Vortrag bei der 4. IHVO-Fachtagung am 5.5.07

von Silvia Hempler

 

Lesen und Schreiben in der Kita?
Da steht für mich ein klares Ja.

Bevor ich das erläutere, möchte ich zunächst beschreiben, wer ich bin und wo ich arbeite. Seit einem Jahr leite ich die Städtische Kindertageseinrichtung Sedanstraße der Stadt Remscheid, in der ich vorher langjährig stellvertretende Leiterin war. Im März 2006 haben wir das IHVO-Zertifikat „Integrativer Schwerpunktkindergarten für Hochbegabtenförderung“ erhalten. In unserem Haus arbeiten und leben neun pädagogische Mitarbeiterinnen mit 90 Kindern, von denen drei Kolleginnen im August 2005 ihr persönliches Zertifikat bekommen haben. Eine Mitarbeiterin befindet sich zurzeit in der Weiterbildung. Alle Mitarbeiterinnen haben (hier schließe ich auch zwei Kolleginnen ein, die unsere Einrichtung verlassen haben) die Fortbildung getragen und unterstützt.

Näheres zum Verlauf unseres IHVO-Projektes können Sie hier lesen:

Der Weg der Städtischen Kita Sedanstraße zur Integrativen Kita für Hochbegabtenförderung

Unsere Einrichtung liegt in einem Einzugsgebiet, in dem viele Nationalitäten gemeinsam leben. Die Bandbreite des Entwicklungsstands unserer Kinder ist sehr groß. Wir mussten schon immer stark auf den individuellen Entwicklungsstand der Kinder eingehen.

Ein getestetes hoch begabtes Kind war vor fünf Jahren der Auslöser dafür, dass wir uns viele Fragen dazu stellten, wie wir dem Kind gerecht werden könnten. Auf der Suche nach Antworten stießen wir auf die Weiterbildungsmöglichkeit.

Inzwischen haben wir durch kleine, aber stetige Schritte erreicht, dass wir den hoch begabten Kindern in unserer täglichen Arbeit immer besser gerecht werden.

Zum Einstieg in das Thema „Lesen und Schreiben in der Kita“ möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen:

Geschichte: Eigentlich läuft es ganz gut für mich

>Schon als Baby hatte ich ein ungutes Gefühl. “Zeit zu schlafen, mein Kind,“, meinte meine Mutter. Tatsächlich hatte sie erwartet, dass ich Zeit zum Schlafen hatte.

Also schrie ich so laut ich konnte und hatte damit eine Strategie entwickelt, die noch oft hilfreich sein sollte. Warum schläft der Junge nicht? Diese Tatsache, gekoppelt mit heftigem Schreien, veranlasste meine Eltern, mit mir zum Arzt zu gehen. „Der Junge ist gesund.“ Meinte der Arzt.

Meine Eltern hörten dennoch nicht auf, Spezialisten aufzusuchen. Komisch eigentlich.

Auch komisch, dass meine Eltern Dinge wollten, die ich nie in Betracht zog. Raus spielen gehen, zum Beispiel. Was, um alles in der Welt, sollte ich mit einer Schippe und einem Eimer in einem Haufen Sand??? Viel spannender waren die Sachen von Papa, aber dafür war ich noch zu klein: „Backe, backe Kuchen“, sang meine Mama. „Gute Idee“, sagte ich, „ich kenne ein Buch, da steht drin wie es geht, lass uns hinein gehen.“

„Ach“, sagte meine Mutter und ließ mich in dem Haufen sitzen.

Als nächstes lernte ich eine Gruppe von Kindern kennen. „Die sind in Deinem Alter“, grinste Mama. „OK, lasst uns Arzt spielen“, denn damit kannte ich mich aus.

Ein Stethoskop hatte ich immer dabei. Nach vielen gellenden Schreien von mir und den anderen Kindern, hörte ich Mama „Ach“ sagen und bald saß ich wieder allein in meinem Haufen.

Neues Haus, neues Glück, dachte meine Mutter wohl, als sie mich in einen Kindergarten brachte. Ich hatte meine Strategie, so dass ich nichts befürchten musste. Bis auf eine Tatsache, dass sie einen Sandhaufen, Eimer und Schüppen hatten.

Heute, schon 3,5 Jahre alt, nehme ich den Haufen hin. Ich geh sogar ganz gern in den Sand, wir haben hier eine Sanduhr gebaut. Jetzt kann ich immer sehen, wenn ich sie nach dem Stuhlkreis drehe, wann meine Mutter kommt. Ab und zu wende ich meine Strategie an, meist nützt es nichts. Ich finde noch immer komisch, was der Eine oder Andere so macht, aber es ist o.k. Meine Eltern sind auch ganz o.k. geworden. Ich hab jetzt Papas Werkzeug, und wenn meine Mutter müde ist, lese ich ihr eine Geschichte vor. Das hab ich im Kindergarten gelernt.

Eigentlich läuft es ganz gut für mich.<

Aus der Geschichte wird ersichtlich, wie wichtig gute Beobachtung ist, wie wichtig es ist, die Lebenssituation der Kinder und ihrer Familien zu berücksichtigen, und wie wichtig es ist, die Neigungen und Begabungen der Kinder zu erfassen. Dies gilt für alle Kinder, insbesondere aber auch für die hoch begabten Kinder. Wie gerade erzählt, kommt so manches hoch begabte Kind bei „Backe, backe Kuchen“ eher auf die Idee, einen echten Kuchen nach Rezept und mit Waage zu backen, als weiter im Sand zu spielen und die Sandbackförmchen zu benutzen. Das eben ist die Aufgabe der Erzieherin, diese Interessen wahrzunehmen, zu erkennen und mit dem Kind gemeinsam nach Umsetzungen zu suchen.

Eine angemessene Umsetzung kann erfahrungsgemäß sowohl in der Gruppe mit allen Kindern als auch gruppenübergreifend gelingen. Für hoch begabte Kinder ist es wahrscheinlicher, dass sie Kinder mit ähnlichen Interessen finden, wenn sie auch in anderen Gruppen – was bei uns jederzeit möglich ist – an Projekten teilnehmen können. So lernen sie leichter, dass sie in ihrer Art zu lernen und Interessen auszuleben, nicht alleine sind, denn sie lernen unterschiedlichste Menschen kennen.

Eine unserer Hauptmethoden ist das Arbeiten in Projekten. Da Projekte auf ein – wie auch immer geartetes – Ergebnis abzielen, werden die unterschiedlichsten kindlichen Stärken benötigt, um zum Erfolg zu kommen. Dies bindet hoch begabte Kinder in gemeinsame Aktivitäten ein und bietet allen Kindern unserer Einrichtung eine Vielzahl von Erfahrungen, die jedes Kind in seiner Weise für sich nutzen kann.

Genau das bedeutet integratives Arbeiten.

Projekt „Lesegruppe“

Wie riecht Farbe?

Die Lesegruppe entstand aus einer unserer Gruppen heraus, aus der Drachengruppe. Die beteiligten Kinder waren 4 bis 6 Jahre alt.

Über die Projekte „Gefühle“ und „Was ich kann und was ich können möchte“ entstand bei den Kindern der Wunsch, Schreiben zu lernen.

Auf den Fotos erkennt man, in welcher unterschiedlichen Art und Weise die Kinder geschrieben und Erfahrungen gemacht haben.

 

Im Turnraum

Sie haben von Infoblättern abgeschrieben, die wir für die Kinder im Gruppenraum aufgehängt hatten, sie haben im Waschraum die Namen aller Kinder abgeschrieben, sie haben Buchstaben ausgeschnitten und daraus Wörter gelegt…

… und im Turnraum mit Kreide geschrieben.

Recht schnell kristallisierten sich Kinder heraus, die besonders stark daran interessiert waren, Schreiben zu lernen, aber auch Lesen zu können.

Mit diesem Wunsch sind zwei Kinder an mich herangetreten, ein fünfjähriges und ein vierjähriges. Es waren die beiden, die dann auch die schnellsten Lernfortschritte machten.

Insgesamt waren es zunächst sechs Kinder, die bei der Lesegruppe mitmachen wollten. Im Laufe der Zeit sind drei wieder abgesprungen, und zwei neue sind dazugekommen.

Zunächst vereinbarten wir keinen festen Termin für die Lesegruppe, was dazu führte, dass die Kinder mich häufig baten, mit ihnen zu lesen. Sicher ist Jedem klar, dass noch andere Aufgaben von mir zu erfüllen waren, so dass wir einen wöchentlichen Termin vereinbarten. Jetzt kam nicht mehr dauernd die Frage: „Kannst Du jetzt mit uns lesen?“, sondern die Kinder fragten: „Ist heute Freitag?“

Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es hoch begabten und besonders begabten Kindern wichtig ist, klare Zielsetzungen zu haben und dieses Ziel auch deutlich und nicht zu langsam und nicht zu spielerisch zu verfolgen. Für die Lesegruppe hatten wir deshalb von Anfang an eine klare Zielvereinbarung:

Wir wollen gemeinsam Lesen lernen.

Wie sind wir es angegangen?

Nach meiner ersten Frage: Was brauchen wir, um lesen lernen zu können?

kam als Antwort von den Kindern: „Buchstaben.“ Sicherlich auch deshalb, weil das Thema Buchstaben schon in der Gruppe präsent war. Diese besonders interessierten Kinder hatten alle bereits ein komplettes Alphabet auf Pappe geschrieben und ausgeschnitten. Das kam uns jetzt zugute.

Ohne Umwege haben wir erst mal überprüft, wie weit wir schon sind. Welche Buchstaben sind bekannt, welche nicht?
Es bewährte sich gut, dies über ein Kim-Spiel festzustellen.

Das ging so: Einige ausgeschnittene Buchstaben wurde unter ein Tuch gelegt. Ein Kind versuchte dann, einen Buchstaben zu ertasten und zu benennen.

An dieser Stelle war es für das weitere Lesenlernen wichtig, zwischen dem Buchstabennamen und dem Laut zu unterscheiden, für den der Buchstabe steht .
Zum Beispiel sagten wir jetzt s und nicht es und b und nicht be. Dies war für die Kinder ein wichtiger Lernprozess, weil sie ohne diesen Hilfsschritt die Buchstaben zunächst nicht erkannten.

Wenn ein Kind einen Buchstaben nicht richtig ertastete oder nicht benennen konnte, hat es diesen Buchstaben zum Lernen mit nach Hause genommen. Dies entstand dadurch, dass ich den Kindern erklärte, dass man die Buchstaben sicher beherrschen muss, um Lesen lernen zu können, und ein Kind dann für sich entschied: Dann nehme ich den Buchstaben zum Üben mit nach Hause. Dies griffen die anderen Kinder sofort auf, und ein Kind, das schon einen älteren Bruder hat, brachte dafür den Begriff „Hausaufgabe“ in die Runde.

Ich hatte den Eindruck, dass alle sich sehr ernst genommen fühlten in ihrem Wunsch, tatsächlich lesen lernen zu wollen. Sie merkten, dass ich es ihnen zutraute, eine Hausaufgabe zu erledigen und damit ihrem eigenen Ziel näher zu kommen. Es klappte tatsächlich, die Kinder lernten die restlichen Buchstaben auf diesem Wege gut und schnell.

Als das geschafft war, habe ich den Kindern vermittelt, dass aus Buchstaben Worte gebildet werden, die dann einen Sinn ergeben.

Aber meine Erklärung, dass das Wort „Blume“ für einen Leser die gleiche Bedeutung hat wie das Bild einer Blume, war für die Kinder nicht so ohne weiteres nachvollziehbar.

Dieses wurde erst für sie begreifbar, als wir den Buchstaben „Leben eingehaucht“ haben, indem sie zu Männchen wurden. Jeder Buchstabe wurde zu einer Figur. Sie hießen aber weiterhin b, c, f usw.

Der entscheidende Schritt war dann, dass die einzelnen Männchen sich die Hände geben, um zusammen zu gehören und so zu einem Wort zu werden.

Das haben wir dann versucht.

 

 

 

 

 

 

 

Bei den beiden am höchsten begabten Kindern (die auch am Anfang die Idee zum Lesenlernen an mich herangetragen hatten) klappte es sofort. Sie hatten kein großes Problem mit dem Zusammenziehen der Buchstaben zu einem Wort.

Das ältere der beiden Kinder (Paula – alle Namen geändert) hatte meiner Vermutung nach schon vorher begriffen, wie das Lesen geht, hatte sich aber bis dahin nicht getraut, das öffentlich zu machen. Die Vierjährige hat es genau in dieser Zeit erlernt.

Die anderen Kinder der Lesegruppe brauchten länger, um das Zusammenziehen der Buchstaben als Prinzip zu begreifen, und sie brauchten auch länger, um zum Beispiel die Buchstabenkombinationen sch und ch zu beherrschen. Schön zu beobachten war, wie das ältere Mädchen diesen Kindern ausdauernd geholfen hat. Ich habe aber auch großen Respekt vor der Vierjährigen (Rosi), die so ernsthaft mit ihrem eigenen Lernprozess beschäftigt war.

Bücher müssen her!?

Dann wurde klar: Wer lesen will, braucht Bücher. Die Auswahl eines Buches, das allen gefiel und das alle zusammen lesen konnten, gestaltete sich schwierig. Ich bemerkte, dass den Kindern die Idee wichtig war: Was ich geschrieben habe, kann ich auch lesen. Die Kinder konnten sich nicht einigen, sodass ein Mädchen schließlich sagte: „Dann machen wir eben unser eigenes Buch.“ Die Idee gefiel allen.

Auch der Titel „Heidi und die kleine Raupe Nimmersatt“, den das Kind im selben Atemzug nannte, war sofort akzeptiert.

Der Text stand im Vordergrund, also wurde zunächst der Text erarbeitet. Wir gingen alle ins Büro, haben uns bei Powerpoint ein Layout ausgesucht. Paula (5 Jahre) schlug den Text vor, den ich zunächst eintippte, bis Rosi (4 Jahre) mich mit der Frage „Kann ich auch mal?“ ablöste. Wenn sie etwas falsch eingetippt hatte, erschien die rote Markierung des Rechtschreibprogramms. Nach kurzer Erklärung verstand sie, dass sie das Wort ändern müsste, damit es richtig ist. Zum Beispiel bei „mid“ sprach sie sich das Wort noch einmal vor und erkannte selbst, dass sie das d durch ein t ersetzen musste.

Bei jedem Treffen der Lesegruppe schrieben wir also ein Stück Text, und anschließend malte jedes Kind ein Bild zu dem Text.

Besonders Rosi war es sehr wichtig, immer wieder Aufgaben zu bekommen, die mit Schreiben und Lesen zu tun hatten, zum Beispiel hat sie immer wieder Arbeitsblätter eingefordert und zwischendurch viele Fragen gestellt. Auch kam sie öfters in mein Büro, um dort alleine und mit mir an dem Buch weiter zu arbeiten. Wichtig war ihr, sagen zu können „Ich bin dann mal im Büro“.

„Ein D ,ein o ,und ein r, kommt dann ein t ???

Durch die Lesegruppe wurde ich für diese Kinder zur anerkannten Expertin in Sachen Lesen und Schreiben.

 

 

 

 

Froh darüber, dass sie mir zutrauten, lesen und schreiben zu können, machten wir weiter.

Als einige Seiten fertig waren, wurde es den Kindern wichtiger, nicht weiterhin viel zu schreiben, sondern das Buch fertig zu bekommen. Wir haben dann darüber geredet, wie so ein Buch denn überhaupt handwerklich fertig gestellt wird.

Wir lernten eine Buchbinderin kennen, die Bücher noch von Hand bindet, und die konnten wir besuchen.

Jetzt konnten wir das Buch fertig stellen, weil wir jetzt wussten, wie es geht.

Zum Abschluss der Buch-Aktion luden wir die Eltern ein, um das Buch ihnen und allen aus der Gruppe vorzulesen. Dazu musste es Ei s geben (weil da ja das schwierige „ei“ drin ist). Wir hätten auch ein Schnitzel essen können, weil da das schwierige “sch“ drin ist, aber ein Eis fanden die Kinder besser.

 

Hier sei kurz erwähnt, dass das „sch“ geübt werden muss, weil die Kinder beim ersten Zusammenziehen der Buchstaben das Wort sonst nicht erkennen können.

Die Kinder bekamen eine Urkunde, die ihnen bescheinigte, dass sie an der Lesegruppe erfolgreich teilgenommen haben.

Dies und das

Die Lesefähigkeiten der einzelnen Kinder gingen schnell sehr weit auseinander. Auch nach dem Ende des Projekts haben sie alle die Möglichkeit, ihre Lese- und Schreibfähigkeiten in der Gruppe zu erweitern. Außerdem steht ihnen das Studierzimmer zur Verfügung.

Dies ist ein Raum, in dem Kleingruppen oder einzelne Kinder die Möglichkeit haben, in Ruhe ihren Interessen nachzugehen. In ihm befinden sich ein PC, Bücher, Experimentierkästen und bestimmte Spielmaterialien. Die Lesekinder finden dort auch Stifte, Papier, Schreib- und Anlauttabellen und ausgedruckte Buchstaben vor. Die Schreibtabellen helfen zum Beispiel Kindern, die bisher nur große Druckbuchstaben kennen, sich die zugehörigen Kleinbuchstaben selbstständig herauszusuchen.

Neben der Arbeit mit den Kindern ist mir auch sehr daran gelegen, Gespräche mit der Schule zu führen. Kinder, die schon lesen können, einzuschulen, ist schwierig. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sie sich schnell sehr stark langweilen, zumal sich mit der Lesefähigkeit ja meist auch die Schreibfähigkeit entwickelt.

Ich erhoffe mir von den Gesprächen, dass wir dazu kommen, Material auszutauschen. Wir möchten uns gerne an den Lesebüchern der Schule orientieren, damit die Kinder bei einer frühen Einschulung auf vertraute Materialien treffen.

Ich wünsche mir, dass Kinder, die besonders weit sind, in der Schule hospitieren können, dass in Einzelfällen auch eine Teileinschulung möglich wird und dass eine vorfristige Einschulung auch mitten im Jahr möglich wird. Vorstellen könnte ich mir auch, dass in der Kita oder in der Grundschule gemeinsame Lerngruppen aus Kindergarten- und Grundschulkindern gebildet werden, damit sie, wenn sie in die Schule kommen, mit ihren Fähigkeiten nicht allein gelassen werden.

 

Copyright © Silvia Hempler, siehe Impressum.
Datum der Veröffentlichung 5.5.07