von Hanna Vock

 

Eine Veröffentlichung in der Zeitschrift ELTERN aus dem Jahr 2009 warnt vor Checklisten zur Feststellung von Hochbegabung. Zwar ist die Veröffentlichung nicht ganz aktuell, aber ich finde es wichtig, dazu etwas zu schreiben.

In dem Artikel heißt es:

„Checklisten für Hochbegabung sind fatal!/ Immer mehr Eltern und Erzieher fragen sich schon bei den Allerjüngsten, ob sie Ausnahmetalente sein könnten.
ELTERN-Interview mit Expertin Dr. Eva Stumpf

München (ots) – 16. Dezember 2009 – Das Thema Hochbegabung ist in aller Munde, auch wenn es, statistisch gesehen, nur jedes 50. Kind trifft. Dennoch fragen sich Mütter, Väter und Erzieher immer öfter, ob sie „Supertalente“ vor sich haben. Darüber, ob sich dies überhaupt feststellen lässt, sprach die Zeitschrift ELTERN für die aktuelle Ausgabe (01/2010 ab heute im Handel, Titelthema: „So clever ist Ihr Kind“) mit Dr. Eva Stumpf von der Begabungsberatungsstelle an der Uni Würzburg.

„Jede Diagnose, die vor dem siebten Lebensjahr gestellt wird, ist fragwürdig. Denn für so junge Kinder gibt es kaum geeignete Testverfahren“, erklärt die Expertin.“

Und weiter:

„Außerdem lässt sich in dem Alter noch kaum eine Prognose stellen, da noch viel Veränderung möglich ist.“

… kurz gefasst …

Dieser Beitrag setzt sich mit Vorstellungen auseinander, die eine frühe Feststellung von Hochbegabung für unmöglich und geradezu schädlich halten. Solche Vorstellungen sind zum Schaden hoch begabter Kinder leider weit verbreitet.

Hier in diesem Beitrag wird näher auf die Problematik >Erkennen mit Hilfe von Checklisten< eingegangen.

Leider wird in dem Interview nicht darauf hingewiesen, dass ein bewährter Test existiert, der eine weit überdurchschnittliche Intelligenz auch schon bei Vorschulkindern messen kann: der K-ABC (Kaufman–Assessment Battery for Children, deutschsprachige Fassung).

Auch wenn dieses Testverfahren nicht für die Testung einer hohen Begabung vorgesehen ist, bietet es doch gute erste Hinweise auf das aktuelle Intelligenzniveau eines Kindes.

Langjährige Erfahrungen haben gezeigt, dass – bei einer fachlich kompetenten Testung, die fundierte Kenntnisse im Bereich Hochbegabung UND Erfahrungen im Umgang mit hoch begabten jungen Kindern einschließt – eine Nachtestung in einem späteren Lebensalter mit dem HAWIK die Ergebnistendenz der früheren Testung mit dem K-ABC in einem hohen Maße bestätigte. (Siehe hierzu auch die nachfolgend genannte Studie des Max-Planck-Instituts.)

Der HAWIK (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder;jeweils die aktuellste Auflage, im Mai 2011 ist dies die vierte) ist als anerkanntes Testverfahren für Kinder ab 6 Jahren auch im Hinblick auf die oberen Leistungsspitzen hervorragend nutzbar. Der HAWIVA (die HAWIK-Variante für das Vorschulalter) wurde zwar schon verkauft und ist bestimmt auch in Gebrauch, wurde von den Verfassern aber noch einmal zur Überarbeitung hinsichtlich der Normierung zurückgezogen. (Stand: Mai 2011)

Die Durchführung eines Tests ist aber meines Erachtens nur eine Grundlage und nicht hinreichend, um früh eine Hochbegabung festzustellen. Hinzukommen müssen eine sorgfältige Elternbefragung sowie eine qualifizierte (provozierende) Beobachtung des Kindes über einen längeren Zeitraum.

Siehe: Arten der Beobachtung

Siehe: Standards für die Durchführung diagnostischer Testverfahren

Siehe: Feststellen von Hochbegabung

Siehe: Erkennen durch Beobachten

Und was sagt die Forschung?

Im Wissenschaftsmagazin „Max Planck Forschung“ (Ausgabe 3/2006) berichtete Anne Goebel über die LOGIK-Studie, die 1984 durch das Max-Planck-Institut für psychologische Forschung begonnen und von den daran beteiligten Forschern im Jahr 2005 abgeschlossen wurde. In dieser Längsschnittstudie wurde die Entwicklung von 210 Menschen von ihrem 4. bis zu ihrem 23. Lebensjahr untersucht. Forschungsziel war, grob gesagt, die Genese (d. h. Entstehung und Herausbildung) individueller Kompetenzen besser zu verstehen. (So erklärt sich auch der Name der Studie: Lo ngitunalstudie zur G enese i ndividueller K ompetenzen.)

Diese Studie untersuchte unter anderem auch die Entwicklung der Intelligenz als individuelles Merkmal und kam zu folgenden Ergebnissen, die Jan Stefanek vom Institut für Psychologie der Uni Würzburg auf einer Tagung vorstellte (zitiert nach Max-Planck-Forschung, ebenda, Seite 70):

>„Intelligenz ist in relativ frühen Jahren relativ festgelegt.“ Sowohl bei der verbalen wie bei der nicht-sprachlichen Intelligenz zeigten sich in der Studie von Anfang an Zweijahresstabilitäten, die sich mit dem Alter der Kinder noch deutlich steigerten. „Die im Alter von vier Jahren aufgefundenen Intelligenzunterschiede blieben auch zwei Jahre später in etwa erhalten“, so Stefanek. Mit zunehmendem Alter habe sich dieses Muster dann sogar noch klarer herauskristallisiert. „…Aus den im Alter von vier Jahren ermittelt en Werten ergibt sich eine überdurchschnittlich gute Vorhersagbarkeit der Intelligenz im Alter von sechs Jahren. Und die Werte eines Sechsjährigen lassen sogar eine sehr gute Vorhersagbarkeit für spätere Intelligenz zu.“ <

Die Anlage und die wissenschaftlichen Ergebnisse der Studie sind nachzulesen in: Schneider (Hrsg.) Entwicklung von der Kindheit bis…, siehe:

Literaturverzeichnis.

Sind Checklisten fatal?

Nachdem Stumpf die frühe Feststellbarkeit von Hochbegabung verneint hat, wird pauschal vor der Anwendung von Checklisten gewarnt:

>Auch vor den Checklisten, die kursieren und mit denen man eine Hochbegabung feststellen können soll, warnt Dr. Stumpf: „Ich halte diese Listen für fatal! Man kann Anzeichen nicht verallgemeinern. Das einzig zuverlässige Merkmal, das auf eine Hochbegabung hindeutet, ist ein außerordentlich früher und beschleunigter Spracherwerb. Solche Kinder sprechen bereits mit etwa einem Jahr Dreiwortsätze und lesen im Extremfall mit vier Jahren philosophische Bücher.“<

Hier offenbart sich ein sehr verkürztes Verständnis von Hochbegabung, das Eltern verunsichern kann. Spricht das Kind nicht besonders früh, viel und komplex, dann könnten Eltern glauben, eine Hochbegabung sei nicht vorhanden. Die Erfahrung zeigt aber, dass es etliche Hochbegabte gibt, die sprachlich nicht früh aufgefallen sind. Sie brachten trotz ihrer noch begrenzten Sprachfähigkeiten und recht geringen Sprechlust erstaunliche Denkleistungen zustande, manchmal sogar einen beeindruckenden Wortschatz – wenn denn Jemand sich die Mühe gemacht hat, sich für ihre Gedanken und ihre geistige Entwicklung aktiv zu interessieren.

Andererseits sollten auffallende Sprachfähigkeiten zwar beachtet und angemessen gefördert werden, sie allein machen aber noch keine Hochbegabung aus.

Im Weiteren gibt Stumpf dann auf der Grundlage falscher Annahmen einen unglücklichen pädagogischen Ratschlag (zitiert nach dem erwähnten ELTERN-Artikel):

>Wenn Eltern den Verdacht auf eine Hochbegabung haben, sollten sie abwarten, so Dr. Stumpf: „Das tun die meisten Eltern ja ohnehin. Sie schauen, was das Kind interessiert, welchen Input es fordert und versuchen, ihm gerecht zu werden.“<

Abwarten! Das hören viele Eltern hoch begabter Kinder von Kinderärzten, von Psychologen und auch von Pädagogen – manchmal mit dem Zusatz: „Das wächst sich aus.“. Sich passiv zu verhalten und abzuwarten ist aber aus meiner Sicht falsch und schadet den Kindern. Und den nötigen Input sollten ja nicht nur die Eltern geben, sondern auch das Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Hochschule.

Richtiger ist, der Sache nachzugehen, sich den aufkommenden Fragen zu stellen, sich Informationen über Begabungsförderung zu verschaffen und mit den Erzieherinnen in der Kita zu reden. Es ist schlecht abzuwarten, bis das Kind in einer Dauerfrustration steckt.

(Siehe: Dauerfrustration .)

>Wenn eine Familie dagegen zu früh alles durch die Brille ‚Hochbegabung‘ sieht, gibt es manchmal ein böses Erwachen.< (ebenda)

Warum sollte eine Familie, die bei einem ihrer Kinder an Hochbegabung denkt, fortan alles nur durch die „Brille Hochbegabung“ sehen? Ein Kind definiert sich nicht nur über die Höhe seiner Begabung und schon gar nicht über seine Leistungen, dies wissen Eltern und sie sollten darin in jeder Beratungssituation bestärkt werden. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist üblicherweise sehr viel komplexer und differenzierter.

>Dann werden alle späteren Schulschwierigkeiten auf die vermeintliche Besonderheit geschoben. Und es ist eine enorme Frustration, wenn sich herausstellt, dass sich die Diagnose zu einem späteren Zeitpunkt nicht halten lässt.<

Viele hoch begabte Kinder haben irgendwann in ihrer Schullaufbahn Schwierigkeiten in und mit der (deutschen) Schule. Dies auf ein zu frühes Erkennen einer Hochbegabung zurück zu führen, mutet hilflos und Eltern und Kindern gegenüber unfair an.

Die „enorme Frustration“, von der Stumpf spricht, kann ja nur dann auftreten, wenn Eltern den Wert ihres Kindes an der Höhe seiner Intelligenz und Begabung messen. Das ist allerdings schon vom Ansatz her fatal.

Es geht bei Hochbegabung nicht um „besser als Andere“, sondern um „anders als Andere“.

Bei kleinen Kindern macht sich dieses Anderssein ganz allgemein an anderen Spiel- und Lernbedürfnissen fest, die beachtet werden sollten, damit das Kind sich glücklich entwickeln kann.

Siehe: Besondere Spiel- und Lernbedürfnisse.

Es kann zu späteren Schwierigkeiten kommen, wenn eine Hochbegabungsdiagnostik in frühen Jahren nicht mit aller gebotenen Sorgfalt durchgeführt wurde – oder wenn den Eltern die Ungenauigkeit des Messgeräts Test nicht vermittelt wurde – oder wenn nicht die Willkür der Festlegung von Hochbegabung auf einen IQ-Wert von größer/gleich 130 erklärt wurde. Dies alles gilt es deshalb im Zusammenhang mit einer Testung zu beachten.

Ein ganzes Teilkapitel dieses Handbuches (2.1) befasst sich mit dem Erkennen durch Beobachten. Pädagoginnen mit viel Wissen und Erfahrung zum Phänomen Hochbegabung sind sehr wohl in der Lage, hohe Begabungen bei jungen Kindern zu erkennen und kreativ zu beantworten. Das zeigen die vielen gelungenen Praxisbeispiele, die immer Beides gleichzeitig sind: Fördern und genaueres Verstehen. In einer Aufwärtsspirale können so die Effizienz und Güte beider Prozesse ansteigen.

Mit den Checklisten zur Erkennung von Hochbegabung ist es wie mit Allem: es gibt gute, brauchbare und schlechte, unbrauchbare. Außerdem hängt die Qualität des Ergebnisses immer davon ab, wer die Checkliste benutzt.

Sowohl das Entwickeln von Checklisten als auch die Benutzung derselben können sehr unprofessionell geschehen.

Ein Beispiel:

Ein Kinderarzt verteilte an Eltern folgendes Blatt, das sie selber ausfüllen und auswerten sollten.

Diese Checkliste ist ein ungeeignetes Instrument,

  • weil sie zu wenige Items enthält, um Hochbegabung zu beschreiben,
  • weil nicht erläutert wird, was unter den Schlagwörtern genau zu verstehen ist und
  • weil sie Eltern allein damit lässt, einzuschätzen, was zum Beispiel im Alter von drei oder vier oder fünf Jahren „extreme Fragen“ sind.

 

Stellen wir uns ein dreijähriges hoch begabtes Kind vor,

  • – das gut und gerne schläft (und dafür 0 Punkte erhält),
  • – das sich zwar für Zahlen interessiert, aber noch in die Windel macht und sich zum großen Teil noch anziehen lässt (weshalb die Eltern für „vorzeitige Entwicklung“ nur 0 oder 1 Punkt geben),
  • – das noch nicht liest (0 Punkte),
  • – das zwar ein sehr gutes Gedächtnis hat, das die Eltern aber eher für normal halten (und mit 1 Punkt versehen),
  • – dessen hervorragendes logisches Denken erkannt wird (2 Punkte),
  • – das grammatikalisch noch nicht einwandfrei und vielleicht auch noch undeutlich spricht (0 Punkte),
  • – das schon mal extreme Fragen entwickelt, für deren Ergründung und Verfolgung im Gespräch aber Niemand Zeit oder Geschick hat. Was wird zum Beispiel von der Frage eines Dreijährigen gehalten, die da lautet: „Sterben die Menschen dann, wenn sie zum Beispiel 6 Meter groß sind?“ Wenn diese Frage nicht weiter beachtet oder als kindlicher Unsinn abgetan wird, dann werden die geistigen Implikationen einer solchen Frage nicht erkannt (und es gibt vielleicht nur 1 Punkt),
  • – das sich laut Aussage der Erzieherin im Morgenkreis und bei Gruppen- oder Tischspielen nicht gut konzentriert oder gar nicht erst mitmacht (0 Punkte),
  • – das keine älteren Freunde hat, weil es vielleicht in seiner U3-Gruppe und in seinem familiären Umfeld gar keinen intensiven Zugang zu älteren Kindern hat (0 Punkte),
  • – dessen intellektuelle und sozial-emotionale Entwicklungen in recht gutem Einklang sind, was im übrigen besonders schwer zu beurteilen und Gegenstand vieler Fehleinschätzungen ist. Aber weil ihr Kind sozial-emotional nicht auffällig ist, kreuzen die Eltern hier 0 Punkte an.
Gerade mal 4 oder 5 Punkte würde dieses Kind erhalten, und die Eltern würden sich vermutlich sehr schnell von der Idee, ihr Kind könnte hoch begabt sein, verabschieden – zum Schaden des Kindes.

Auch entdeckt man im Internet immer wieder mal Checklisten, die von Eltern erstellt wurden. Sie sind hilfreich für Andere gemeint; aber sie beschreiben oft eher das eigene Kind, als dass sie allgemeine Merkmale hoher Begabungen benennen. Das heißt, solche Listen können andere Eltern auch in die Irre führen.

Eine gute Checkliste kann hilfreich sein.

Wir haben uns bemüht, mit unseren Hinweisen auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung (in Verbindung mit den hinzu gestellten Beispielen) gute erfahrungsbasierte Indikatoren zusammenzustellen. In Fortbildungen werden sie an Beispielen erläutert, und im Handbuch versuchen wir die einzelnen Indikatoren mit möglichst vielfältigen Beispielen aus der Kita-Praxis zu unterfüttern.

Im Unterschied zu Frau Prof. Stumpf meinen wir, dass es möglich und wichtig ist, die individuellen und im Konkreten sehr unterschiedlichen Anzeichen für eine Hochbegabung, wie sie die Kinder zeigen, zu verallgemeinern.

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