von Annika Hensel

 

Nachdem es mir in den letzten Monaten gelungen war, zu dem fünfjährigen Ben „einen guten Draht zu finden“

(siehe: Beziehungsaufbau zu einem hoch begabten Fünfjährigen), bot es sich zu seiner weiteren Förderung an, gemeinsam ein biblisches Theaterstück für den nächsten Familiengottesdienst einzustudieren.

Ich wandte ich mich an Ben und fragte ihn, ob er Lust habe, bei einem Stück mit zu machen. Dies bejahte er.
Da die Gottesdienste immer durch Themen des Kirchenjahres bestimmt sind, galt es, ein Stück für einen Tauferinnerungsgottesdienst zu finden. Deshalb entschieden ein Kollege und ich uns für das Stück „Philippus und der Kämmerer – oder ein Afrikaner wird getauft.“

 

… kurz gefasst …

In der Kita der Autorin wird immer mal wieder Theater gespielt und es gibt auch eine gruppenübergreifende Theater AG. Der fünfjährige Ben wechselte erst spät in diese Kita und konnte also noch nicht auf viele Erfahrungen mit Theaterspiel zurückgreifen.
Die Autorin beschreibt, dass der hoch begabte Junge und seine ebenfalls sehr begabten Mitspieler trotzdem schnell vorankommen und wenige Proben brauchen.

Das Stück handelt von Philippus, einem Prediger in Jerusalem, der die Botschaft Jesus Christus verkündet, und einem Äthiopier, der nach Jerusalem kommt, um zur Gemeinschaft der Christen zu gehören.

Dieser reiche Äthiopier kommt nach Jerusalem und wird dort aufgrund seiner Andersartigkeit abgewiesen. Doch dann trifft er auf Philippus, der ihm seine Fragen beantwortet und ihn schließlich tauft.

Das Stück wird von einem Erzähler vorgelesen, und die Kinder stellen die Handlung pantomimisch dar.

In einem Theaterstück sah ich eine gute neue Herausforderung für Ben. Zum einen für seine kognitiven und personalen Fähigkeiten, da er während des gesamten relativ langen Stückes (das etwa 10 Minuten dauert) genau zuhören und geduldig auf seine Einsätze aufpassen muss. Zum anderen wäre es eine Herausforderung für seine sozialen Fähigkeiten, weil er auf seine Mitspieler acht geben muss. Außerdem muss er sich in die Emotionen seiner Rolle einfühlen, um sie gut darzustellen.

Neu ist die Herausforderung für Ben insofern, da er bisher keine solche Gelegenheit hatte. Von den Erzieherinnen in seinem alten Kindergarten wurde er aufgrund seiner Probleme nicht in so etwas eingebunden. Und auch bei uns gab es bisher keine Gelegenheit.
Es war auch mein Ziel, weitere Kinder für das Stück auszusuchen, mit denen es möglich war, auf Bens Niveau zu arbeiten. Dies war mir wichtig, um ihn nicht durch häufige Wiederholungen zu frustrieren.
Dies gelang mir, indem ich einen weiteren sehr begabten sechsjährigen Jungen für die zweite Hauptrolle und zwei sehr begabte vierjährige Jungen für die Nebenrollen der Tempeldiener und Passanten auswählte.
(Hier muss vielleicht angemerkt werden, dass die Autorin einen „Integrativen Schwerpunktkindergarten für Hochbegabtenförderung (IHVO-Zertifikat)“ leitet.)

Probe 1

Bei der ersten Probe las ich den Kindern zunächst das Stück vor. Anschließend ließ ich die Kinder berichten, was sie gehört hatten. Ben und Rafael berichteten den Inhalt der Geschichte zu gleichen Teilen. Ich konnte mich davon überzeugen, dass alle vier Kinder den Inhalt gut verstanden hatten.

Deshalb konnten wir das Stück jetzt schon mal in den vorgesehenen Rollen (Ben/Philippus, Rafael/Äthiopier, Mats und Jorgos/Diener und Passanten) durch und überlegten, wie man die Szenen darstellen musste.

Da die Geschichte mit einer Beschreibung des Philippus beginnt, entschieden wir, dass dieser in der Mitte der Bühne stehen muss. Und da er predigt, meinte Ben, müsse er die Arme seitlich heben. So legten wir es fest.

Dann folgt eine Sequenz, in der Philippus mit einem Ball spielen, dann etwas trinken soll und danach durch Gottes Stimme auf die Straße zwischen Gaza und Jerusalem geschickt wird.

Wir stellten gemeinsam fest, dass dies gut nachzuspielen ist. Jedes Kind hatte tolle Ideen und trug etwas dazu bei. Ben legte fest, dass man bei der Aufführung  in der Kirche ohne echten Ball spielen und nur so tun muss als ob. Rafael hatte gute Ideen, wie Ben das Spielen und das Horchen auf Gottes Stimme darstellen konnte. Ben nahm die Tipps gut an.

Dann folgte die Sequenz in Jerusalem, in der Rafael den Äthiopier und Mats und Jorgos die Nebenrollen spielten. Auch hier hatten alle Kinder gute Ideen, wie wir was umsetzten, so dass wir schnell alles festgelegt hatten.
Ben meinte, dass wir einen Tempel und eine Kutsche brauchten.

Rafael stellte die Handlung direkt sehr gut dar und Mats und Jorgos setzten das Vorgegebene prima um.

Am Ende wandte sich Rafael an mich und äußerte den Wunsch, dass er gerne Bens Rolle haben wollte. Ich sagte, dass wir Ben fragen müssten. Also fragte Rafael ihn. Ben konnte Rafaels Wunsch gut nachvollziehen und tauschte ohne Zögern mit ihm.
Dies überraschte mich sehr, ich hatte eher damit gerechnet, dass er das nicht wollte. Früher wäre das nicht möglich gewesen. Denn Ben gefiel die Rolle des Philippus augenscheinlich sehr gut, deswegen hätte er früher seine Rolle unbedingt behalten wollen.

Damit beendeten wir die erste Probe. ich finde es eine starke Leistung von Ben, eine Rolle, die er selbst gern spielt, so einfach abzugeben.

Probe 2

Bei der zweiten Probe machten wir unseren ersten richtigen Durchlauf, und zwar in den getauschten Rollen.

Es gelang sehr gut, so als hätten wir es schon oft geprobt.

Die Kinder setzten alles Besprochene gut um und waren begeistert bei der Sache. Sie waren konzentriert und zu keiner Zeit abgelenkt.

Beim zweiten Durchlauf war dies nicht mehr so. Besonders Ben war unkonzentriert und verpasste seine Einsätze. Auch setzte er die Handlung nicht mehr so schön um wie im ersten Durchlauf. Ich stellte dies fest und beendete die Probe, da ich annahm, dass Ben aufgrund der Wiederholung unkonzentriert war.

Ich sah ein: Ben und auch die anderen hatten keinen weiteren Durchlauf nötig.

Wir beendeten die Probe mit der Planung der nächsten. Es wurde beschlossen, dass wir uns neben einem weiteren Durchlauf um die Requisiten und Kostüme kümmern würden.

Probe 3

Ich schlug den Kindern vor, Kostüme aus unserer Theaterkiste zu nehmen, und wir suchten gemeinsam die passenden aus. Ben wählte ein rotes Gewand aus Samt, da dies seiner Meinung nach gut passte, weil der Kämmerer ja reich sei und Samt früher sehr teuer war.

Rafael suchte sich ein grünes Gewand aus, weil das fröhlich aussah und nach Meinung der Jungen gut zu Philippus passte. Und Mats und Jorgos erhielten blaue Anzüge, ähnlich Uniformen.

Dann suchten wir eine Kutsche für den Afrikaner. Wir entschieden uns für unseren Bollerwagen, den wir mit brauner Pappe beklebten, auf die wir Holzlatten malten. Jorgos hatte die Idee, als Zugtier einen großen Esel (ein großes Kind) aus einer der Gruppen zu engagieren.

Ben sagte, er bräuchte eine Schriftrolle und diese müsse alt aussehen. Deswegen müssten wir gelbes Papier nehmen. Dies bejahte ich und wir holten gemeinsam beigefarbenes Tonpapier. Wir rollten es auf zwei Holzstöcke auf, die wir vom Außengelände holten.

Aber es sah nach der Meinung der Kinder noch nicht alt genug aus. Also schlug ich vor, wir könnten das Papier ein bisschen anflämmen, wie bei einer alten Schatzkarte. Das fanden die Jungs toll und wir beendeten die Probe auf dem Außengelände, wo ich das Papier unter der Aufsicht der Jungs anflämmte.

Probe 4 – Generalprobe

Die vierte Probe war auch schon unsere Generalprobe und fand in der Kirche statt. Dies kam einerseits dadurch, dass Rafael zwischendurch krank wurde und andererseits auch aus dem Grund, dass die Kinder das Stück schon so gut beherrschten, dass sie weitere Proben eher frustriert hätten, als dass sie etwas gebracht hätten.

Wir legten gemeinsam die Standorte der Szenen rund um den Altar fest und Rafael hatte noch die tolle Idee, dass er auf seinem Weg auf der Straße nach Gaza durch das Publikum gehen könnte. Dies beschlossen wir und starteten unseren Durchlauf mit Kostümen, Mikrofon für mich und allem drum und dran.

Es funktionierte wieder wunderbar. Ohne jede Hilfe meines Kollegen, dessen Aufgabe es war, den Kindern behilflich zu sein, was Einsatz und Gesten betraf, während ich vorlas.
Der zweite Durchlauf funktionierte wieder nicht so gut. Dies lag, denke ich, neben der ungeliebten Wiederholung auch an der Anwesenheit unserer Pfarrerin, mit der besonders Ben nicht gerechnet hatte und was ihn ein wenig nervös machte.

Deswegen erklärte ich den Kindern, dass dies ganz gut sei, denn dann seien sie schon ein bisschen auf die Vorführung und die dann volle Kirche vorbereitet. Das wirkte auf alle beruhigend, besonders auf Ben. Er meinte: „Dann bin ich ja schon Zuschauer gewohnt.“ Bisher kannte er das nur von Aufführungen in der Gruppe.

Aufführung

Am Gottesdienstmorgen trafen wir uns eine halbe Stunde vor Beginn. Die Kinder zogen die Kostüme an und mein Kollege schwärzte Bens Gesicht. Alle Kinder waren gut drauf und freuten sich, und auch Ben war nur ein wenig nervös. Dann setzten wir uns. Als wir an der Reihe waren, standen wir auf gingen auf unsere Plätze.

Ich begann vorzulesen und alles funktionierte gut – leider kam nur ein Kleinkind immer wieder an den Altar und spielte an Bens Kutsche herum. Das lenkte Ben ab, so dass er seinen Einsatz einmal leicht verpasste.

Das Tolle an dieser Situation war allerdings, zu sehen, wie entspannt Ben dabei war. Vor nicht langer Zeit hätte er das Kind wahrscheinlich lauthals verscheucht, und dies mit einem Vokabular, das nicht in eine Kirche passt. Jetzt versuchte er das Kind leise aber beherzt loszuwerden. Schade, dass die Eltern des Kleinkindes die Situation nicht erfassten und nicht hilfreich reagierten. Aber es war trotzdem ein toller Erfolg!

Reflexion

Die schwierige Frage, ob Ben so weit ist, bei einem Theaterstück in der vollen Kirche mitzuwirken, hat sich damit beantwortet und die damit verbundene Entscheidung, dies zu tun, war richtig.

Es war sehr schön zu sehen, dass Ben, der an Weihnachten noch das Stück seiner Freunde in der Kirche gestört hatte, weil er vorher geärgert worden war, trotz der Störungen so toll reagiert und dementsprechend gespielt hat.

Er hat bei der ersten Probe, als Rafael seine Rolle wollte, auf diese verzichtet und gesehen, dass es Rafael wichtiger war als ihm selber, den Philippus zu spielen.

 

Der aggressive und verstörte Junge, der vor einem Jahr in unsere Kita kam, ist richtig einfühlsam und aufgeschlossen geworden.

Das Theaterstück war außerdem ein angemessener Abschluss seiner Kindergartenzeit.

Mehr zu Ben lesen Sie hier:

Beziehungsaufbau zu einem hoch begabten Fünfjährigen

Beruhigung durch kognitiven Zugang

 

 

Datum der Veröffentlichung: Februar 2016
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