sich eine von uns mit Florian beschäftigte, ging es ihm gut. Positiv für die Gruppe war dabei: Er war dann weniger anstrengend für alle.

Ich erfuhr von Florian, dass er sich sehr für Computer und technische Dinge interessiert. In diesem Zusammenhang kann er sich komplizierte Bezeichnungen merken und sie auch sachgerecht anwenden.

Sein enormer Wortschatz in Polnisch und Deutsch war uns zunächst wegen eines Sprachfehlers gar nicht aufgefallen! Nun merkte ich: Er verglich noch mehr Muttersprachen der anderen Kinder miteinander: Russisch, Französisch, Türkisch, Flämisch und Polnisch. Als er mehr und mehr zu sprechen begann, unterhielt er sich mit mir wie ein 15-Jähriger.

Im Moment habe ich stark den Eindruck, dass er kognitiv sehr unterfordert ist, alles andere aber eher eine Belastung für ihn darstellt.

Gespräche mit seiner Gruppenleiterin

Im ersten Gespräch mit meiner Kollegin haben wir die Punkte A und B des Beobachtungsbogens nach Joelle Huser durchgesprochen. Es wurde ein sehr langes und intensives Gespräch, da wir endlich mal die Gelegenheit hatten, konkrete Fragen zu Florians Verhalten zu besprechen. Es stellte sich heraus, dass wir alle Fragen zu „A allgemeine Merkmale“ positiv oder sogar mit „sehr stark ausgeprägt“ beantworten konnten. Bei den Merkmalen von unterforderten Kindern konnten wir B2 bis B4 positiv beantworten.

Im zweiten Gespräch haben wir aus dem Beobachtungsbogen die Fragen „C sprachliche Intelligenz“ und „D mathematisch-logische Intelligenz“ besprochen, die auch alle mit Ja oder mit doppelt + + beantwortet wurden. Bei „E intra- und interpersonale Intelligenz“ haben wir E1 und E4 mit Ja und E2 und E3 mit Nein beantwortet, denn Florian besitzt hohe Fähigkeiten, ein soziales Gefüge zu durchschauen, würde aber niemals seine Leistungen „herunterschrauben“. Er kann auch nicht zugeben, dass er etwas nicht kann, sondern gibt allen anderen die Schuld, wenn etwas nicht klappt.

„Führungskompetenz“ zeigt er ebenfalls nicht, da er ein Einzelgänger ist und sich aus den üblichen Gruppenprozessen heraus hält.

Dann haben wir uns noch genauer über diese Merkmale ausgetauscht und vereinbart, im nächsten Gespräch noch genauer darauf einzugehen, vor allem seine Wutausbrüche in der Mittagsphase zu besprechen.

Beim dritten Gespräch konnten wir noch mal sein großes Interesse für Technik feststellen, allerdings musste ich meine Einschätzung relativieren, da sie sich noch eher im durchschnittlichen Bereich befindet. Zu Fragen über die „F naturalistische Intelligenz“ konnten wir keine Besonderheiten feststellen.

Gespräche mit Florians früherer Gruppenleiterin

Ich erfuhr aus diesen Gesprächen, dass er sehr gern in die Kita kam, dass sich der Tagesablauf für ihn aber schwierig gestaltete. Er weinte und schrie in Konflikten, bekam häufig Wutanfälle und ließ niemanden an sich heran. Dazu verschränkte er die Arme vor dem Kopf. Die Mutter holte ihn häufig früher ab, weil ein ganzer Kita-Tag für ihn kaum zu bewältigen war, vor allem mittags ließen seine Kräfte nach. Er klagte öfter über detaillierte Schmerzen, zum Beispiel über Handschmerzen, wenn er im Bauraum aufräumen sollte, über Fußschmerzen, wenn er nicht laufen wollte.

Als seine Schwester geboren wurde, zeigte er zuhause große Verlustängste und Sorgen. Solche Sorgen konnte er den Erwachsenen in Gesprächen mitteilen, und seine Formulierungen und seine Artikulationsweise waren auch dabei eher die eines 15-Jährigen. So konnte er zum Beispiel ernsthafte Gespräche über die Freundschaft zu seiner Freundin Liza führen, konnte in detaillierten Formulierungen begründen, warum er sie als Freundin hat und heiraten will! Als er gerade vier Jahre alt war, hörte seine Gruppenleiterin ihn sagen: „Liza, denkst du auch gerade das, was ich denke?“ – Liza: „Wieso, was denkst du denn?“ Florian: „Das SAG ich dir ja nicht!“

Reflexion meiner ersten Beobachtungen:

Mein Ziel, Florians Stärken besser kennen zu lernen, habe ich teilweise erreicht. Da mir allerdings die Zeit am Kind Florian fehlte, konnte ich nur aus meinen gelegentlichen Beobachtungen, aus den Treffen in meinen Projekten und aus den Berichten meiner Kollegen schöpfen. Die Schwierigkeit war unser Kranksein.

Als negative Erfahrung muss ich festhalten, wie gering bei einigen Kollegen die Bereitschaft war, sich für besonders begabte oder sogar hoch begabte Kinder zu interessieren – was für Kinder mit Lernschwäche und Entwicklungsrückständen nicht gilt. Die für mich positivste Erfahrung waren die Gespräche mit den Kollegen, die sich für das Thema und meine Aufgabe interessieren. Sie sehen eher, dass sie davon profitieren; sie können es letztendlich als große Hilfe für manche Kinder ansehen. Mir selbst hat es sehr viel Freude und Erleichterung gebracht, mich intensiver und fundierter mit einem „schwierigen“ Kind auseinander zu setzen.

Als wir für Florian auf Grund all dieser Beobachtungen bessere Rahmenbedingungen schaffen konnten, zum Beispiel indem wir seine Bedürfnisse akzeptierten (soweit es der Kindertagesstättenablauf zuließ), lebte er auf. Wir konnten es ihm auch ermöglichen, neben Erwachsen seiner Wahl zu sitzen. Für Florian war das sehr wichtig, da er so einen verlässlichen Spiel- und Gesprächspartner hatte. Dabei erzählte er uns von seinen technischen Ideen.

Zur Arbeit mit Florian und dem „Interessen-Fragebogen für den Kindergarten“ siehe:
Florian und andere Kinder.

 

Datum der Veröffentlichung: 10.9.09
Copyright © Hanna Vock 2009, siehe Impressum.