von Verena Demirel

 

Murat ist schon seit längerem mein „Beobachtungskind“ im IHVO-Zertifikatskurs.

Siehe:
Murat (5;6) fiel schon früh auf
Murat will lernen: Minus-Aufgaben und Englisch

Besonders begabte Kinder in einer Englisch-AG

 

Nun ist Murat 6 Jahre alt und steht kurz vor seiner Einschulung. In den letzten Monaten sind mir immer wieder Situationen aufgefallen, in denen Murat seine Klugheit unter Beweis gestellt hat und ich versucht habe, ihn in seinem Lernprozess angemessen zu unterstützen.
Diese Situationen möchte ich dokumentieren.
Unser Gruppenthema war „Mein Körper“. Dabei berücksichtigten wir die Interessen einer Kleingruppe von sieben besonders begabten Kindern im Alter von fünf bis sechs Jahren.

Vorüberlegungen

Das Thema entstand im letzten Jahr aus den Interessen der Kinder. Ein moslemischer Junge war kurz zuvor beschnitten worden, und im Nebenraum wurde das Erlebte (heimlich) verarbeitet durch Nachspielen. Das Puppengeschirr diente als Operationsbesteck und alle Bücher, in denen nackte Menschen zu sehen waren, wurden (heimlich) in den Nebenraum befördert.

Das Spiel fand immer unter der Decke statt. Kam man als Erwachsener dazu, wurde man mit der Aussage „wir machen nix, wir spielen nur“ wieder zum Gehen aufgefordert. Natürlich ließen wir die Kinder gewähren – gegenseitiges Verletzen war ausgeschlossen, die Kinder waren immer komplett bekleidet. Dies hielt über etwa drei Wochen an.

Murat (noch nicht beschnitten) war so etwas wie der „Anführer“ der Gruppe und wirkte immer bemüht, das große Geheimnis (mit dabei waren noch zwei Jungen und zwei Mädchen) auch geheim zu halten.

Wir starteten das Thema „Ich sehe ja ganz anders aus als du“ und es entwickelte sich schnell weiter. Von den Unterschieden gleicher Geschlechter kamen wir auf die von unterschiedlichen Geschlechtern. Über die Haut, die Muskeln und die Knochen ging es zum Blut über. Daraus entwickelte sich großes Interesse am Herzen, mit dem wir sehr lange beschäftigt waren.

Die Speise- und Luftröhre waren ebenfalls sehr gefragt, bevor wir herausfanden, was für alles eigentlich verantwortlich ist: Das Gehirn.

Die Methoden im Projekt waren mit Experimenten, Bewegungs- und Rollenspielen, Liedern, Tischspielen, Filmen, Büchern, Körperpuppen, Gesprächskreisen und kreativer Gestaltung sehr abwechslungsreich und spannend. Am Ende unseres sehr intensiven, lustigen und ereignisreichen Projektes fuhren wir auf einen großen Indoor-Spielplatz, auf dem man die eigenen körperlichen Grenzen an einer hohen Kletterwand neu definieren konnte.

Ziele des Projektes

Es gab mehrere Ziele, die ich mit der Kleingruppe erreichen wollte.
Hier möchte ich mich aber nur auf Murat beziehen:

    • durch Spaß und gemeinsames Interesse den Freundeskreis von Murat verfestigen und stärken,
    • ihn in eine Kleingruppe integrieren, in der er nicht unterfordert ist und seine kognitiven Fähigkeiten „einbauen“ kann,
    • seinen Wissensdurst zu diesem Thema stillen,
    • Murat vermitteln, wie man sich selbstständig Wissen beschaffen kann.

Hier die meiner Meinung nach vier aussagekräftigsten Aktionen in bezug auf Murat:

Experiment: Mein Herz

Wir wollten herausfinden, wie man die Schnelligkeit seines eigenen Herzschlages beeinflussen kann. Die Kinder probierten mehrere ihrer eigenen Ideen aus, wie zum Beispiel laufen, Luft anhalten, Hampelmann-Sprung, Gewichte heben, schreien, usw. Als Kontrolle diente uns die eigene Hand oder die des Freundes und ein Stethoskop.

Als ein Junge sein T-Shirt hob, um nachzugucken, ob die Haut sich dabei auch bewegt, fiel Murat etwas ein. Er erklärte der Kleingruppe und mir, dass er vor kurzem in der Kindersendung „Wissen macht Ahh…“ etwas darüber gesehen habe. Er brauche Knete und einen Strohhalm und wolle uns das dann zeigen.

Die Knete war im Gruppenraum schnell zur Hand, jedoch erwies sich das Auffinden eines Strohhalms als sehr schwierig. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, da Murat sich selbstständig darum bemühte, die Materialien zusammen zu suchen.

Zunächst ging er in den Werkraum und durchsuchte alle Vorräte unserer Bastelmaterialien. Danach durchstöberte er alle Materialschränke der drei anderen Gruppen und fragte zuletzt unsere hauswirtschaftliche Kraft in der Küche.

Es war kein Strohhalm zu finden! (Ich habe es später überprüft, sie waren wirklich aus.)
Murat ging angemessen mit dem Misserfolg um. Er nahm sich vor, am nächsten Tag einen Strohhalm von zu Hause mitzubringen. Ich schlug ihm vor, sich einen Erinnerungszettel zu schreiben, was er aber für überflüssig hielt. Ich war gespannt.

Tatsächlich war ihm dieses Experiment so wichtig, dass er am nächsten Morgen nicht nur einen, sondern gleich eine kleine Packung Strohhalme mitbrachte: für alle. Ich fand nicht nur toll, dass er es überhaupt schaffte, sondern dass er gleichzeitig auch noch an die anderen Kinder gedacht hatte.

Sobald die Kleingruppe vollständig war, legten wir los. Murat erklärte uns, dass man eine gewisse Menge Knete zu einer Kugel formen und dann den Strohhalm da hinein stecken müsse. Nun hält man die Kugel an die Stelle des Körpers, wo das Herz sitzt. Alle Kinder folgten Murats Arbeitsauftrag, und wir waren begeistert – der Strohhalm vibrierte und wir konnten SEHEN, wie unser Herz schlägt. Anton fragte, wie das sein kann, und Murat erklärte, dass im Fernsehen gesagt wurde, dass die Knete die Bewegungen des Herzens einfach gut „weiterschicken“ kann.

Als auch mit schnelleren Herzschlägen geprobt wurde, erklärte Murat uns, dass der Ball aus Knete auch nicht zu groß sein darf. Er habe das zu Hause direkt ausprobiert und festgestellt, dass die Knete ab einer gewissen Größe aufhört, die Schläge weiterzuleiten. Kleiner könne die Kugel werden, größer aber nicht. Nun probierten alle aus, ab wann der Strohhalm nicht mehr wackelte.

Es war toll zu beobachten, wie aufmerksam die Kleingruppe Murat zuhörte und wie positiv sie auf seine Ideen reagierte.

Ohne als „Besserwisser“ dazustehen, konnte Murat Impulse setzen und wurde von allen ernst genommen. Außerdem hatten sie großen Spaß miteinander.

Aktion Internet

Ich saß gerade am Computer und tippte eine Liste, als Murat zu mir ins Büro kam, um mich zu fragen, was „Pipi“ auf Englisch heißt. Die Projekte „Mein Körper“ und die Englisch-AG liefen im gleichen Zeitraum parallel nebeneinander. Hier war wieder deutlich zu erkennen, wie gut er beide Projekte miteinander verknüpfen konnte.

Ich gab offen zu, dass ich nicht wüsste, was „Pipi“ auf Englisch heißt, und fragte ihn, wie wir das nun rausfinden könnten. Er schlug vor, „das Buch zum Übersetzen“ aus dem Studierzimmer zu holen.

Ich fragte ihn, ob er Lust habe, mal eine andere Möglichkeit, sich Wissen anzueignen, ausprobieren möchte. Als ich ihm vorschlug, zusammen im Internet nachzusehen, war er sofort dabei.
Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mich an dem Schreibtisch. Zuerst erklärte ich ihm die Funktion der Suchmaschine „google“. Murat sagte, dass er schon mal mit seiner Mutter im Internet war und das Wort „google“ schon mal gehört habe.

Ich buchstabierte ihm die Adresse und er gab sie ein. In google gaben wir dann die Wörter „Übersetzung englisch deutsch“ ein und Murat entschied sich für einen der ersten Vorschläge: „LEO – deutsch englisches Wörterbuch“.

Nun erklärte ich ihm, dass er das Wort, das er übersetzt haben möchte, oben in die Suchleiste eintippen muss und die Maschine ihm dann das englische Wort hinschreibt. Also schrieb er „Pipi“ hinein. Ich las ihm das Ergebnis „wee“ oder „wee-wee“ vor. Als ich sagte, dass Pipi machen „to have oder to do a wee-wee“ heißt, erklärte Murat mir, dass er das Pipi eigentlich gar nicht meinte, er meinte den „Pipimann“.

Ich antwortete, dass „Pipimann“ ja wohl ein Wort für Babys und nicht die richtige Bezeichnung für dieses Körperteil wäre. Er lächelte und sagte leicht beschämt, dass er „Penis“ meinte. Er gab das Wort ein und stellte fest, dass das ja eine ganz andere Bedeutung hat. „Penis“ wird im Englischen zwar genauso geschrieben, aber anders ausgesprochen.

Also zeigte ich Murat den kleinen Lautsprecher links vor dem Wort durch den man sich die Übersetzung anhören konnte. Jetzt las ich ihm noch die Worte „dong“ und „pecker“ (amer.) vor und erklärte, dass es bei uns ja auch mehrere Wörter für das Wort „Penis“ gäbe. Murat amüsierte sich sehr über das Wort „dong“ und sagte: „Hört sich an wie dingdong, das kann ich mir gut merken“. Damit ging er zurück in die Gruppe.

Experiment: „Kann ich schneller pumpen als mein Herz?“

Nachdem wir die Inhaltsstoffe und Aufgaben des Blutes in Erfahrung gebracht hatten, kam die Frage auf, warum und wie das Blut eigentlich durch den Körper läuft und warum das Herz schlägt. Um den Kindern besser verdeutlichen zu können, wie dieser Muskel das Blut durch den Körper pumpt, starteten wir ein kindgerechtes Experiment.

Zuerst brauchten wir die Menge Flüssigkeit, die auch die Blutmenge im Körper ausmacht. So nahmen die Kinder also einen Messbecher und schütteten 3 Liter Wasser (ungefähre Blutmenge eines 5-jährigen Kindes) in einen Eimer. Um es möglichst echt aussehen zu lassen, färbten wir das Wasser mit roter Wasserfarbe und etwas Ketchup ein. Das Ketchup war den Kindern sehr wichtig.

Nun stellten wir einen leeren Eimer daneben, und das Herz kam in Form eines rechteckigen Tafel-Schwammes zum Vorschein. Ich steckte den Schwamm in den ersten Eimer und erläuterte der Kleingruppe, dass dieser sich wie das Herz nun mit Blut vollsaugt. Dann drückte ich ihn über dem leeren Eimer aus und erklärte, dass es sich danach dann wieder ausdehnt. Es saugt an der einen Seite Blut an und nimmt es auf, zieht sich dann zusammen und pumpt das Blut dabei auf der anderen Seite mit Druck in den Körper.

Wenn wir uns anstrengen, pumpt es schneller, wenn wir uns ausruhen, langsamer. Das macht es mit den ganzen 3 Litern in nur einer Minute! Das ist eine erstaunliche Leistung; denn eine Minute vergeht so schnell wie einmal bis 60 zählen.

Jetzt fragte ich, wer bereit sei, den Wettlauf mit der Zeit gegen sein eigenes Herz anzutreten und zu versuchen, das Blut in einer Minute in den anderen Eimer zu pumpen. Zusätzlich sollten zwei Kinder mit einer Stoppuhr die 1 Minute messen.

Wir waren sehr lange im Waschraum beschäftigt, da es anfangs keinem Kind gelang, den Eimer in der vorgegebenen Zeit zu leeren. Zum guten Schluss gelang es Ardan dann doch. Ich zog mich aus der Situation zurück, sagte den Kindern aber, dass sie gerne noch ohne mich weiter machen könnten.

Murat ließ es keine Ruhe, dass er die Leistung seines eigenen Herzens nicht überbieten konnte. Er übte fast den gesamten Vormittag. Sein Ehrgeiz ließ nicht zu, die Sache so zu belassen. Also ging er ohne Aufforderung oder Nachfrage nach dem Mittagessen wieder in den Waschraum und machte weiter. Sein Freund David unterstützte ihn und stoppte die Zeit. Es dauerte noch eine Weile, aber schließlich schaffte er es, die 3 Liter Wasser in einer Minute von Eimer A in Eimer B zu befördern.

Erst jetzt war er zufrieden und stolz und konnte das Experiment als erfolgreich ansehen.

Gestaltung eines lebensgroßen und originalgetreuen Selbstporträts

Die Kinder legten sich auf ein Stück ausgerollte Tapete und ließen sich von ihrem Partner abmalen, der mit einem Stift um den Körper herum fuhr. So kamen die Körperumrisse aufs Papier. Aufgrund der Größe des Blattes mussten wir auf dem Boden arbeiten und legten die Gruppe mit Folie aus.
Das Porträt sollte auch als Lernzielkontrolle dienen und den Kindern visuell vor Augen führen, was sie schon alles über den Körper gelernt hatten.

Wir begannen mit dem Mengenverhältnis Blut und Wasser im Körper, und die Kinder füllten den Körper anteilig mit roter und blauer Wasserfarbe aus. Danach stellte ich ihnen zwei Bücher zur Verfügung, aus denen sie die Organe, die wir schon besprochen hatten, an die richtige Stelle in ihren Umriss malen konnten.

Murat arbeitete sehr selbstständig. Er fragte, im Vergleich zu den anderen Kindern der Kleingruppe, kaum nach, um Bestätigung zu erhalten. Auch beim Sitz und Aussehen der Organe war er sich ziemlich sicher. So zeichnete er das Herz (hier machte er es sich einfach und malte auch ein Herz), das Gehirn (hier gab er sich viel Mühe, malte detailliert, war aber weniger zufrieden, obwohl es ja sehr schwer zu malen ist), die Luft- und Speiseröhre und die Lunge. Am Ende hängten wir die Porträts in der Gruppe auf.

Ich schlug Murat vor, die jeweiligen Organe noch zu beschriften, wenn er noch Lust hätte. Er stimmte zu und die anderen Kinder schlossen sich ihm an. Toll zu beobachten war die Kettenreaktion des gegenseitigen Helfens, die jetzt stattfand: Murats Bild hing ganz rechts außen und ich buchstabierte für ihn die Wörter, nach denen er mich fragte. Mit dem Lineal zog er Striche vom Organ aus zu einer freien Stelle auf dem Bild und schrieb die Bezeichnung dahin.
David daneben begann nun von Murats Bild abzuschreiben, Anton daneben schrieb von David ab und Ardan dann von Anton.

Reflexion

Das Projekt lief über einen Zeitraum von 6 Monaten, war abwechslungsreich und hat viel Spaß gemacht. Ausgegangen war es von „Doktorspielen“ und hatte sich dann durch die Impulse und Ideen der Kinder (viele davon waren Murats Ideen) über viele Themen weiterentwickelt.

Ich denke, dass ich mit diesem Thema Murats Interessenschwerpunkt getroffen und seine kognitiven Bedürfnisse befriedigt habe. Auch weil die Kleingruppe aus seinen Freunden bestand, konnte er seinen geistigen Möglichkeiten freien Lauf lassen.

Er trieb die Kleingruppe voran, hatte tolle Ideen (Beispiel: Knete am Strohhalm) und stellte viele interessante Fragen. Sehr wichtig dabei war mir auch, dass die anderen Kinder seine Ideen akzeptierten. Diese Ziele habe ich also erreicht.

Auch mein Ziel, ihm neue Möglichkeiten aufzuzeigen, sich selbstständig Wissen anzueignen, kann ich in gewisser Weise als erreicht ansehen. Das Surfen im Internet hat ihm viel Spaß gemacht. Ich denke, dass er sich sehr selbstständig Wissen beschaffen wird, wenn er erst das Lesen beherrscht.

Diese Selbstständigkeit wird ihm in der Schule zu Gute kommen und auch immer dann, wenn er dort seinen Wissensdurst nicht ganz stillen kann.
Während des Projektes wurden sein Wissensdurst und seine gute Merkfähigkeit mal wieder sehr deutlich. So hatte er sich viele Bestandteile des Blutes schon nach dem ersten Mal gemerkt, konnte wiedergeben, was passiert, wenn der Körper versucht, eine blutende Wunde zu schließen, warum das Blut durch den Körper fließen muss und was es transportiert, usw.

In Gesprächen, auch mit Kindern, konnte er das Gelernte auch kindgerecht erklären.

Toll fand ich auch, wie er Erworbenes mit in die Englisch-AG und andersrum seine Englischkenntnisse auch mit in das Körperprojekt nahm. So suchte er Übersetzungen für manche Wörter und erklärte den Kindern der Englisch-Gruppe etwas über das Blut.

Schön zu beobachten war auch, wie sein Ehrgeiz ihn antrieb, die Herausforderung anzunehmen und seine Ziele zu erreichen. Hier war gut, dass ich ihm Raum und Zeit gegeben habe, sich mit mir über das Thema und auch mit sich selber auseinander zusetzen (Beispiel: Experiment, bei dem er schneller sein wollte als sein Herz).
Nun kommt Murat in die Schule.

Ich wünsche ihm, dass er an eine Lehrkraft gerät, die sich wenigstens ein bisschen mit dem Thema „Hochbegabung“ befasst und ihn angemessen fordern, fördern und unterstützen wird.

Mit seiner Mutter habe ich schon besprochen, dass sie sich bei uns melden soll, wenn es mit Murat Schwierigkeiten in der Schule geben sollte. Vielleicht hilft ja dann ein Gespräch zwischen uns und der Schule etwas. Außerdem habe ich sie gebeten, uns über Murats Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. Sie hat gerne zugestimmt. Ich wünsche ihm für die Zukunft alles erdenklich Gute. Murat ist ein toller Junge und wird mir wirklich fehlen!

 

Datum der Veröffentlichung: September 2017
Copyright © Hanna Vock