von Hanna Vock

 

Was verstehen wir im IHVO unter Hochbegabung?

Wir sehen drei wesentliche Bestandteile von Hochbegabung, die ich zunächst erläutern und dann an einem Beispiel verdeutlichen will:

1) Lernleichtigkeit

Wenn ein Kind (dasselbe trifft natürlich auch auf Erwachsene zu) in einem Bereich besonders begabt ist, bedeutet das, es kann „von Natur aus“ in diesem Bereich besonders leicht lernen. Der erste wesentliche und beobachtbare Bestandteil von Hochbegabung ist also eine außergewöhnlich ausgeprägte Lernleichtigkeit.

Lernleichtigkeit bedeutet, dass das Kind in einem oder mehreren Begabungsbereichen zum erfolgreichen Lernen außergewöhnlich wenig Hilfe, Anstrengung und Zeit (d.h. auch keine oder kaum Wiederholungen) benötigt. Lernen ist hier definiert als Aufnahme und Verarbeitung von neuen Informationen (Entwicklung von Wissen) und Ausbildung neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten (Entwicklung von Können).

2) Intrinsische Motivation

Hoch begabte Kinder bringen auch eine außergewöhnlich ausgeprägte intrinsische Motivation mit. Das heißt, dass sie aus ihrem Innern heraus für ihren Begabungsbereich motiviert sind. Sie wollen sich entsprechend betätigen, sie wollen lernen, sie verspüren einen starken inneren Drang, in diesem Bereich immer Neues zu erfahren und auszuprobieren. Werden sie daran gehindert oder erfahren sie durch die Umgebung zu wenig Anregung, spüren sie Unruhe und Frustration.

Außergewöhnliche intrinsische Motivation bedeutet, dass das Kind in einem oder mehreren Begabungsbereichen über erstaunlich lange Zeit und immer wieder aus eigenem Antrieb aktiv ist, nach neuen Herausforderungen sucht und neue, passende Herausforderungen oftmals freudig annimmt.

Siehe auch Motivation pflegen

3) Kreativität

Als dritte Komponente von Hochbegabung sehe ich eine außergewöhnlich ausgeprägte Kreativität in dem jeweiligen Begabungsbereich. Die Suche nach immer neuen Fragen und Lösungen und nach ungewöhnlichen Wegen macht diese Kreativität aus.

Außergewöhnliche Kreativität bedeutet, dass das Kind sein Wissen und Können in unterschiedlichster, oft auch ungewöhnlicher Weise erfolgreich kombiniert und verwertet, um Aufgaben oder Probleme zu lösen. Kreativität kann auch bedeuten, dass das Kind sich neues Wissen und neues Können auf ungewöhnliche Weise erfolgreich beschafft, also den Lernprozess selbst ungewöhnlich gestaltet und sich selbst ungewöhnliche Aufgaben stellt. Nach Wieczerkowski und Wagner (1981) setzt sich Kreativität aus Einfallsfülle, Flexibilität, Fantasie, Originalität und divergentem Denken zusammen.

Hochbegabung = außergewöhnlich ausgeprägte LERNLEICHTIGKEIT
+ außergewöhnlich ausgeprägte INTRINSISCHE MOTIVATION
+ außergewöhnlich ausgeprägte KREATIVITÄT

An einem Beispiel aus meiner Kindergartenpraxis will ich verdeutlichen, wie diese drei Bestandteile von Hochbegabung sich zeigen und zusammenwirken:

Lena (4;10) interessiert sich schon seit längerem für Zahlen. Sie zählt fehlerfrei bis 100. Eines Tages erhält sie von mir, ihrer Erzieherin, den Hinweis, dass man auch in Zehnerschritten zählen kann. Diesen Hinweis setzt sie sofort um und schafft es auf Anhieb, in Zehnerschritten ohne Fehler bis 100 zu zählen. Unmittelbar danach fragt sie von selbst, ob man auch in Zweierschritten zählen kann. Sie tut dies und müht sich erfolgreich ab, auch hier bis 100 zu kommen.

Zwei Tage später passiert wieder etwas Überraschendes. Zu Hause hat Lena eine ältere Schwester, die in der Schule gerade das kleine Einmaleins lernt, aber nicht möchte, dass die jüngere Schwester mit ihr mitlernt.

Offenbar hat die Abweisung durch die Schwester aber Lenas Interesse am Malnehmen nicht gebremst.

Eigentlich ?? dürfte ich das erst in drei Jahren lernen??

Als Lena eines Tages im Kindergarten, wie so oft, den Geschirrspüler ausräumt, kommt sie mit dem Fleischklopfer in der Hand und fragt: “5 mal 5 ist doch 25, nich? Ich habe das auch gezählt.” Sie betrachtet nachdenklich die pyramidenförmigen Zacken des Fleischklopfers und dreht ihn dann um. Dort hat der Fleischklopfer kleinere, aber mehr Zacken. Sie zählt laut die erste waagerechte Reihe, dann die erste senkrechte, lässt dabei aber den Eckpunkt aus. Auf meinen Hinweis, dass sie den vergessen hat, antwortet sie: “Wieso, den habe ich doch schon gezählt, bei waagerecht. – Und wie viel ist 7 mal 6? Ich zähle mal.”

Trotz dieses kleinen Irrtums (7×6 statt 7×7) zeigen sich in diesem Beispiel alle drei Hochbegabungsmerkmale sehr ausgeprägt:

1. Lernleichtigkeit: Lena geht in erstaunlichem Tempo von einem Rechenprinzip zum nächsten über und kann eine einfache, fast beiläufige Anregung (Zehnerschritte) sofort erfolgreich umsetzen. Den abstrakten Begriff “waagerecht” hat sie sich bereits angeeignet und verwendet ihn sicher.

2. Ihr Interesse an Zahlen und Mengen ist früh erwacht und beständig. Sie zeigt deutlich eine große intrinsische Motivation zum Rechnen. Die Aufgabe, Malnehmen zu lernen, hat sie sich selbst gestellt und verfolgt sie zielstrebig.

3. Sie kombiniert ihre Zählfähigkeit und ihr Zahlenverständnis auf ungewöhnliche Weise mit ganz anderen Tätigkeiten, nämlich mit dem Ausräumen des Geschirrspülers und der für sie neuen Rechenoperation Multiplizieren (Malnehmen). Sie erkennt in der gleichmäßigen Anordnung der Zacken am Fleischklopfer selbstständig eine Möglichkeit, Rechenaufgaben zu lösen.

Später wurden bei Lena auch in Tests eine hohe mathematische und eine hohe sprachliche Begabung sowie eine hohe allgemeine Intelligenz festgestellt.

Wenn die drei Merkmale bei einem Kind so ausgeprägt sind, dass es Aufgaben in Intelligenz- und Begabungstests so erfolgreich löst, dass es einen Prozentrang von mindestens 98 erreicht (also höchstens zwei Prozent des Altersjahrgangs die Aufgaben während der Eichphase des Tests besser gelöst haben) gilt es nach allgemein anerkannter Expertenmeinung als hoch begabt. Dies entspricht einem IQ von 130 oder höher.

Ob eine Hochbegabung sich in hohen Leistungen ausdrückt, hängt wesentlich von Umfang und Beständigkeit der Motivation, der Kreativität und anderen Persönlichkeitsmerkmalen des Kindes ab. Die angeborenen Dispositionen zu besonderen Fähigkeiten, zu großer Motivation und besonderer Kreativität sind in ihrer Entfaltung und Entwicklung alle auf günstige Umweltbedingungen angewiesen. Bedingungsmodell: Entfaltung von Hochbegabung.

In den frühen Lebensjahren kommt dabei der Familie eine herausragende Bedeutung zu, als nächste große Instanz wird der Kindergarten zusätzlich wirksam.

O je, so manches herkömmliche Hochbegabungsmodell erwähnt den Kindergarten gar nicht!

Siehe auch: Feststellen von Hochbegabung

Siehe auch: Normalverteilung der Intelligenz

 

 

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