von Bianca Arens

 

In der letzten Zeit habe ich meine besondere Aufmerksamkeit auf ein Mädchen namens Selin gerichtet. Sie ist 5;5 Jahre alt. Seit zweieinhalb Jahren besucht sie unsere Einrichtung. Ihre Eltern sind türkischer Abstammung und beide in Deutschland geboren. Selin wächst zweisprachig auf. Deutsch spricht sie fließend und akzentfrei, Türkisch kann sie, wie mir erläutert wurde, auch fließend sprechen, allerdings haben die Verwandten bei ihrem letzten und bisher einzigen Türkeiurlaub wohl ihren deutschen Akzent „herausgehört“.

… kurz gefasst …

Ein fünfjähriges Mädchen zeigt sich sprachlich und pädagogisch besonders begabt. Ihre Erzieherin fordert diese Begabung heraus, indem sie dem Kind eine leitende Rolle in einem Angebot anbietet, die das Mädchen erstaunlich gut meistert.

 

Selin ist ein besonders begabtes Mädchen, das gerne lernt

Selin ist immer sehr motiviert, wenn Angebote stattfinden, besonders wenn sie dabei etwas Neues lernen kann.

Sie besitzt einen großen Wortschatz und hat eine einwandfreie Ausdruckskraft. Sie kann auch spontan und problemlos von Deutsch ins Türkische übersetzen, was ich bei anderen Kindern noch nie so beobachtet habe.
Mit drei Jahren konnte sie schon Buchstaben erkennen und manchmal zu einem Wort zusammensetzen. Dies macht sie heute auch noch, was aber nicht bedeutet, dass sie fließend Texte lesen könnte, aber mit etwas Anstrengung bekommt sie Wörter heraus.

Dies fiel uns auf, als sie uns die Namen der Spiele von den Spielekartons vorlas. Wenn sie so eine Buchstabenaneinanderreihung liest, kann sie auch anschließend das komplette Wort wiedergeben, das heißt ja, dass sie wirklich nicht nur die Buchstaben aneinander setzt, sondern zugleich auch die Bedeutung versteht.
Wir haben natürlich auch schon mal ihre Eltern darauf angesprochen. Sie erklärten uns, dass Selin sich schon sehr lange für Buchstaben interessiert und sie das auch unterstützen, indem sie zusammen Buchstabenspiele machen. Es ist klar, dass die Eltern sehr stolz auf ihre Tochter sind. Ich denke allerdings nicht, dass sie ihre Tochter unter Druck gefördert haben; denn Selins jüngere Schwester zeigt keinerlei Interesse auf diesem Gebiet und bei ihr üben die Eltern offenbar auch keinen Lerndruck aus.
Selin selber erzählt immer, dass ihr ihre Eltern jedes Mal, wenn sie mit ihnen lesen lernen will, antworten, dass sie noch viel Zeit dazu habe, wenn sie in die Schule kommt. Sie bremsen sie also eher. Es erscheint mir so, dass es eindeutig die Motivation von Selin ist, das Lesen endlich zu lernen und das sie dabei nicht allzuviel Unterstützung seitens ihrer Umwelt erhält.

Selin kann sich Inhalte von Gesprächen, eingeführten Themen und Geschichten sehr gut merken. Manchmal kann sie bestimmte Passagen fast wortgetreu wiedergeben, aber ganz sicher immer inhaltlich. Besonders eine Angebotsreihe, in denen es ums Reimen kurzer Texte ging, hatte ihr Interesse geweckt. Sie beschäftigte sich auch „privat“ weiter damit und präsentierte ihre Ergebnisse an darauf folgenden Treffen.
Im Vergleich zu anderen Kindern fielen hier ihre besondere Merkfähigkeit und ihre Fähigkeit zu solchen Wortspielen auf.

Bei Themen, die ihr Interesse nicht ganz so berühren, setzt sie sich in ihrer „Freizeit“ vielleicht nicht ausdauernd damit auseinander, aber während der Angebote im Kindergarten ist sie interessiert und auch zeitlich genügend motiviert.

Sie stellt immer hohe Ansprüche an sich selbst und ist frustriert, wenn ihr etwas nicht gelingt. Sie vergleicht ihre Fähigkeiten und ihre „Arbeiten“ (zum Beispiel Bilder oder Bastelarbeiten) mit denen anderer Kinder. Ihre Unzufriedenheit äußert sich dann in schlechter Laune oder auch „Rumzickereien“ mit ihren Freundinnen.
Das heißt aber nicht, dass sie grundsätzlich besser sein möchte als andere Kinder. Sie kann sehr wohl andere Kinder für deren guten Leistungen loben, allerdings ist sie empfindlich, wenn ein anderes Kind ihre Arbeiten nicht schön findet. Dann zeigt sie offensichtliche Enttäuschung und zieht sich aus dieser Kommunikation zurück.

Sie ist sehr selbstständig und wir Erzieher wissen, dass man ihr stets vertrauen kann und ihr auch viel zuzutrauen ist. Sie ist sehr motiviert, wenn es darum geht, etwas Neues zu lernen, und sie ist sehr verlässlich.

Wenn man Selin Anweisungen gibt, möchte sie häufig eine Erklärung, warum etwas ist, wie es ist oder jetzt so gehandhabt wird. Allerdings akzeptiert sie auch, wenn man keine Zeit hat, es ihr zu erläutern oder in Stresssituationen vielleicht gerade nicht möchte oder auch etwas nicht weiß. Für Letzteres hat sie am meisten Verständnis.

Eigentlich fragt sie selten nach unterschiedlichen oder nicht vorhandenen Materialien. Aber die angebotenen Sachen setzt sie breit gefächert ein. Allerdings hat sie keine großen Bastelvorhaben, sondern konzentriert sich eher auf die Ausschmückung ihrer Bilder.

Sie versteht Ironie, wenn sie im richtigen Tonfall angebracht wird oder auch widersprüchliche Inhalte hat. Darauf reagiert sie dann mit lachendem Widerspruch, kann sie aber als lustig deklariert stehen lassen.

Selin erfindet Reime, hat Spaß und zeigt Interesse an Wortspielen und Gedichten. Sie hat ein gutes Erinnerungsvermögen, zum Beispiel bei neu gelernten Texten zu Fingerspielen und Liedern.

Selin kann gut zählen und kleine Additionsaufgaben lösen. Sie war sehr interessiert am Zahlenprojekt, aber ein besonders engagierter Umgang mit Zahlen ist mir nicht aufgefallen.

Selin geht in die Erzieherinnenrolle

Beim Zahlenprojekt fiel besonders auf, dass sie sehr die Erzieherin „unterstützte“, indem sie den jüngeren Kindern half, am Projekt teilzunehmen, ihnen bei Aufgaben Hilfestellung gab oder sie auch zum Mitmachen motivierte.

Sie hatte einen auffällig guten Überblick über den Verlauf der Angebote und half den Kindern, die sich nicht so gut mit Zahlen auskannten oder vielleicht Probleme mit unterschiedlichen Arbeitsaufgaben hatten.

Selin unterhält sich gerne und viel mit Erwachsenen, seien es ihre Eltem (soweit ich das einschätzen kann), aber auch besonders viel mit uns Erzieherinnen. Manchmal „mischt“ sie sich regelrecht in „Erwachsenengespräche“ ein. Sie möchte immer einen Überblick haben, was so im großen und ganzen abgeht, und ist neugierig, wenn wir Gespräche über einzelne Kinder führen.

Sie achtet immer auf die Regeleinhaltung in der Gruppe, bei sich selbst genauso wie bei anderen Kindern. Dies bedeutet aber nicht, dass sie diese Kinder bei den Erzieherinnen „verpetzt“, sondern sie spricht die Kinder selber darauf an. Sie weiß dann auch sicher, dass sie im Recht ist und verhält sich ähnlich wie eine Erzieherin.
Wenn sie mit jüngeren Kindern am Tisch Gesellschaftsspiele macht, schlüpft sie ebenfalls in die Erzieherrolle.

Sie motiviert auch jüngere Kinder zu Spielen, sei es am Tisch zusammen mit ihr oder sei es auch mit Vorschlägen in einer keinen Spielgruppe, zum Beispiel im Puppenzimmer oder auf dem Bauteppich.

Sie erscheint pädagogisch interessiert und begabt.

Selin kennt sich aus, wenn es um religiöse Unterschiede zwischen Moslems und Christen geht. Sie kann anderen Kindern die Abweichungen erklären und tut dies auch. Zum Beispiel hat sie einigen Kindern am Mittagstisch die Gründe der Beschneidung erläutert.

Das Thema kam auf, als ein paar Jungen sich darüber unterhielten, dass man, wenn’s beim Pipi-Machen schmerzt, operiert werden müsste, damit man besser urinieren kann.

Aber Selin widersprach energisch und erklärte den Jungen, dass es beim Beschneiden nicht nur um medizinische Gründe geht, sondern dass es auch glaubensbezogene Ursachen haben kann. Dass bei den Moslems halt alle Männer beschnitten sind und ihnen das Pinkeln auch vorher nicht weh tat. Leider kann ich das Gespräch nicht mehr wortgetreu aufschreiben, aber es war wirklich sehr interessant.

Sie spielt im Rollenspiel häufiger Schule, bei kleineren Kindern mimt sie die Lehrerin, mit unseren Schulkindern zusammen spielt sie eine Schülerin. Sie möchte auch sehr gerne schon in die Schule gehen, außerdem ist ihr bewusst, dass sie ein Kann-Kind ist und dass sie evtl. diesen Sommer schon gehen könnte.

Merkmale von unterforderten Kindern (nach Joelle Huser) zeigt sie nicht, zumindest nicht offensichtlich erkennbar. Sie ist meist gut gelaunt, immer hilfsbereit, oft auch schon eine kleine Hilfserzieherin. Besonders mit jüngeren Kindern organisiert sie Spiele und Spielregeln, regelt das Spielverhalten in gute Spielbahnen.

Sie kommt auch gerne in den Kindergarten. Sie macht keinen depressiven oder aggressiven Eindruck.

Kommentar der Kursleitung:
Da Selins Begabung anscheinend im sozialen und pädagogischen Bereich liegt, hat sie im Kindergarten Tag für Tag ein gutes Lernfeld mit vielen Anregungen. Sie sieht die Erzieherinnen agieren und kann von ihnen durch Beobachtung und Nachahmung lernen. Sicherlich denkt sie auch über das Handeln der Kinder und der Erzieherinnen nach.

So lässt sich erklären, dass sie nicht böse frustriert erscheint, zumal man sie offenbar immer wohlwollend gewähren ließ.

Anders könnte es sich wohl verhalten, wenn sie mathematisch, technisch oder naturwissenschaftlich besonders begabt wäre.

Aber Selin hat bestimmt noch andere Lernansprüche, die nicht untergehen sollten.

Auf Grund ihrer sicheren Sprachfähigkeiten hilft Selin zum Beispiel ihrer kleinen Schwester oder ihrer Cousine, wenn Sprachbarrieren auftreten. Ich habe sie auch schon öfters beobachtet, wie sie ihren deutschen Freundinnen türkische Ausdrücke, Lieder oder Zahlen beigebracht hat.

Häufig ist sie in ihren Spielgruppen die Anleiterin. Besonders wenn man sie unbemerkt beobachtet, kann man mitbekommen, wie sie Regeln, Spielverläufe und Spielinhalte vorschlägt und auch durchsetzt. So organisiert sie das Spielgeschehen.

Sie hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, sie ist sehr regelbewußt, hält sich selber an bestehende Regeln und achtet auch darauf, dass die anderen Kinder sie befolgen. Sie kann aber auch Ausnahmen akzeptieren, wenn sie ihr einleuchtend erklärt werden .

Selin leitet erfolgreich eine Singgruppe

Alle diese Beobachtungen brachten mich dazu, dass ich Selins pädagogisches Talent fördern wollte.
So führte ich das Lied „Bruder Jakob“ in mehreren Sprachen ein. Ich wollte darauf hinarbeiten, dass Selin eine Kleingruppe beim Erlernen der türkischen Version anleitet. Ich wollte ihr die Möglichkeit geben, ihre sprachlichen und sozialen Fähigkeiten in einem Angebot gezielt einzusetzen und ihre Merkfähigkeit und ihre guten sozialen Eigenschaften dabei zum Tragen zu bringen.

Zunächst habe ich mir die türkische Textversion organisiert. Dann musste ich sie selber halbwegs lernen. Ich wusste von ihren Eltern, dass Selin das Lied kennt, was eine Grundvoraussetzung war, da sie es anderen Kindern nur beibringen kann, wenn sie sich ihrer Sache sicher ist.
Außerdem besorgte ich mir die Liedtexte noch in anderen Sprachen, um die Angebotsreihe fortzuführen und Selin im Umgang mit anderen Sprachen zu beobachten.

Ich habe Selin auf dieses Angebot vorbereitet, indem ich ihr erklärte, was wir machen wollen. Sie freute sich und war sehr motiviert. Ich erläuterte ihr auch, dass ich (als Erzieherin) ihre Unterstützung benötigte, da ich selber ja nicht türkisch sprechen kann. Das leuchtete ihr ein.

Wir trafen uns als Kleingruppe mit fünf Kindern in einem gemütlichen Sitzkreis auf dem Fußboden unseres Kuschelzimmers. Hier machen wir gewöhnlich unsere Liedeinführungskreise, also war dies ein bekannter Ablauf für Selin.

Zu Beginn erklärte ich den Kindern, was wir vorhaben und teilte ihnen auch mit, dass wir das Lied auf Türkisch lernen würden und Selin mir dabei als Assistentin hilft. In den nächsten Tagen könnten wir dann noch mehr anderssprachige Texte zum Lied „Bruder Jakob“ lernen, passend zu den anderen zweisprachigen Kindern der Gruppe.

Erstmal sangen wir das Lied auf Deutsch, was alle Kinder konnten. Dann sollte Selin übernehmen. Zuerst erschien sie sehr schüchtern. Sie wusste nicht so recht, wie sie beginnen sollte.

Ich schlug ihr vor, erstmal das Lied vorzusingen, was sie dann auch tat. Dann fragte ich sie, wie wir weitermachen müssten, um das Lied zu lernen, worauf sie aber erstmal mit den Achseln zuckte.

Schließlich schlug ich vor, es mit Vor- und Nachsprechen zu probieren. Immer noch überraschend schüchtern, begann Selin den Text vorzusprechen, allerdings so „nuschelig“, dass man es kaum verstehen konnte. Als wir es aber trotzdem nachzusprechen versuchten, wurde sie sicherer. Sie sprach uns den Text mehrere Male laut vor und wir konnten ihn wiederholen. Anschließend sang sie ihn uns vor und wir sangen es nach.

Ihre Unsicherheit verflog und sie leitete diesen Kreis weitgehend alleine. Sie blieb mit mir im Blickkontakt, um die Bestätigung zu haben, dass alles in Ordnung geht. Zwischendurch lobte Selin ein anderes Mädchen, weil diese es so schnell schon so gut gelernt hat.

Am Ende des Treffens wies ich die Kinder darauf hin, dass wir uns am nächsten Tag wieder treffen würden, um weiter zu machen. Selin und auch andere Kinder freuten sich sehr. Sie schienen akzeptiert zu haben, dass Selin in diesem Angebot eine Sonderrolle zugekommen war.

Später am Tag konnte ich beobachten, wie Selin das Lied am Maltisch auch noch anderen vorsang und es ihnen beibringen wollte.

Bei unserem nächsten Treffen war von Selins anfänglicher Schüchternheit nichts mehr zu spüren.

Dies spricht für ihre pädagogische Begabung: Sie lernte sehr schnell.

Wir hatten noch andere Kinder zur Kleingruppe hinzugenommen. Ihnen erklärte ich ebenfalls, worum es ging und dann gab ich die Gesprächsleitung direkt an Selin ab.

Zunächst wieder etwas irritiert wirkend, versuchte sie erstmal mit den typischen Erzieheraussprüchen für Ruhe zu sorgen. Allerdings war es gar nicht laut; aber nun gut … Dann sang sie uns das Lied wieder vor und wir brachten es den nächsten Kindern ebenfalls bei.

Man konnte Selins wachsende Selbstsicherheit beobachten, allerdings war sie nicht ganz so selbstständig im Handeln, wie ich es mir erhofft hatte. Sie fragte noch häufig nach, ob sie jetzt jeweils den nächsten Schritt im Angebot machen soll. Doch ich denke, das Angebot zeigte schon ihre sozialen Führungskompetenzen im Umgang mit den anderen Kindern.

Am nächsten Tag lernten wir zusätzlich die englische Version, und Selin konnte überraschend schnell den englischen Text mitsingen. Eigentlich sah es so aus, als hätte sie das Lied schon vorher gekannt, aber sie verneinte das. In dem Fall war hier eine bemerkenswert schnelle Auffassungsgabe von neu Erlerntem erkennbar.

Ähnlich verhielt es sich dann aber auch in den nächsten Tagen, als wir die italienische Textversion lernten. Bei der Einführung war sie leider nicht anwesend, aber als wir den Kreis dann wiederholten, holte sie schnell auf.

Außerdem übernahm sie jetzt jedes Mal bereitwillig die Ansage sowie das Vorsingen und Vorsprechen der türkischen Version für die Kinder, die neu zu unserem Singkreis dazukamen.

Ich denke mir, meine Beobachtungen und die daraus abgeleiteten Angebote lassen schon eine besondere Begabung bei Selin erkennen. In diese Richtung möchte ich noch weitere Angebote mit ihr durchführen, um ihre weiteren sozialen Fähigkeiten zu beobachten und zu fördern. Außerdem sollte meiner Meinung nach ernsthaft zusammen mit den Eltem überlegt werden, ob sie nicht doch schon in diesem Jahr eingeschult werden sollte, da sie auch in den Bereichen, die in der Schule gelehrt werden, sehr gut entwickelt ist.

Nachtrag:
Die Eltern reagierten positiv auf unseren Vorschlag: Selin wurde eingeschult.

Siehe auch: Selin ist unterfordert.

Datum der Veröffentlichung: November 2012
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