Dieser Bericht wurde von Eltern geschrieben, die ich mehrmals zu Hochbegabungsfragen beraten habe.
Danke für die Zustimmung zur Veröffentlichung!
Hanna Vock

 

Mit einem hochbegabten Kind ist das so eine Sache.
In der ersten integrativen Kita gingen unsere Probleme mit unserem Sohn Jonas
(Name geändert) für uns völlig unerwartet direkt nach dem Eintritt mit 2 Jahren und 3
Monaten los.
Am Probe-Tag vor Eintritt in die Kita war unser Sohn eigentlich von allem begeistert:
von der Kita, dem Spielgelände, den Spielsachen, den Räumlichkeiten, den
Erzieherinnen und den anderen Kindern.
Auch die Eingewöhnung war noch unproblematisch. Gleiches galt für unseren Sohn
Jan (Name geändert).

Und dann begann sie auch schon, unsere besondere Geschichte.
Unser Sohn Jonas schien von Tag zu Tag seine Begeisterung zu verlieren.
Er suchte sich gezielt die für ihn interessanten Spielsachen aus und wandte sich
hauptsächlich an Erwachsene.
Die erste Besonderheit war für die Erzieherinnen, dass er am liebsten vor der
Magnettafel mit Zahlen saß.
Im ersten Elterngespräch hörten wir also: unser Sohn würde sich nur für Zahlen
interessieren, wenn das so weiter ginge, sollten wir eine Testung auf Hochbegabung
durchführen lassen.
Bei Ausflügen würde er nur Zahlen in den Bäumen sehen, er würde nicht das tun,
was man von ihm verlange. Er würde nicht mit den anderen malen.
Wir hatten uns bis dahin noch nie Gedanken über das Thema Hochbegabung
gemacht und hatten überhaupt keine Vorstellung, was das für so kleine Kinder und
die Institutionen bedeuten würde.
Wir sprachen also mit dem Kinderarzt, der nur abwimmelte: „Sie wollen doch jetzt
nicht etwa Termine im Förderzentrum?!“
Wir ließen also unseren Sohn weiter von Zahlen träumen und unterstützten zuhause
seine Wünsche nach bestimmten Spielen und stundenlangem Vorlesen.

Deutlich wurde, dass er nicht mehr gerne in die Kita ging.
Er sträubte sich, weinte und weigerte sich, in das Auto einzusteigen.
In der Kita spitzte sich die Lage zu:
Nach dem Spielen würde er nicht so aufräumen, wie es gewünscht war.
Man müsste nun seinen Willen brechen!
Das wollten wir auf keinen Fall!
Uns tat Jonas leid, wie er alleine im Flur weinen musste und nicht in den Garten
spielen gehen durfte und auch vom Ausflug ausgeschlossen wurde. Mit 3 Jahren
konnte er doch noch gar nicht die Tragweite seiner Entscheidung einschätzen.
An was er wohl in diesen Momenten dachte? Ich konnte ihm nicht helfen.

Die ihm mitgegebenen Ausdrucke mit Labyrinthen und Malen nach Zahlen, die er so
gerne löste (wir nannten sie liebevoll seine „Arbeitsmappe“), verschwanden, und er
wurde aufgefordert, ein gelöstes Labyrinth erst flächig auszumalen, bevor er ein
neues bekam.
Das machte er natürlich nicht.
Eines musste man diesem kleinen Mann lassen – egal mit welchem Druck etwas von
ihm verlangt wurde, er machte es überhaupt nicht, wenn er es nicht wollte.
Es kam, wie es kommen musste – er äußerte immer wieder mir gegenüber einen
Satz, der uns noch lange begleiten sollte: „Ich will bei dir bleiben!“

Wir wunderten uns zunächst, weil er gar nicht der Typ war, der immer an Mamas
Rockzipfel hängt. Aber Mama war natürlich, wenn Papa morgens zur Arbeit fuhr,
seine einzige Ansprechpartnerin.
Und wir hatten viel Spaß, weil das, was die Kinder wollten, auch Mama Spaß
machte. Wir konnten stundenlang zusammen „forschen“, entdecken und mit Farbe
werkeln.

Aber hatte Jonas in der Kita wirklich keinen Spaß?
Das wussten wir nicht so genau. Gab es wirklich nichts Interessantes? Oder
interpretierten wir etwas in die Situation hinein, was es gar nicht gab?
Fest stand, unser Sohn wurde zum Rebell.
Er wollte nicht mehr in die Kita gehen, es gab schon morgens viel Geschrei, Tränen,
Verzweiflung.
Später beim Abholen wurde uns aber mitgeteilt, Jonas habe sich schnell wieder
beruhigt und einen schönen Tag verbracht. Es seien nur typische Trennungs-
Situationen und -Reaktionen.
Solche hätte man verschmerzen können.
Wir hatten aber das Gefühl, dass mehr dahinter steckt.

Egal was es sein sollte, wir wollten ihn gern besser verstehen können.
Nur konnten wir das Problem noch nicht richtig erkennen, benennen oder einordnen.
Und so viel redet ein Kleinkind auch noch nicht, um einen Rundumblick zu erhalten.
Klar war nur: bei uns durfte er so viele Labyrinthe lösen, wie er wollte.
Wir schafften es sogar, täglich vor dem Start in die Kita 3 Seiten Schul-Mini-Lük zu lösen.
Damit schien sein Tagesbedarf erst einmal gedeckt zu sein.
Ja, das überraschte uns natürlich, dass er das schon so gut konnte. Und mit
welchem Ehrgeiz er sich daran begab. Andererseits waren es unsere ersten Kinder,
Zwillinge. Musste das nicht alles genau so sein?

Und unter seinen ersten Worten war auch „Zahlentreppe“. Die Autos fuhren eben
nicht auf der Straße, sondern über die Zahlentreppe. Und er ließ sich am liebsten
stundenlang vorlesen. Fast bei jedem Einkauf gab es neue Kinderbücher.
Mittags geschlafen hatte er früher nicht im Baby-Bettchen, sondern im Buggy direkt
in der Nähe des Bücherregals mit klassischer Musik. Dann sah es so aus, als ob er
die Bücher „scannen“ würde. Wenn ihm dann das fünfte Buch herunter gefallen war,
wusste ich, dass er eingeschlafen war.

Was uns zum Thema Kita klar war: Das Gruppengefühl in der Kita und die sozialen
Muster konnten wir ihm zuhause nicht vermitteln, so dass wir uns wünschten, dass er
die Kita besucht.
Wir kannten uns ja auch nicht mit der besonderen Situation aus. Wir versuchten alles
nach Bauchgefühl richtig zu machen, hatten aber noch keine Ahnung, was noch
kommen würde.
Als er dann tatsächlich hochbegabt getestet wurde, nachdem der Psychologe in der
Kinderarztpraxis dem Test wegen angeblich auftretender Aggressionen in der Kita
zugestimmt hatte, wurde alles noch schlimmer.
Die integrative Kita konnte ihn auf einmal nicht mehr fördern, und wir waren alle fehl
am Platz.
Unseren körperlich behinderten Sohn Jan konnte man fördern, aber Jonas eben
nicht. Dafür habe man kein Personal und keine Möglichkeiten.
Das Ergebnis-Blatt des Tests kam uns vor wie eine Berechtigung zur Abschiebung.
Wir bedauerten es in diesem Moment, den Test überhaupt durchgeführt zu haben.
Für uns war der Test nicht wichtig.

Zum ersten Mal erlebten wir, dass man „solche“ Kinder nicht gerne sieht, geschweige
denn in der Kita betreut. Sie entsprechen nicht dem Durchschnitt und sind anscheinend
für viele Menschen unangenehm.
Das Wort „Hochbegabung“ sollte man vermeiden, denn sonst wird man gemieden.

(Siehe auch: Den Begriff Hochbegabung vorsichtig verwenden. -H.V.)

Jonas´ Ausbrüche mit Schreien, Weinen und Rotwerden aufgrund seiner
Unzufriedenheit wurden so heftig, dass wir uns gezwungen sahen, den Kita-Platz zu
kündigen.
Es dauerte etwa 2 Wochen bis wir unser „normales“ Kind wieder zurück hatten.
So lange dauerte es, bis er sein Gleichgewicht wiederfand und seine Wut, seine Verzweiflung und Ratlosigkeit wieder gegen Freude austauschen konnte.
Wir fuhren jeden Tag mit den Rädern und mit Rucksack ins Grüne und spielten, bis
keiner mehr Lust hatte.

Mein Mann und ich überlegten und diskutierten viele Stunden, wie es weiter gehen
sollte.
Zuhause klappte alles prima. Unser Rhythmus aus Aufstehen, Essen, Spielen,
Rausgehen, Einkaufen, Kochen, Essen, Spielen, Baden, ins Bett gehen klappte
prima. Die Kinder waren glücklich, und Mama war es auch.
Unsere Sorge war jedoch, dass Jonas und sein Zwillingsbruder Jan nicht
ausreichend auf die Schule vorbereitet wären.
Wir versuchten also, auf zwei Wegen weiter zu kommen.

Auf der einen Seite stritten wir uns mit der Stadt um neue Kita-Plätze, die uns laut
Stadt nicht zustünden, weil wir gekündigt hätten. Wir hatten jedoch durch den Eintritt
in die private Kita unseren Anspruch gegen die Stadt noch gar nicht geltend gemacht
und hatten neben den Problemen unseres Sohnes noch weitere nachvollziehbare
Kündigungsgründe.
Nach vielen Telefonaten bis zum Kommunalverband bekamen wir zwei
„unzumutbare“ Kita-Plätze in einem so entfernten Stadtteil, dass ich für das nächste
halbe Jahr jeden Tag insgesamt 2 Stunden fuhr, um den Kinder das Gruppengefühl
zuteil werden zu lassen.

Der zweite Weg war, in der nahe gelegenen Grundschule nach Probetagen im Alter
von 4 Jahren zu fragen, um eine frühere Einschulung möglich zu machen.
Wie erwartet – man „freute“ sich auf uns! Ja, er könne zu Probetagen können, aber
nehmen würde man ihn auf keinen Fall.
Danke! Wir wussten, dass diese Schule auch später nicht in unsere nähere Auswahl
kommen würde.

Wir fuhren also in die neue Kita. Jonas sagte sie mehr zu, seinem Zwillingsbruder
Jan weniger.
Aber auch hier völliges Unverständnis bezüglich unserer Probleme und Wünsche.
Und man kannte unser Kind besser als wir selbst. Denn er konnte ja noch gar nicht
seinen Namen schreiben, also könne er nicht hochbegabt sein. Und es gäbe
Dreijährige, die sich schneller und besser anziehen könnten als er. Jonas war sehr
geräuschempfindlich und brauchte gelegentlich eine Auszeit von der Gruppe, die ihn
zu erdrücken schien. Ja, es gab ein Vorschulprogramm, aber nur für die Älteren, zu
denen Jonas noch nicht gehörte.

Jonas wurde zudem direkt die Chance genommen, sich in die Gruppe zu integrieren
oder Freunde zu finden. Die eine Erzieherin der Gruppe erlaubte es ihm, sein Spielzeug
oder Buch nach Wahl in der Eingewöhnungszeit täglich mitzubringen, die andere
leider nicht. Sie ließ es zu, dass die anderen Kinder aus der Gruppe Jonas deswegen
maßregelten, was dieser natürlich nicht verstehen konnte. Es war doch von einem
Erwachsenen erlaubt worden?! Und Mama hatte es auch nicht verhindert?! Und jetzt
warfen ihm die anderen Kinder aus der Gruppe vor, dass er noch nicht in der Lage
war, sein Spielzeug nur am Spielzeugtag mitzubringen. Er sei ja noch ein Baby!

Keine glückliche Einführung für Jonas. Und auf jeden Fall keine Freunde in Sicht.
Jonas fühlte sich fehl am Platz. Wenn er durfte, traf er sich mit seinem Bruder Jan
aus der anderen Gruppe zum Spielen. Mein Gruppengedanke löste sich auf.
Dann verließ auch noch seine Lieblingsbetreuerin die Gruppe, so dass wir wieder
schnell beim „Ich will bei dir bleiben“ ankamen.
Unser Sohn wollte nicht dort bleiben, sondern versuchte, mir beim Abgeben hinterher
zu laufen.

Nach etwa 6 Monaten, in denen er immerhin gelernt hatte, mit neuen Kindern klar zu
kommen, still an seinem Platz zu essen und seinen Platz aufzuräumen, war es
wieder so weit.
Von der Leitung bekam ich zu hören: „Wenn ich nicht innerhalb der nächsten Woche
die Akzeptanz meines Sohnes für die Kita steigern würde, wäre er nicht mehr für
diese tragbar.“
Gesagt, getan: die Kündigung folgte und es folgte auch unsere Einsicht, dass wir keinen weiteren Kita-Platz wollten und auch keine vorgezogene Einschulung.
Uns war klar, dass wir die Betreuung bis zur Einschulung alleine übernehmen
mussten und wollten.

Es folgten wieder ganz entspannte Monate, in denen wir ganz unkompliziert und
selbstbestimmt unseren Tag planen konnten.
Wir waren sehr viel draußen mit Rucksack, Spielsachen und Verpflegung. Wir
sammelten Steine und Stöcke für unsere private Sammlung, wir lernten Skateboard
fahren, wir züchteten Kristalle und stellten Flummis her.
Die Kinder spielten sich nach Lust und Laune durch die Apps auf ihrem Tablet und
begannen, im Internet zu recherchieren.

(Wie krass müssen erst die Erfahrungen von Familien sein, in denen beide Eltern voll berufstätig sein müssen und die deshalb auf die Kita-Betreuung zwingend angewiesen sind! – H.V.)  

Jonas kam trotzdem in seine erste schlimme Krise.
Er fühlte sich unglücklich als Kind und wünschte sich, direkt erwachsen zu sein.
Als Kind könne man noch nicht alles, was man wolle, als Erwachsener schon. Er
empfand diese Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit und Kindlichkeit als sehr
belastend. Er hätte gerne schon mehr vollbracht, wenn er es denn gekonnt hätte. Oft
schienen seine Gedanken grenzenlos weit zu gehen, ohne dass er in der Lage war,
sie auszusprechen oder seine Ideen handwerklich umzusetzen.

Wir sprachen dann darüber, dass man als Kind noch viel lernen muss, aber eben
auch darf. Man kann viele Fehler machen, weil man aus diesen besonders gut lernt.
Und als Erwachsener trägt man viel mehr Verantwortung. Als Kind kann man sich
austoben, alles ausprobieren, darf scheitern ohne größere Konsequenzen und darf
ohne Druck neue Ideen angehen.
Wir versuchten Jonas klar zu machen, dass er die Kindheit und Jugend genießen
könne und solle.
Jonas Gedankenkarussell war aber noch nicht beendet. So begann er zu fragen: Wo
komme ich her, wo gehe ich hin?
„Mama, wenn du stirbst, wer passt dann auf mich auf? Und wo geht dein Wissen
hin? War dann alles umsonst?“

Wir sprachen also viel über Religion, Philosophie, den Lauf der Dinge, Erfahrungen,
Seele, Umgang mit dem Sterben und den Sinn des Lebens.
Wir einigten uns darauf, dass der Tod mit zum Leben gehört, und wir alle sterben
müssen, wenn das Leben zu Ende geht.
Bis dahin würden wir Jonas und Jan alles beibringen, was wir wissen, damit sie
alleine im Leben klar kommen. Denn zum Sinn des Lebens gehört für uns auf jeden
Fall die Weitergabe unseres Wissens und unserer Erfahrungen. Und Jonas bestand darauf, dass wir uns nach dem Tod wieder treffen, wenn wir beide gestorben sind und die Seele das Wissen mitgenommen hat. Dann würden wir beide wieder – mit unserem Wissen – auf die Welt kommen.
Dieses Thema beschäftigte uns immer wieder, war für Jonas aber mit der Aussicht
auf ein neues Leben erträglicher.

Immer öfter gab Jonas vor, schon alles zu wissen: „Ich weiß schon alles“!
Das machte ihn zum einen stolz, zum anderen war er damit unzufrieden.
Seine Befürchtung war, dass es zum Lernen keine weiteren Themen und nichts mehr
über dem intellektuellen Status der Kitas gab, die seinen täglichen Wissensdrang ja
nicht befriedigen konnten. Das war für ihn ganz schlimm. Sollte das alles gewesen
sein?!
Aber auch durch diese Krise kamen wir gut durch.
Wir besprachen, dass niemand alles wissen kann. Und dass man sein Leben lang
lernt. In jungen Jahren sammelt man ein breites Wissen und im weiteren Verlauf
spezialisiert man es.

Und wir hatten eine weitere Idee. Wir wollten den Wunsch von Jonas, eine
Mathematik-Vorlesung zu besuchen, umsetzen.
Nach einigen Telefonaten durften wir eine Vorlesung über Mathematik für Physiker
und Chemiker an der Universität als Gasthörer besuchen.
Um ihm den Druck zu nehmen und eventuelle Enttäuschungen zu ersparen, sprach
mein Mann am Abend vorher mit Jonas, wünschte ihm viel Spaß und sagte, dass es
nicht schlimm wäre, sollte er bei der Vorlesung nicht alles verstehen. Es wäre sogar
sehr wahrscheinlich, dass ihm vieles fremd wäre. Jonas würde ja in den nächsten
Jahren erst einmal die Grundlagen für diesen Uni-Stoff lernen. Das hätten die
Studenten auch vorher getan. Für viele Herleitungen und Entwicklungen müsste man
erst die Grundlage lernen und verstehen.
Jonas schaute ihn ungläubig an.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit Jonas zur Uni. Wir setzten uns in die hinterste
Reihe und ließen erst einmal den großen Hörsaal auf uns wirken. Jonas sah zu, wie
immer mehr junge Leute eintraten.
Der Dozent kam die Stufen im Hörsaal herauf und begrüßte Jonas persönlich und
wünschte ihm viel Spaß. Auch er sagte mir, dass er damit rechne, dass Jonas die
Vorlesung früher abbrechen würde. Das wäre nicht schlimm. Wir könnten die
Vorlesung jederzeit verlassen. Und gerne wiederkommen, wann immer wir wollten!
Jonas hörte etwa 20 Minuten zu, bevor es ihm zu anstrengend wurde, und wir den
Hörsaal verließen.
Und? Ich hatte ein tief beeindrucktes, zufriedenes Kind neben mir!!!

Ein Hörsaal voll mit schlauen Leuten, die über tolle Sachen sprechen, die man noch
nicht verstehen konnte. Toll! …Dann war ja in der Kita gar nicht die Grenze des
Wissens erreicht? Und man selbst wusste doch noch nicht alles?!
Der Tag veränderte im positiven Sinn alles für uns und brachte uns in eine ganz
neue Position:
Unser Sohn sprach nie wieder davon, schon alles zu wissen und der Beste zu sein.
Er hatte auch keine Panik, ohne neue Anreize „versauern“ zu müssen.
Nein, er war zum ersten Mal mit sich und seiner Situation zufrieden.
Ja, er würde gerne noch einmal diese Vorlesung besuchen. Aber nicht so bald.
Und ja, er verstand, dass es bis zu diesem Tag noch viele Entwicklungsschritte gibt
und geben muss. Und dass er keine Eile hat. Und dass er trotzdem nichts verpasst.

Er durfte „einfach“ nur Kind sein und spielen, was ihm so schwer gefallen war.
Er konnte sich zurücklehnen, auf dem Tablet spielen, was er mochte und über das
Leben nachdenken.
Und wenn er Lust auf mehr hatte, suchten wir danach.
Er konnte mich alles fragen und ich gab ihm immer eine Antwort. Die Antwort musste
nicht immer sehr ausführlich sein, wichtig für Jonas aber war, dass es überhaupt eine
Antwort gibt.

Dem Tag der Einschulung konnte Jonas also gelassen entgegen blicken.
Für mich stellte sich dieser heranrückende große Tag zweiseitig dar. Zum einen
freute ich mich, dass es jetzt spannende, schwierigere Dinge für Jonas gab. Zum
anderen fragte ich mich, ob er mit der Situation und den Geräuschen im
Klassenzimmer und in der Pause dieses Mal klar kommen würde.
Jonas wollte vorher noch lesen lernen, was wir mit selbst geschriebenen Lesekarten
begannen. Verschiedene Silben und wiederkehrende Wörter konnte er so erkennen.
Nach den Erfahrungen in den Kitas und Jonas Besonderheiten wussten wir ja jetzt
bei der Auswahl der Schule, was uns wichtig erschien.

Wir hatten eine Grundschule ausgesucht, die laut eigenen Angaben Erfahrungen mit
Kindern wie Jonas gemacht hatte. Das wäre alles kein Problem.
Wir ließen auf Wunsch des Direktors einen weiteren IQ-Test durchführen, der das
erste Ergebnis bestätigte. Bei seinem Bruder Jan wurde eine überdurchschnittliche
Intelligenz, aber keine Hochbegabung festgestellt.

Als der Direktor diesen Test als nicht praxistauglich einstufte, weil ihn unser Nachbar
(Sonderpädagoge und auf diesem Gebiet spezialisiert) durchführte, hätte man sich
schon seinen Teil denken sollen.
Meine Vorstellung, alle durch noch einen weiteren Test zufrieden zu stellen,
scheiterte gewaltig. Die Psychologin, die den weiteren Test durchführen sollte,
versuchte im Anfangsgespräch sowohl Jonas als auch mich gleichzeitig zu
analysieren, was sich als schwierig herausstellte. Mir wurden mehrmals dieselben
Fragen gestellt, während die Assistentin besser organisiert zu sein schien.

Merkwürdigerweise rückte mehr die Frage in den Vordergrund, ob ich hochbegabt
sei, was wir ja nicht klären wollten. Jonas verweigerte sich stellenweise bei der
Testung, was ihm die Einstufung als Asperger-Autist einbrachte. Er könne ohne
einen Schulbegleiter keine Pause und schon gar nicht die erste Schulwoche
überstehen, hieß es.
Unser Nachbar gab mir schmunzelnd selbst die Schuld und stellte die Frage, warum
ich überhaupt eine weitere Testung angestrebt hatte. Er beruhigte mich hinsichtlich
des Ergebnisses und empfahl uns, erst einmal normal und entspannt zu starten.
Dafür war ich ihm unendlich dankbar, war aber dennoch mehrere Wochen
aufgewühlt. Und ich war sauer auf die Psychologin, diese Diagnose einfach so in den
Raum zu stellen.

Wir reichten also nur die Tests mit Ergebnissen des Sonderpädagogen ein.
Bei dem Einschulungsgespräch wurde Jan gar nicht beachtet, während Jonas
verschiedene Aufgaben erfüllen sollte.
Auf die Frage, was er lernen wolle, antwortete Jonas: „Mathe und Sport.“
Auf unseren Wunsch wurden die Kinder in zwei verschiedene Klassen eingeschult.
Die Einschulung war spannend, das Klassenmaskottchen wurde das neue
Lieblingstier, und Jonas saß neben seinem Freund.
Wäre da nicht der Schulstoff der ersten Klasse gekommen, wäre alles gut gewesen.

Ab der zweiten Woche langweilte Jonas sich, was er auch immer öfter äußerte.
Und natürlich – er wollte wieder bei mir bleiben!
Er fing an zu diskutieren, warum er überhaupt in die Schule müsse. Bei mir könne er
doch auch alles lernen und ich könne ihm das viel besser und schneller erklären. In
der Schule würde er immer so viel Zeit für seine Projekte verlieren!
Wir sprachen also über Erziehung, staatliche Schule, Schulpflicht, eigene Pflichten
und Erwartungen der anderen an ihn.
Zu der Zeit war Springen in eine höhere Klasse noch kein Thema. Für die Lehrerin
nicht, weil sie keine Notwendigkeit sah, und für Jonas nicht, weil er in seiner Klasse
und bei seinem Freund bleiben wollte.

Wir fragten nach der individuellen Förderung für Jonas. Es wurde uns
vorgeschlagen, dass er zusätzliche „Forder-Blätter“ löst. Leider war der Inhalt nur wiederholend, nicht tatsächlich schwieriger oder abgewandelt.

Während Jonas sich langweilte, hatte sein Bruder Jan in seiner Klasse mit Anfeindungen von drei Mitschülern gleichzeitig zu kämpfen, wobei er allein gelassen wurde. Das ging so weit, dass wir nicht mehr überzeugt waren, auf der richtigen Schule zu sein.
Nach drei Wochen versuchten wir also, die Schule zu wechseln. Die nächst gelegene
alternative Grundschule lehnte uns aber nach einem Telefonat mit dem Direktor unser derzeitigen Schule ab.
Und dieser meinte, dass er uns auch nicht „frei geben würde“.
Es gab ein Treffen mit dem Direktor und der Klassenlehrerin von Jan, in dem
Vereinbarungen und Rückmeldungen über den Status schriftlich festgehalten
wurden.
Für Jonas bedeutete das, weiterzumachen wie bisher.

Jonas arbeitete wochenlang auf das versprochene „Knobelheft“ hin, das ihm von
seiner Klassenlehrerin für seine Fortschritte versprochen wurde. Leider schien das
Heft tatsächlich unerreichbar zu sein, denn immer wieder wurde er vertröstet. Und
als ich danach fragte, hieß es, dass es nun wohl schon zu einfach sein würde. Es
wäre eigentlich nur ein Ausmalheft mit leichten Schwungübungen. Jonas bekam
irgendwann das „Knobelheft“, das er an einem Nachmittag fertig stellte. Und sich
fragte, warum man es als Besonderheit angepriesen hatte. Er war enttäuscht. Er
hatte sich einfach mehr erhofft.

Dann kam der Elternsprechtag. Beim nochmaligen Nachfragen nach einer Förderung
für Jonas wurden uns „Expertenvorträge“ empfohlen, bei denen Jonas zu einem
Thema recherchieren und der Klasse sein Ergebnis in einem Vortrag präsentieren
würde.
Interessant war, dass die Klassenlehrerin nichts von der Hochbegabung von Jonas
wusste. Niemand hatte sie darüber informiert. Und sie kam direkt von der Ausbildung
in ihre erste Klasse. Nicht die besten Voraussetzungen für Jonas, der sich so viel von
der ersten Klasse erhofft hatte.
Jonas hielt zwei „Expertenvorträge“, was ihm sehr viel Freude bereitete. Er
recherchierte im Internet und erzählte mir, was ihm wichtig sei. Beim Anfertigen von
vortragsbegleitenden Plakaten half ich Jonas, weil er ja noch nicht alle Wörter
schreiben konnte und es ihm schwer fiel, so ein großes Plakat zu gestalten. Seine
Präsentationen im Unterricht machte ihm viel Spaß.

Danach jedoch wurde diese einzige Förderung als „Extra-Wurst“ wieder eingestellt,
weil sich andere Mütter beschwert hatten, dass nicht ihre Töchter im gleichen
Moment diese Vorträge halten konnten. Das daraufhin erfolgte Angebot, auch einen
Vortrag halten zu können, wurde jedoch nie angenommen.

Und wir waren wieder am Ende der Möglichkeiten angekommen, denn so blieb es.
Weitere Förderungsmöglichkeiten gäbe es nicht.
Die folgende Corona-Zeit jedoch kam unserem Sohn entgegen, weil er nicht mehr
den Unterricht besuchen musste. Und mir auch, weil ich nicht permanent Überredungsarbeit hierzu leisten musste.
Und ich konnte erkennen, wie unterschiedlich unsere Kinder lernen.
Als beide „Alle meine Entchen“ auf dem Xylophon spielen wollten, entdeckte ich,
dass Jonas im Nu das Stück bei vorgegebener Ziffernfolge lernte: 1 – 2 – 3 – 4 – 5,5
– 6, 6 , 6, 6 – 5…, während Jan nach Gehör spielte und sich das Lied vorsingen ließ.

Jonas musste animiert werden, überhaupt alle Aufgaben zu lösen, wobei sich eine
bestimmte von mir vorgegebene tägliche Arbeits-Reihenfolge als beste Lösung
ergab. Jan erzielte dagegen die besten Bearbeitungsmöglichkeiten, während er auf
meinem Schoß saß und animiert wurde, sich auf die aktuelle Aufgabe zu
konzentrieren. Denn Jan ist ein „Wolkengucker“. Er kann sich selber in die
Wolkenwelt katapultieren, so dass er nichts mehr von der Welt um sich herum
mitbekommt.
Homeschooling war eine prima Sache für uns.
Wir konnten uns die Zeit wieder frei einteilen und Aufgaben so schnell lösen, wie wir
wollten. Und das war eben schneller, wie immer.
Aber es fiel Jonas auch gleichzeitig immer schwerer, die Aufgaben aus dem
Wochenplan überhaupt zu bearbeiten. Es entwickelte sich immer mehr eine
Abneigung. Jonas seufzte nur, wenn man von den Aufgaben sprach und versuchte,
sich zu verdrücken.
Anfangs löste er bei den Zoom-Konferenzen immer alles schnell, noch während die
Aufgaben erklärt wurden. Danach wollte er gar nichts mehr lösen. Er wollte auch gar nichts mehr hören, sehen, lesen, überlegen oder schreiben.

Er guckte mich verzweifelt an, als ich ihm das übersandte Arbeitsblatt vorlegte. Ob
das mein Ernst sei, er habe doch schon genau solche Aufgaben gelöst. Wie oft er
das denn noch tun solle. Er könnte das nicht mehr. Wenn ich ihm noch ein solches
Blatt vorlegen würde, würde er anfangen zu weinen!
Wir sprachen also über seine Gefühle, seine Verzweiflung, Hausaufgaben, eigene
Verpflichtungen, Erwartungen von der Schule an ihn und mich und unsere Freiheit in
der Freizeit.
Jonas konnte all meine Argumente verstehen, konnte sie aber nicht akzeptieren.

Wir einigten uns darauf, dass er seine Lehrerin beim nächsten Zoomen darauf
ansprechen würde und ihr gegenüber seinen Unmut äußern würde. Ich machte ihm
klar, dass es nicht ausreichte, mir alles mitzuteilen. Denn ich würde ihn verstehen
und könnte alles sehr gut nachvollziehen. Aber er müsste auch nicht mich
überzeugen, sondern seine Klassenlehrerin.
Jonas guckte mich dann an, als wenn er nicht verstehen würde, warum ich das nicht
für ihn mit der Lehrerin klären könne. Aber er verstand.

Und dann kam er, der große Tag.
Er wusste, dass in Sachkunde das Thema „Wasser“ behandelt wurde.
Er bat mich, ein Periodensystem der Elemente auszudrucken und ein Teilchenmodell
von H2O. Und ich sollte hören, was er zu sagen hat. Er würde mich dann rufen.
Gesagt, getan.
Man hörte die anderen Kinder in der Zoom-Konferenz Wasser beschreiben: nass,
durchsichtig…
Dann kam seine Meldung: „Wasser ist H2O, wie ihr sicherlich wisst.“ Und er zeigte
den Ausdruck mit dem Modell. „Und ihr habt euch alle bestimmt auch schon immer
gefragt, warum es H2O und nicht OH2 heißt.“ Und er zeigte das Periodensystem der
Elemente in die Kamera. „Wie ihr sehen könnt, ist H links im Periodensystem und O
rechts. Von links nach rechts nimmt die Elektro-Negativität zu. Deshalb wird erst H
und dann O genannt. Und zwei Wasserstoffatome und ein Sauerstoffatom ziehen
sich an.“ Und er lächelte zufrieden.

Und bei der nächsten Mathe-Aufgabe in dieser Konferenz bat er seine Lehrerin
darum, ihm schwierigere Aufgaben zu geben. Diese seien für ihn zu einfach; er
könne es nicht mehr ertragen. Und H2O änderte alles!

Beim nächsten telefonischen Elternsprechtag räumte die Lehrerin ein, dass es so
nicht weitergehen könne. Sie wolle nicht, dass er weinen muss, wenn er ihre
Aufgabenblätter bekommt. Und sie sagte zu, sich zu informieren, was zu tun wäre,
wenn er in eine höhere Klasse springen sollte.

Ein paar Hinweise, zum Beispiel dass die Lösung wohl im Gesetz stehen würde, konnte ich ihr geben, wollte aber auf keinen Fall zu viel Druck ausüben, um nicht wieder alles
zunichte zu machen. Mein anwesender Nachbar hielt mir während des Gesprächs
Text-Tafeln wie für einen Nachrichtensprecher hoch, um das Gespräch in die richtige
Richtung zu lenken. Denn er konnte nicht verstehen, wieso wir in den bisherigen
Gesprächen nicht zum Ziel kamen.
Es wurde also das Prozedere geprüft und eine Klasse für Jonas gesucht.
Probeweise durfte er dann an den Zoom-Konferenzen der zweiten Klasse teilnehmen
und den Wochenplan der zweiten Klasse bearbeiten. Das war zunächst ungewohnt,
klappte aber auf Anhieb prima.

Die neue Klasse hatte schon seit mehreren Monaten ein Haustier-Plakat-Projekt, bei
dem auf mehreren bunten Blätter ein paar Zeilen jeweils zu einem Thema, wie zum Beispiel „Pflege“ geschrieben und Bilder geklebt werden sollten. Jonas fand das toll. Mit
großem Eifer recherchierte er fast täglich im Internet und bereitete die Teile für sein
Plakat vor.

Und dann kam er, der zweite große Tag!
Wir wurden über die neue Klasse und die neue Klassenlehrerin informiert, die Jonas zum Wiederbeginn des Präsenzunterrichts (nach der Unterbrechung durch die Corona-Pandemie) aufnehmen würde.
Schnell bestellten wir über das Wochenende alle neuen Hefte.
Nun ging unser Erstklässler in die zweite Klasse!
Nachdem ich mir per Email hatte schildern lassen, wie unser Sohn den Weg durch
das Gebäude in die neue Klasse finden konnte, lehnte ich das Angebot ab, dass ihn
die alte Klassenlehrerin in die neue Klasse begleiten würde. Nein, das war sein
großer Tag, auf den er so lange warten musste!
Da er alles allein regeln wollte, schenkte ich ihm auch dieses Vertrauen und wollte
ihm nichts nehmen.

Vom Bürgersteig aus konnte ich sehen, wie er sich von Jan verabschiedete und in
das Gebäude ging. Innerlich drückte ich ihm die Daumen und war ganz schön
aufgeregt.
Wie ich später erfuhr, fand Jonas den Weg, fragte seine Lehrerin: „ Bist du Frau
Müller (Name geändert)? Dann komme ich in deine Klasse!“ und genoss die neue
Umgebung. Während ihn die neue Klassenlehrerin noch vorstellte, sprudelte es
schon aus ihm heraus: „Die Neuner-Reihe an der Tafel – die kenne ich!“ Aber auf
dem Pausenhof wollte er noch nicht mit den „neuen“ Kindern spielen. Er gab an, sich
vor lauter Aufregung erst einmal sammeln zu müssen.

Die Lehrerin war darüber im ersten kurzen Telefonat mit mir sehr überrascht.
Und natürlich auch etwas enttäuscht, weil Jonas ihre Einführung unterbrochen hatte.
Ich kündigte seine Vorstellung an, die er geplant hatte – wir hatten darüber
gesprochen, was man dabei sinnvollerweise sagen kann.
Und ich hatte Jonas erklärt, dass die anderen ihn erst genauer kennenlernen
müssten und enttäuscht wären, wenn er nicht genauer über sich erzählen würde.

Diese „emotionale Reife“ wäre auch eine Bedingung, um in der höheren Klasse
angenommen zu werden. Das sei etwas, was die Lehrerinnen und der Direktor ihm
eigentlich noch nicht zutrauen würden. Aber wir wussten, dass er es konnte!
Der Klassenlehrerin gegenüber erwähnte ich, dass ich ja jetzt nicht mehr überprüfen
könne, was Jonas im Unterricht bearbeiten würde und eventuell zuhause fertig
stellen sollte – weil es nur noch den Hausaufgaben-Wochenplan gab, nicht mehr den
ganzen Wochenplan wie beim Homeschooling. Sie fragte natürlich, ob ich den Plan
ausgedruckt haben wollte.
Wollte ich? Eigentlich ja und lieber nein…

Und wieder schenkte ich meinem Sohn das größte Vertrauen, das er sich ja durch
seine angekündigte und bewiesene Selbstständigkeit auch verdient hatte.
Ich sagte nur, dass ich ja von ihr hören würde, wenn er etwas vergessen hätte, oder
etwas nicht richtig liefe. Eine Kontrolle bräuchte ich also nicht.
Das gefiel anscheinend auch der Lehrerin gut.

Am zweiten Tag stellte Jonas sich dann auch nach verflogener Aufregung vor und
erwähnte natürlich auch, dass er Minecraft „zockt“. Wer das auch spielen würde,
könne sich bei ihm melden. Er würde sich über neue Freunde freuen.
Die Klasse nahm ihn mit offenen Armen auf. In der Pause wollten alle mit ihm
spielen.
Das war toll, stellte ihn aber wieder vor ein neues Problem. Mit wem sollte er nun
spielen? Wie sollte er das entscheiden?
Wir besprachen anschließend auch das. Ich schlug ihm vor, mit dem ersten zu
spielen, der ihn fragt. Wenn das nicht passen sollte, könnte er am nächsten Tag mit
dem nächsten spielen. Und so weiter. Irgendwann wüsste er, wer besonders gut zu
ihm passt.

Dass Jonas sehr unter Druck stand, konnte ich wieder abends hören, als er mir ganz
aufgelöst die Frage stellte, was er tun sollte, wenn er eine falsche Entscheidung
treffen würde – dann sei sein ganzes Leben ruiniert!
Meine Antwort war, dass Jonas ja noch keine Manager-Entscheidung zu treffen
habe. Seine Entscheidungen hätten also noch nicht die Tragweite, vor der er sich
fürchten würde. Und die schwierigen, großen Entscheidungen würden ihm ohnehin
noch Mama und Papa abnehmen. Er könne also ruhig Fehler machen, die man dann
leicht korrigieren könne…
Jonas war beruhigt.

Und fachlich kam Jonas bestens klar.
Die Lehrerin meinte, er sei sehr wissbegierig und würde alles aufsaugen.
Ob ich die „9-er Reihe“ mit ihm gelernt hätte?
Nein! Aber vor ca. 1,5 Jahren hatte er sich einen Ausdruck vom kleinen Ein-mal-Eins
gewünscht, das er inzwischen also gelernt zu haben schien. Direkt am zweiten Tag
schrieb er einen Übungstest in Mathe. Nach Rückgabe des Tests musste ich
schmunzeln: nein, man verändert nicht die Ursprungsaufgabe, wenn sie einem zu
leicht vorkommt. Und bei einer Textaufgabe wird zuerst eine Frage gestellt. Dann
folgt eine Rechnung und zuletzt eine Antwort.
Dies hatte er gerade zuvor in der zweiten Klasse verpasst.
Jonas hörte sich alles an.
Auf die Frage, ob ich mit ihm für die richtige Arbeit üben solle, meinte er nur: „Nein,
Mama. Das kann ich schon. Du brauchst dir keine Sorgen machen!“
Die Arbeit schloss er dann mit voller Punktzahl ab.

Auch das Wendediktat in Deutsch war mit 1,5 Fehlern noch „sehr gut“ gelöst.
Was Jonas fehlte, war die Anleitung, wie man eine ganze Seite aus dem Mathebuch
löst und die Lösungen sauber in das Heft schreibt, also die saubere Darstellung:
Seitenzahl und Aufgabennummer aufschreiben, jede Ziffer in ein Kästchen
schreiben, Leerzeilen lassen und auf die Übersichtlichkeit in lesbaren Blöcken
achten.
Denn seine erste Lösung zu der von der Lehrerin gestellten Aufgabe konnte ich nicht
entziffern, weil die Ziffern und die dazu gezeichneten Kreise zum Teil ineinander
geschrieben waren. Jonas war damit auch sehr unglücklich, wusste aber trotzdem
nicht, wie man es hätte besser darstellen können.
Nachdem wir die ganze Mathe-Seite neu und übersichtlich gelöst hatten, war Jonas
sehr zufrieden. Ab diesem Zeitpunkt brauchte man zur Darstellung nichts mehr zu
sagen. Jonas kam mit allem gut klar.

Es wirkte, als sei Jonas nie in einer anderen Klasse gewesen.
Die Mitschüler bemerkten seine Rechenkünste und sagten ihm auch, wie gut er
rechnen könne.
Und Jonas freute sich auch, als ein Mitschüler im Unterricht flüsterte, dass er ein
cooles T-Shirt anhabe.
Er war also angekommen!

Und ich somit auch. Jonas ging nun wieder gerne zur Schule, freute sich, arbeitete
mit und war sehr fleißig im Nachholen seiner Schreibschrift-Übungen.
Und für die Zukunft wurde mir klar, dass ich Jonas selber kein Wissen vermitteln
muss. Ich muss nur der Navigator sein, der ihm hilft, sich zurecht zu finden und das
Wissen passend unterzubringen.
Das ist zum einen für Jonas wichtig, damit er sich ausdrücken kann, wie er es
möchte.
Zum anderen ist es für uns wichtig, damit wir sicher sein können, dass Jonas auch
ohne unsere Hilfe klar kommt.
Denn letztendlich ist es Hilfe zur Selbsthilfe.

Und ich muss da sein für ihn, wenn das „kleine Köpfchen“ nicht mehr alles lösen
kann – so wie abends vor dem Einschlafen, wenn die Kontrolle über den Körper und
den Geist abgegeben wird.
Das mag Jonas gar nicht. Er möchte lieber alles planen, die Probleme und
Schwachstellen erkennen, sich vorbereiten und die Abläufe und Aufgaben möglichst
kontrollieren können. Jonas hätte am liebsten immer alles perfekt.
Mit seiner guten Vorbereitung gelingt ihm meistens ein sehr gutes Ergebnis.
Beim Schlafen ist das leider nicht möglich.
Es gab vor dem Einschlafen deshalb schon viele Tränen und eine große
Unsicherheit. Es half Jonas, als ich ihm erzählte, dass ich nach dem Tod meiner
Großmutter auch nicht gerne ins Bett ging, weil dann die Gedanken kreisten, was ich
nicht wollte. Das half Jonas, weil er sicher sein konnte, dass ich ihn verstehe und
dieses unsichere Gefühl auch bei Erwachsenen vorkommen kann.
Die regelrechte Angst vor dem Einschlafen blieb.

Früher hatten wir verschiedene Hörspiele als Traumreise vor dem Einschlafen gehört.
Nach einiger Zeit empfanden wir sie als zu lang, laut und unruhig.
Dann fanden wir eine kürzere und ruhigere Einschlafgeschichte, die
auch eine Traumreise beschreibt. Damit war schon einiges gewonnen, Jonas aber
noch nicht ganz zufrieden. Seine Sorgen und Ängste kehrten später doch zurück, wie
er morgens berichtete.
Bis ich eine neue Idee hatte.
Ich fragte, ob Jonas mich in seinen Träumen denn nicht gesehen hätte. Ich wäre
immer da und würde ihn beschützen.
Jonas war überrascht und verneinte, wollte mich aber in der nächsten Nacht suchen.
Und tatsächlich konnte er mich finden!
Von da an „besuchten“ wir uns immer in unseren Träumen und überlegten vor dem
Einschlafen, von was wir denn jetzt am liebsten träumen würden.
Jonas machte immer mehr eigene Vorschläge, beschrieb, was er sich vorstellte, und
schlief dann mit einem Lächeln ein.

Jonas freut sich schon auf die dritte Klasse.
Und in der Freizeit haben wir ein neues Projekt.
Jonas möchte gerne Plug-Ins für das Minecraft-Spiel mit Java programmieren.
Da ich das nicht mehr „bedienen“ kann, suchen wir dafür jemanden, der das kann
und ihm vermitteln möchte.
Mein Mann hat schon entsprechende Anfragen an alle Bekannten gestellt.

Da ist sie wieder meine Aufgabe als Navigator…nicht mehr und nicht weniger.
Fragt man Jonas, was das Wichtigste im Leben ist, antwortet er: „Liebe“ … „und
Freundschaft und Gesundheit.“ „Mama, das Wichtigste ist, dass wir leben!“
Wir sind auf dem richtigen Weg!

Auf diesem Weg möchten wir Frau Vock danken, die uns nun schon mehrere Jahre
ausgiebig mit Praxis-Tipps begleitet und immer wieder Mut gemacht hat. Ohne sie
wären wir nie so weit gekommen.
Sie ist für mich die Einzige, die uns wirklich versteht. Wir können frei und offen reden.
Im Gespräch mit anderen überlege ich mir vorher gut, was ich sagen kann und was
nicht. Dafür ist unsere Situation zu exotisch, und unsere Fragestellungen sind zu
selten.
Aber für uns ist alles genau richtig!
Wir sind stolz auf unsere Kinder und freuen uns auf das, was noch kommt.
Und wie war das – man hört nie auf zu lernen!

 

Datum der Veröffentlichung: August 2021
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.