von Irmi Jurke

 

Hans war 5;4 Jahre alt, als sich bei einer Testung eine Hochbegabung herausstellte. Daraufhin wechselte von einer anderen Einrichtung in unseren Kindergarten.

In der vorherigen Einrichtung hatte er starke Anpassungsschwierigkeiten gezeigt. Auch neigte er in schwierigen Situationen dazu, sich gegenüber seinen Gruppenmitgliedern aggressiv zu verhalten.

Er wurde von den Erzieherinnen in seinem alten Kindergarten nicht als hoch begabt angesehen, da er vorgeschriebene Aufgaben, wie zum Beispiel eine vorgezeichnete Blume auszuschneiden, nicht erfüllte und sich den Aufforderungen der Gruppenleitung mit den Worten „das kann ich nicht“ und „das weiß ich nicht“ ständig entzog. Er war zum Einzelgänger geworden und konnte keinen körperlichen Kontakt ertragen.

Bei meinen ersten Begegnungen wirkte Hans auf mich traurig, verschlossen und schien sich ständig in einer eigenen Welt zu befinden.

…kurz gefasst…

Hans zeigte Symptome einer Dauerfrustration. Seine Kommunikation im Kindergarten war stark eingeschränkt. Im neuen Kindergarten hat und ergreift er die Chance, seine kommunikativen Fähigkeiten und seine Kreativität wieder zu entdecken. Er erlebt, dass seine Gedanken, seine Äußerungen und seine Interessen Ernst genommen werden, und fasst neues Vertrauen.

Siehe auch: Dauerfrustration.

Welches Kontaktverhalten zeigte Hans bei uns zunächst?

Er nahm zunächst nur zaghaft durch Blickkontakt, zustimmendes Nicken und Ja-Sagen Kontakt zur Gruppenleiterin auf.

Er beobachtete sehr genau, was die Kinder der Gruppe gerade „arbeiten“ und achtete auf das Agieren der Erzieherinnen.

Auf Ansprache der Kollegin: „Möchtest du in den Computerraum oder in die Werkstatt?“ antwortete er „Das kann ich alles nicht.“

Ich begleitete ihn daraufhin in den Computerraum, spielte mit ihm ein Computerspiel und bat ihn dann, sich an meine Kollegin zu wenden, wenn er Fragen hat, und ging in meine eigene Gruppe zurück.

Hans verließ den Computerraum und folgte mir. Ebenso geschah es in der Werkstatt, obwohl er offensichtlich großes Interesse an Holzarbeiten hatte. Auf meine Frage: „Was brauchst du für Hilfe, um dort bleiben zu können?“ antwortete Hans: „Ach nichts, ich habe keine Lust.“

Er zeigt Anzeichen von Resignation und depressiver Verstimmung.

Kontaktaufnahme zu den Kindern

geschah weiter nur dadurch, dass Hans die Kinder beobachtete. Er spielte zum Beispiel neben fünf Jungen auf dem Bauteppich mit seinen eigenen, von zuhause mitgebrachten Autos, nahm dabei aber sehr genau die Gespräche der Kinder wahr.

Hans fragte mich: „Warum hat M. mir so ein komisches Gesicht gezogen und zu mir gesagt: Guck nicht so doof?“

Einige Tage später kam Hans das erste Mal ins Frühstückszimmer. Er wusste nicht, wo seine Kindergartentasche hängt und wo das Geschirr steht, und bat, bei mir auf dem Schoß sitzen zu dürfen.

Kontaktaufnahme zu den anderen Erzieherinnen der Einrichtung

fand oft durch unsanftes Anrempeln und die Frage „Hast du mich heute schon gesehen?“ statt. Eines Morgens fragte mich Hans: „Freust du dich heute wieder, dass ich da bin und spielst du heute morgen mit mir?“

Ein erster zaghafter Vertrauensbeweis von Hans. Er traut der Kollegin zu, ihm beim Verstehen der Kommunikation vielleicht zu helfen. Man könnte auch sagen: Er testet sie, ob sie ihm helfen kann.

Die Kinder, die an seinen von zuhause mitgebrachten Müllfahrzeugen interessiert waren, durften nach seinen Anweisungen mitspielen. Er gab genaue Auskunft über Müllsortierung und -entsorgung. Auch entwickelte sich ein zaghafter Gesprächskontakt zu den Kolleginnen auf dem Außenspielgelände, wo er oft den halben Vormittag damit verbrachte, auf die „richtigen“ Müllfahrzeuge zu warten.

Hans möchte jetzt häufiger auf meinem Schoß sitzen und nimmt oft (manchmal sehr intensiv „grob“) zu mir Körperkontakt auf.

Äußerungen und Verhalten im Gesprächskreis

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen möchte ich jetzt sein kommunikatives Verhalten im Gesprächskreis beschreiben.

Hans nimmt zunächst, so scheint es im ersten Moment, teilnahmslos am Gesprächskreis teil. Allerdings beobachtet er sehr stark und hinterfragt mehrmals, ob er Kreisspiele mitmachen muss. Nein, natürlich muss er nicht, außerdem sind Kreisspiele in unseren Gesprächskreisen eher selten. Dann fängt er an, heftig mit seinem Stuhl zu kippeln. Auf thematische Fragen der Erzieherin an die gesamte Gruppe meldet er sich nicht und gibt auch keine spontanen Antworten.

Wird er aber direkt angesprochen, weiß er sehr viel zum Thema und gibt richtige Antworten.

Absprachen und Regeln werden von Hans gewissenhaft eingehalten. Er stellt häufig Fragen, die er selbst beantworten kann. Aussprüche der Erzieherinnen werden hinterfragt, diskutiert und zuhause weiter besprochen. Ergebnisse dieser Gespräche bringt er am nächsten Tag wieder mit in den Kindergarten.

Hans hat ein äußerst gutes Gedächtnis. Er kann sich an Kleinigkeiten aus Geschichten oder aus Gesprächen mit den Erwachsenen genau erinnern. In sehr spannenden Momenten – das kann zum Beispiel mitten in einer Geschichte sein – steckt er zeitweise zwei Finger in den Mund. Im Gesprächskreis versinkt er häufig in seine eigene Welt.

Es hat den Anschein, dass er die Art der Gespräche zwischen Kindern und Erzieherin, die während des Gesprächskreises stattfinden, nicht kennt. Er hinterfragt auch hier, ob die Kinder immer mitbestimmen dürfen.

Hans hat inzwischen offenbar große Freude am Gesprächskreis, er möchte jeden Tag wissen, ob es ihn morgen auch wieder geben wird.

Es hat den Anschein, dass er sich an vielen Punkten zunächst der vielen Freiheiten und Möglichkeiten in unserem Kindergarten (die er jetzt noch gar nicht voll nutzt) vergewissern muss, was ihm Freude auf den nächsten Tag geben könnte.

Da er sich intensiv für die Müllabfuhr interessiert, ist er oftmals hin und her gerissen. Denn zur Zeit des Gesprächskreises kommt oft die Müllabfuhr am Kindergarten vorbei und er will sie nicht verpassen. Er möchte dann, bevor er sich entscheidet nicht am Gesprächskreis teilzunehmen, von der Erzieherin wissen, ob sie ihm hinterher alles genau erzählt. Trotz dieser Bestätigung hat er aber noch Schwierigkeiten sich zu entscheiden. Er führt gern nach dem Gesprächskreis angefangene Gesprächsthemen fort, um sie weiter in die Tiefe gehend zu besprechen.

Hans möchte auch im Gesprächskreis zunächst neben der Erzieherin oder auf ihrem Schoß sitzen.

Hans nimmt im Matthäuskindergarten zum ersten Mal an einem Projekt teil

Anknüpfend am Interesse von Hans planen wir ein Müll- und Umwelt-Projekt: „Die Olchis, Müllvermeidung und Müllentsorgung“. (Die Olchis sind Figuren aus einem Bilderbuch, siehe Bilderbücher.)

Den Anstoß zu diesem Projekt gab Hans, als er immer wieder kritisierte, dass am Frühstückstisch im Kindergarten der Abfall nicht sorgsam getrennt wurde.

Nun im Projekt zeigt er großes Engagement, er bringt passende Bücher und Müllfahrzeuge von zuhause mit.

Er beteiligt sich aktiv an der Raumgestaltung zum Thema. So ist er ausdauernd dabei, als es darum geht, Schuhkartons grün anzumalen, um anschließend mit Unterstützung der Erzieherin einen „Feuerstuhl“ (der Flugdrachen für die Olchis) daraus zu bauen. Er ist aber auch hier unsicher, wenn Farbe an den Kittel oder die Maldecken kommt. Die Freude am Tun weicht dann aus seinem Gesicht und er ist erschrocken. Bei einer selbst ausgedachten Geschichte zum Thema bringt er gute Ideen dazu ein, wie sie weitergehen könnte und wie man den Olchis helfen kann.

Hans zeigt starke Verunsicherung im Kreativbereich, möchte aber gern einen „Olchi“ basteln und macht dies zunächst zuhause.

Er zeigt gutes Hintergrundwissen zum Thema „Müllbeseitigung“, und die gesamte Gruppe wird durch seine Erzählungen zum Begriff der Schöpfung geführt. Auch hier bringt er am nächsten Tag für die Kinder passende Bücher mit. Auffällig ist, dass er sein Wissen immer wieder anzweifelt, was an seinem fragenden Blick zur Erzieherin abzulesen ist. Oft ist er dann auch plötzlich still. Auf die Frage: „Möchtest du noch etwas sagen?“ schüttelt er dann den Kopf.

Hans zeigt ein gut ausgeprägtes Zeitgefühl, wenn er von „vorgestern“ oder „übermorgen“ spricht und kann dieses auch beschreiben. Er weiß, an welchen Wochentagen und zu welcher Uhrzeit die jeweiligen Müllautos oder Straßenfeger kommen und welche Tonnen geleert werden. Interessierte Kinder fragen ihn morgens oder rufen ihn inzwischen, wenn das Müllauto kommt.

Insgesamt zeigt sich, dass Hans unter großer Verunsicherung leidet und noch häufig auf die Unterstützung der Erzieherin angewiesen ist. Sein Wissensschatz ist sicherlich sehr viel größer als er ihn zurzeit frei gibt.

Weiteres Projekt:

Der Wunderwörterbaum

oder wie wir die „schlechten“ Wörter vergraben haben.

Ziel:

Die Kinder sollen erfahren, dass Schimpfwörter verletzend sind. Sie erlernen Strategien, diese Worte im Kindergarten nicht mehr zu verwenden.

Ausgangssituation:

In einer Gruppe benutzten die Kinder im Umgang miteinander heftige Schimpfwörter. Versuche der Kolleginnen, es den Kindern zu verbieten, scheiterten. Nachdem die Kinder in der Ringelblumengruppe auch zu diesem Sprachgebrauch übergingen, überlegte ich, wie die Situation mit den Kindern sinnvoll bearbeitet werden könnte. In einem ersten Gespräch im Gesprächskreis erörterte ich mit den Kindern, welche Gefühle es bei ihnen auslöst, wenn sie sich gegenseitig schlechte Worte sagen, und ob sie über deren Bedeutung Bescheid wissen.

Da kam mir ein glücklicher Zufall zur Hilfe.

Hans führte mit mir in dieser Zeit sehr lange Gespräche, die von seiner Seite immer ausgedehnt wurden mit dem Wort ‚aber‘. Selbst zehn Antworten reichten ihm nicht, und wenn ich sagte: „Ich weiß jetzt auch nicht weiter.“, kam von ihm: „Ja, aber dann musst du nachdenken.“ In einem solchen Gespräch sagte ich zu ihm: „‚Aber‘ haben wir im Garten vergraben.“ Nachdenklich ging Hans weg.

Am nächsten Morgen kam Hans aufgeregt zu mir und sagte:

„Wörter kann man nicht im Garten vergraben und ‚aber‘ ist kein Schimpfwort.“

Ich bestätigte ihm, dass ich ihm nicht gesagt hatte, dass ‚aber‘ ein schlechtes Wort ist. Ich erklärte, dass ich damit gemeint hatte, dass er sich für dieses Wort ein neues wie zum Beispiel ‚weshalb‘ einfallen lassen könne. Hans antwortete: „Das brauche ich ja nicht, wir haben ja ‚aber‘ „.

Am nächsten Morgen brachte ich im Gesprächskreis die Idee ein, alle schlechten Wörter auf ein Blatt Papier zu schreiben.

Ein Schüler des ESG (Evangelisch-Stiftisches Gymnasium) Gütersloh, der zu dieser Zeit ein Praktikum in der Ringelblumengruppe machte, übernahm diese Aufgabe. Nun ging es darum, alle schlechten Wörter auszusprechen und aufzuschreiben. Einige Kinder hatten keine Probleme zum Teil auch recht laut die ihnen geläufigen Schimpfwörter zu sagen, andere zeigten Unsicherheit und brauchten Zeit.

Beim nochmaligen Vorlesen der Wörter war bei einigen Kindern große Betroffenheit zu spüren, andere wiederum waren fasziniert, dass man solche Worte aussprechen durfte, ohne Sanktionen fürchten zu müssen.

Dann kam Hans mit der Frage: „Was wird mit dem ‚aber‘?“ Die Kinder sahen ihn fragend an.

Ein Junge antwortete: „Das Wort ‚aber‘ schreiben wir auch mit auf.“ Hans dachte nach. „O.k.“, sagte er, „aber – oh, schon wieder ‚aber‘ gesagt – dreimal darf man es am Tag sagen.“

Die Wörter wurden aufgeschrieben und in einen Briefumschlag gesteckt, der die Aufschrift trug: „Diese Worte wollen wir in der Ringelblumengruppe nicht mehr sagen“ gesteckt. Der Brief wurde in einem großen Loch im Garten, das ein Junge gegraben hatte, verbuddelt. Ein Stock, der von den Kindern in die Erde gesteckt wurde, sollte die Stelle kennzeichnen, an der der Brief lag.

Als Nachbereitung überlegte ich mit den Kindern, was mit den vergrabenen Wörtern geschehen konnte. Die Kinder antworteten: „Sie verrotten und werden zu Kompost. Es könnte jedoch auch passieren, dass sich die Buchstaben vermischen, wenn sie nass werden, und es könnten neue Worte entstehen.“

Ein Mädchen brachte die Idee ein, es gäbe mit Sicherheit eine Wörterfee, die dann vielleicht neue Wörter bringen könnte.

Hier macht Hans die Erfahrung, dass verschiedene gute Ideen produziert werden und Anklang finden.

Von unserer Supervisorin Nadine Zimet kam der Anstoß, den Kindern an Stelle der vergrabenen Schimpfwörter neue wundersame Zauberworte zu schenken.

Daraufhin gestaltete ich mit den Kindern einen Wörterwunschbaum, der in der Gruppe einen besonderen Platz auf einem liebevoll gestalteten Tisch bekam.

Die Kinder behielten in der kommenden Zeit das Erdloch im Blick. Nach mehreren Tagen fanden sie an dieser Stelle, an ihrem Stock befestigt, eine Papierblume mit dem Zauberwort „Kundus, marus bubi, bumms“ – ins Deutsche übersetzt: „Ein schöner Tag“. In der nächsten Zeit fanden die Kinder noch mehrere Wunschblumen im Garten, die nun in der Gruppe am Wörterwunschbaum hängen.

Dass dieser Wörterwunschbaum noch ein weiter tragendes Element werden sollte, war uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.

Hans war mit viel Eifer dabei, alle neuen Wörter möglichst schnell zu lernen und auch selbst aus Buchstaben kleine Wörter zu erfinden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht offen gezeigt, dass er bereits lesen und schreiben konnte.

Für mich faszinierend war sein Ehrgeiz, das Wort ‚aber‘ nicht mehr zu gebrauchen. Er war so erfinderisch darin, sich neue Wörter und andere Satzstellungen und Fragen auszudenken, dass er es bis heute so gut wie nicht mehr anwendet.

Natürlich wurden und werden auch wir Erzieherinnen von Hans darauf aufmerksam gemacht, wenn wir ‚aber‘ sagen, und auch wir haben die Möglichkeit, uns bis zu dreimal am Tag zu versprechen.

Hans selber teilte mehrfach mit, dass es toll wäre, sich neue Wörter für ‚aber‘ auszudenken. Ich bin noch jetzt erstaunt, welch anderer Gesprächsaustausch jetzt mit Hans stattfindet. Faszinierend ist auch, welche Gedanken sich Hans inzwischen über Antworten macht, ehe er erneut eine Frage stellt.

Er hat gut zuhören gelernt. Offenbar hat er hier die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, über die Antworten nachzudenken.

Im Nachhinein glaube ich, dass die stereotype Verwendung des Wörtchens ‚aber‘ für ihn eine Möglichkeit war, mit den Erwachsenen im Gespräch zu bleiben. Inzwischen ist er anscheinend überzeugt worden, dass die jetzigen Gespräche für ihn zufrieden stellender und bereichernder sind.

Die Schimpfwörter sind verschwunden!

Das gesamte Kindergartenteam machte durch dieses Projekt die neue gute Erfahrung, dass die Kinder ohne Verbot bis zum heutigen Tag, – das war vor einem halben Jahr beendet – keine schlechten Wörter mehr benutzen. Außerdem sind nach wie vor alle Kinder der Gruppe bemüht, das Wort ‚aber‘ möglichst durch ein anderes Wort zu ersetzen.

Sie erinnern sich freundlich und ohne Abwertung gegenseitig daran, dass sie diese Wörter vergraben haben und dass es neue Zauberworte gibt.

Anwendung und Weiterführung des Gelernten in einem weiteren Projekt

Inzwischen stand ein neues Projekt an: Die Ritterzeit.

Es sollte ein großes Rittersommerfest gefeiert werden – mit friedlichen Ritterspielen, Sängerwettstreit, Burgenbau, usw. Das Fest sollte mit einem passenden Gottesdienst beginnen.

In einer Teamsitzung mit der Pfarrerin und Elternvertretern wurde die biblische Geschichte von David und Goliath ausgewählt.

In dieser Geschichte kommt es wegen eines Stücks fruchtbaren Landes zu einem Kampf zwischen Israeliten und Philistern. Die Philister haben einen übermächtigen, starken Krieger: Goliath. Die Israeliten haben große Furcht von dem Kampf, da bittet ein kleiner Hirtenjunge, David, mit in den Kampf ziehen zu dürfen.

Zunächst lehnt der König ab, doch endlich darf David dem Heer folgen.

Als Alle aus Furcht vor Goliath fliehen, erlegt David den Riesen mit seiner Steinschleuder, und die Israeliten gewinnen den Kampf.

Die Geschichte wurde den Kindern im Gesprächskreis erzählt und mit ihnen erarbeitet.

Hans, der von Hause aus eine feste religiöse Grundlage hat, teilte sofort mit, dass er diese Geschichte nicht mag, weil sich darin Menschen mit Waffen bekämpfen. Er wollte beim Gottesdienst keine Rolle übernehmen.

Ich dachte über seine Worte nach, und in der Besprechung am Nachmittag machte ich den Kolleginnen den Vorschlag, die Geschichte zu verändern und mit den Kindern eine neue Lösung zu suchen. Unsere Gedanken waren schnell beim Wunschwörterbaum.

In den nächsten Tagen fanden intensive Gespräche zwischen mir und den Kindern statt: wie überlegten, wie Goliath ohne Waffe besiegt werden könnte.

Ein Junge kam dann auf die Idee, sie könnten für David die neuen Zauberworte nehmen. Goliath hatte solche Worte sicher noch nicht gehört und vielleicht würde er dann nachdenken.

Siehe auch: Die Auseinandersetzung mit dem Guten und dem Bösen

Das war der Anstoß, den Inhalt des Gottesdienstes mit Kindern, Eltern, Pfarrerin und Team so zu gestalten, dass David mit Hilfe der Zauberworte Goliath besiegen würde.

Hans war begeistert von dieser Idee und dachte immer wieder darüber nach, dass Reden ja eigentlich gut wäre. Er selber wollte die Rolle des Fahnenträgers der Israeliten übernehmen. Ein kleiner Junge aus der Gänseblumengruppe schlüpfte in die Rolle des David.

Mit viel Mühe bereiteten Eltern auf Tapetenrollen einen riesigen Goliath vor, der über einer Holzstange aufgehängt wurde.

Der Gottesdienst war für die Kinder ein nachhaltiges Erlebnis. Sie zogen aus verschiedenen Richtungen mit Fahnen in die Kirche ein, und als David Goliath mit seinen Zauberwortblumen in die Knie zwang, wurde dieses durch rhythmischen Sprechgesang untermalt und durch Instrumente begleitet.

Unsere Pfarrerin dankte in ihrer Ansprache den Kindern. Sie hätten den Erwachsenen vorgemacht, wie der Weltfrieden entstehen könnte – nicht durch Waffen, sondern durch gute Worte. Wir Erwachsenen sollten uns die Kinder zum Vorbild nehmen.

In Gesprächen nach dem Gottesdienst und nach dem anschließenden Fest wurde mit den Kindern noch einmal aufgearbeitet, dass nicht Gewalt der Weg ist, Probleme und Konflikte zu lösen, sondern dass man mit guten Worten und Verständnis für sein Gegenüber oft mehr erreicht.

Für Hans waren dieser Gottesdienst und das anschließende Ritterfest nachhaltige Erlebnisse. Er hat sich den ganzen Tag so sichtlich wohl gefühlt und eine ganz neue Erfahrung gemacht:

Ritterzeit war nicht nur Kampf und Töten, es fanden auch friedliche Spiele auf der Burg zum Kräftemessen statt, an denen man mit Freude teilnehmen konnte.

(Nun ja, es waren natürlich in der Ritterzeit Übungen, um sich auf das Töten möglichst gut vorzubereiten – im günstigsten Fall, nicht um anzugreifen, sondern um sich zu wehren und um sich selbst, die Bevölkerung und die eigenen Besitztümer zu verteidigen. Das sind Gedanken, die bei den Kindern dann vermutlich in ihrer weiteren Entwicklung auftauchen werden. Und dies wird dann erneut moralisch bewertet werden müssen.)

Die Geschichte von David und Goliath hat für die Kinder und uns Erzieherinnen seit jenem Projekt eine völlig neue Bedeutung und einen sehr viel nachhaltigeren Inhalt.

Der Wunschwörterbaum hat seinen festen Platz in der Gruppe, und wenn ein Kind ein neues Wort erfindet, wird es auf eine Blume geschrieben, der gesamten Gruppe geschenkt, und anschließend wird die Blume am Baum befestigt.

Zum Abschluss ihrer Kindergartenzeit haben alle Schulkinder im Rahmen des Abschiedsfestes anlässlich einer Schatzsuche eine selbst geschriebene Geschichte mit einem Wunschstein geschenkt bekommen. Diese Geschichte sollte sie an David und seine Zauberworte erinnern und ihnen helfen, in ähnlichen Situationen Worte zur Verfügung zu haben, um ihr Gegenüber in Streitsituationen zum Nachdenken zu bewegen.

Siehe: Die Geschichte von David und Goliath .

In der Reflexion mit dem Team stellten die Erzieherinnen fest, dass dieses Projekt für die Kinder eine tief greifende Veränderung brachte. Alle Kinder waren eingebunden. Es war ein Projekt, in dem die Kinder zu jeder Zeit das Ziel gemeinsam mit der Erzieherin erarbeitet haben, sowohl in Gesprächen, im Rollenspiel und in den Vorbereitungen.

Es hat allen Kindern, insbesondere Hans, neue Denkanstöße geliefert, und es war auch für mich nach vielen Jahren ein bereicherndes Projekt. Für mich ist es noch heute faszinierend, wie aus einem Satz („Den ‚Aber‘ haben wir im Garten vergraben“) eine so tragende Geschichte mit viel Veränderung im Denken und im Handeln entstehen konnte.

 

Datum der Veröffentlichung: April 2011
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