von Brigitte Gudat

 

Vor Jahren besuchte Joshua unsere Kita. Wenn ihn etwas begeisterte – und ihn begeisterte Vieles -, dann sprach er so schnell, dass man sich konzentrieren musste, um alles genau verstehen zu können. Wenn er sich mit etwas beschäftigte und er dies mitteilen wollte, musste man ihm zuhören, ansonsten reagierte er verärgert oder quengelig. Ich lernte darauf einzugehen, auch um danach wieder in Ruhe arbeiten zu können.

Kolleginnen hatten anfangs kein Verständnis dafür, sondern sahen darin eine Bevorzugung des Jungen. Diese Kolleginnen spielten für ihn keine Rolle, er beachtete sie teilweise gar nicht, er zeigte ihnen gegenüber kaum Respekt und äußerte dies auch.

Später als Hortkind in unserer Einrichtung kam es öfter zu Konflikten, weil er meinte, er müsse sich um alles kümmern. Damit drängte er den anderen Kindern seine Ansichten oder Handlungsweisen auf.

Joshua war nie ein besonders sportliches Kind. Schlimm für ihn war, dass ein Mädchen aus unserer Gruppe ihm körperlich weit überlegen war, obwohl sie ihm geistig weit unterlegen war. Zwischen den beiden kam es immer wieder zu Konflikten, die auch des Öfteren in körperlichen Auseinandersetzungen endeten. Meist gingen Bemerkungen von ihm wie “Du verstehst das alles nicht, weil du nicht so gut denken kannst wie ich“ dem Streit voraus.

Joshua beschäftigte sich eine Zeitlang intensiv mit Dinosauriern. Er kannte alle lateinischen Bezeichnungen und Merkmale der Tiere. Er gab sein Wissen gerne an andere Kinder weiter. Er konnte die Tiere auch bildlich sehr gut darstellen. Da er mit fünf Jahren noch nicht lesen konnte, er aber Informationen benötigte, las seine Mutter ihm aus Büchern vor. Danach beschäftigte er sich lange Zeit mit Erfindungen. Er erfand alles Mögliche und zeichnete Pläne. Für seine Zeichnungen benötigte er kaum Zeit, weil er sich gedanklich schon damit auseinander gesetzt hatte. Für die Zeichnung einer Papierwindelwechsel- und Recyclingmaschine erhielt er einen Hauptpreis bei einem Wettbewerb der Zeitschrift GEOLINO.

Siehe: Joshua, der Erfinder

Joshua war ein sehr impulsiver Junge. Er konnte sich über vieles freuen, reagierte aber auch in Situationen, mit denen er nicht fertig wurde, mit Wutausbrüchen. Oft auch, wenn jemand anderer Meinung war.

Joshua hat während der ganzen Kindergartenzeit eigentlich nur zu mir und zwei anderen Kindern eine intensive Bindung aufgebaut. Vor allem deshalb, weil er von uns so akzeptiert wurde, wie er war. Über meine Kollegin hat er einmal gesagt: „Die war nicht so gut“.

Joshua kümmerte sich damals liebevoll um einen dreijährigen Jungen, der eine Stoffwechselerkrankung hatte und nicht alles essen durfte. Er achtete genau darauf, dass andere Kinder ihm nichts Falsches zu essen gaben.

Für mich war damals, ohne mein jetziges Hintergrundwissen, nur wichtig, dass er kein Außenseiter wurde und sich wohl fühlte. Es wurde viel über Ansichten und Konflikte mit ihm diskutiert, was nicht immer zu einem positiven Ergebnis für ihn führte.

Leider finden Kinder wie Joshua in unseren Schulen bisher wenig Unterstützung. Wissbegierde und divergentes Denken sind nicht erwünscht, sondern es wird vor allem noch viel Wert auf Konformität gelegt.

Joshua ist ein Beispiel dafür, wie sich das auswirken kann. Er besucht zurzeit das Gymnasium und hat von seinen Lehrern schon öfter die Äußerung gehört: „Jetzt ist es mal gut, der Rest der Klasse ist noch nicht so weit.“ Er ist immer wieder gebremst worden. Am Anfang hatte er auch große Probleme, sich im Klassenverband zurechtzufinden und die Regeln der Schule zu akzeptieren.

Joshua ist in sämtlichen Unterrichtsfächern abgestürzt. Er schwänzt den Unterricht, schreibt Hausaufgaben ab und beteiligt sich nicht mehr am Unterricht.

Einer Klassenkameradin, die er noch aus dem Kindergarten kennt, erzählt er, er habe beschlossen, „nicht mehr schlau zu sein“. Er ist jetzt mit Jugendlichen zusammen, die ihm geistig weit unterlegen sind. Dabei spielt er jedoch eine Mitläuferrolle.
Seine Klassenkameradin macht sich Sorgen um ihn.

Joshua ist das klassische Beispiel dafür, welche Probleme und Schwierigkeiten ein hoch begabtes Kind haben kann. Im Kindergarten sind wir sehr auf ihn eingegangen, haben ihn akzeptiert wie er war. Seine allein erziehende Mutter ist auf ihn eingegangen, wo sie nur konnte, und hat versucht, ihm vieles zu ermöglichen. Sie hat aber immer abgeblockt, wenn ich mit ihr über das Thema Hochbegabung sprechen wollte. Sie hat ihn nie testen lassen, vielleicht aus Angst vor möglichen Folgen.

In der Grundschule traf er auf eine junge, sehr engagierte Lehrerin, die ihren Unterricht interessant gestaltete, viel Verständnis, aber auch Konsequenz zeigte. Auf dem Gymnasium kam dann der Einbruch.

An dieser Stelle frage ich mich, ob ich mit meiner Arbeit überhaupt etwas erreiche, wenn das System Schule die Arbeit oft nicht fortführen kann.

Was ich gelernt habe

Mit und von meinen drei Beobachtungskindern Joshua, Tamara und Leon habe ich im Rahmen des IHVO-Zertifikatskurses vieles erfahren und gelernt, zum Beispiel:

Betr.: Freunde
Für alle Kinder, auch für hoch begabte, sind Freunde sehr wichtig. Dem hoch begabten Kind wird aber sehr schnell klar, dass es nicht denkt, fühlt und handelt wie andere Kinder. Bereits im Vorschulalter kann es sich ausgegrenzt fühlen, versteht aber nicht, was nicht stimmt. Es ist gleichaltrigen Kindern in seiner intellektuellen Reife und seinen Interessen voraus. Dabei kann seine manuelle Geschicklichkeit hinter seinem Wissensniveau durchaus im Rückstand sein. Hier wiederum braucht das hoch begabte Kind Gleichaltrige verschiedener Art als Gefährten: für Spiel und Sport, für den intellektuellen Bereich oder aber für emotionale Freundschaften.

Man sollte nicht versuchen, Kinder zur Teilnahme an Gruppenaktivitäten zu drängen, um eventuell Freundschaften anzustoßen. Wenn man sie auf Kosten ihrer persönlichen Interessen zum Anschluss an andere Kinder zwingen will, ist es möglich, dass sie rebellieren, auch wenn sie durchaus gerne Freunde hätten. Hier brauchen sie die umsichtige Unterstützung ihrer Eltern, um Beziehungen mit anderen Kindern oder Erwachsenen aufzubauen.

Betr.: Interessen
Hoch begabte Kinder haben oft einen aktuellen Interessenschwerpunkt. Sie verstehen dann nicht, warum andere diese Interessen nicht teilen. Manchmal wechseln sie aber auch ihre Interessenschwerpunkte sprunghaft. Sie widmen sich jedoch intensiv dem Thema, das jeweils Vorrang für sie hat.

Betr.: Kommunikationspartner
Viele hoch begabte Kinder zeigen eine frühe Sprachbeherrschung. Ihr Wortschatz ist um ein vielfaches größer gegenüber Gleichaltrigen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich diese Kinder oft älteren Kindern oder Erwachsenen anschließen, um sich austauschen zu können. Dann besteht die Gefahr, dass sie kaum Freundschaften mit gleichaltrigen Kindern eingehen und zunehmend isoliert sind.

Viele Erwachsene vergessen, dass die geistige Entwicklung und die emotionale Reife beim hoch begabten Kind selten gleich entwickelt sind. Sie sind verwirrt, wenn sich das Kind in bestimmten Situationen altersgemäß verhält.

Betr.: mangelndes Verständnis
Hoch begabte Kinder werden allgemein in unserer Gesellschaft noch vernachlässigt. Familien, die ein hoch begabtes Kind haben, tun sich immer noch schwer damit, dies zuzugeben. Auf der einen Seite sind sie stolz auf ihr Kind, haben aber mit Vorurteilen und mangelndem Verständnis von Lehrern und anderen Eltern zu kämpfen.

Hoch begabte Kinder zeigen eine hohe Sensibilität, Intuition, aber auch Verletzlichkeit. Sie möchten geliebt und akzeptiert werden wie andere Kinder auch.

Betr.: Verletzlichkeit
Mit fünf, sechs oder sieben Jahren beginnen viele hoch begabte Kinder sich schon ernsthaft mit moralischen, sozialen, humanitären und religiösen Fragen zu beschäftigen. Grundschüler machen sich schon Gedanken darüber, wie der Weltfrieden zu erhalten ist. Das hoch begabte Kind schätzt Logik und rationale Ansätze. Es entdeckt aber, dass viele Traditionen, Bräuche, Regeln und Grenzen oft unlogisch, irrational oder zumindest willkürlich gesetzt und deshalb schwer zu akzeptieren sind. Dies kann dazu führen, dass das Kind mit Traditionen bricht oder Werte in Zweifel zieht.

Schlussfolgerungen
Für unsere Arbeit im Kindergarten bedeuten diese Erkenntnisse, dass wir die Voraussetzungen schaffen müssen, individuelle Fähigkeiten der Kinder innerhalb der Gruppe zu fördern. Wir sorgen dafür, dass die Kinder sich wohl fühlen, in die Gruppe integriert sind und wir ihre Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen. So können wir ihre vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten erkennen und unterstützen.
Wichtig ist es, den Kindern dabei das Selbstbewusstsein zu vermitteln, ihre Begabung zu akzeptieren und sie selbst, evtl. mit unserer Hilfe, weiterzuentwickeln.

 

Achtung!
Oft sind hoch begabte Kinder in der Kita, in der Schulklasse und in der Nachbarschaft die einzigen, die kognitiv sehr, sehr weit entwickelt sind und entsprechende Spiele und Gespräche lieben und brauchen.
Hier kann die Kontaktbörse: kind sucht kind helfen, früh tiefgehende Kinderfreundschaften zu begründen.

Datum der Veröffentlichung: Juni 2016
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