von Doris Frese

 

Mein Beobachtungskind Elias (gerade 5 Jahre alt geworden) ist in der Gruppe eher still und zurückhaltend. Er zeigt einige Hinweise auf eine besondere Begabung (unter anderem denkt er immer sehr gründlich nach und kann sehr gut argumentieren). Er mochte in der Gruppe nicht zu erkennen geben, dass er sich das Lesen schon beigebracht hat. Ich wollte ihm im Rahmen eines Projekts helfen, seine Scheu davor abzulegen.

Grundideen zum Projekt:

  • Für jeden Menschen wichtig ist das Wissen um das eigene Potenzial und dessen Anwendungsmöglichkeiten.
  • Ist das, was ich kann, wichtig?
  • Was kann ein anderer Mensch von mir lernen?
  • Nicht jeder kann alles können, aber jeder ist „Professor“ auf seinem Spezialgebiet.

Das Projekt wurde mit der gesamten Kindergartengruppe (3 bis 6 Jahre) über einen längeren Zeitraum durchgeführt. Alle Kinder sollten sich darüber klar werden können, dass sie besondere Fähigkeiten und Interessen haben – und dies sollte auch von den anderen Kindern deutlich bemerkt werden können. Angestrebtes Ziel war, dass die Kinder sich ihrer besonderen Stärken bewusst werden und zu ihren besonderen Fähigkeiten stehen können.

…kurz gefasst…

Ein gerade fünfjähriger Junge macht in einem Projekt die Erfahrung, dass jedes Kind besondere Fähigkeiten hat und er ruhig zeigen kann, dass er etwas kann, was die anderen Kita-Kinder noch nicht können und was man auch noch nicht können muss, aber darf: Lesen.

Auch für die anderen Kinder der Gruppe bringt dieses Projekt einen Gewinn an Selbstbewusstsein. Es ist ein Beispiel für gelungene integrative Kita-Arbeit.

Projektverlauf

Folgendes ist im Projekt geschehen:

  1. Wir arbeiteten (zum Beispiel in Gesprächen im Morgenkreis) die besonderen Fähigkeiten jedes Kindes heraus.
  2. Wir bauten Spielbereiche, in denen die „Professoren“ entsprechend tätig werden können.
  3. Wir organisierten eine Veranstaltung mit Werbung und Dokumentation.
  4. Wir genossen unseren Erfolg und feierten eine Abschlussfete.
  5. Wir ließen das Projekt bei den Kindern, die noch nicht eingeschult wurden, weiter wirken.

Wir stellten unterschiedliches Material zur Verfügung, das die Kinder anregen sollte, ihre besonderen Interessen zu entdecken.

In den ersten Projektwochen fanden schon einige Kinder ihre Profession:

Beispiele:

* Mehmet wurde Hexenmeister der Gruppe.

* Joline wurde Krankenschwester der Gruppe.

* Jonas wurde Sporttrainer der Gruppe.

* Moritz wurde Puppentheaterspieler der Gruppe.

Zu Mehmet: (5)

Er ist in meinen Augen ein besonders denkender, hochsensibler Einzelgänger mit fast ausschließlichen Erwachsenenkontakten. In der Gruppe ließ er sich auf wenig ein, hielt sich sehr zurück, zeigte kaum seine Gefühle und traute sich wenig zu; Unordnung oder „Schmutz“ an den Händen konnte er nur schwer ertragen.

Über einen Hexenbesen und ein Hexengedicht erreichten wir im Projekt seine geheimnisvolle Art. Er fand für sich die Rolle des Hexenmeisters, begann seine „innere Hexenkraft“ zu spüren und auch mal Hexenwut zu zeigen. Es wurden Hexenbesen, Umhänge und Hüte gebastelt. Als Hexe konnte er sogar mit Spaß Farbe an den Händen haben. Es entwickelten sich ein Hexenführerschein, den die Kinder erlangen konnten und in den Mehmets Ideen einflossen, und ein Hexenfest mit Eltern.

Zu Joline: (4)

Sie hat auf Grund ihrer eigenen psychosomatischen Reaktionen (sie fühlt sich öfters nicht wohl) und aus Interesse am Beruf ihrer Mutter (Apothekerin) eine Krankenstation mit Massage eingerichtet.

Am liebsten hatte sie zunächst erwachsene „Patienten“ und beschwerte sich bald, dass keine Kinder zu ihr kamen. Sie wollte auch lange nicht, dass andere Kinder während ihrer Abwesenheit ihren Spielbereich nutzten. Erst als ihre Kenntnisse im Alltag und bei Spaziergängen gefragt wurden, fand sie zur Gruppe zurück.

Rund um die Krankenschwester entwickelten sich über 14 Tage ein spezieller Dienstplan sowie ein Wellness-Tag, der mehrmals wiederholt wurde.

Zu Jonas: (4)

Er ist ein motorisch sehr aktives Kind und meldete sich als Sporttrainer. Für ihn und mit ihm entwickelten wir ein Sportprogramm. Die Dusche in unserer Kita wurde mit Hilfe seines Vaters wieder benutzbar gemacht, so dass Sportler und Trainer auch duschen können. Sein Bereich wurde gestartet mit einem Fitness-Tag. Leider können wir Jonas nur in Begleitung eines „Co-Trainers“ aktiv werden lassen (wegen der Aufsichtspflicht). Jonas beharrt dabei auch absolut auf seiner Führungsposition.

Zu Moritz: (5)

Er ist unser Puppenspieler. Ihn begleitete unsere Praktikantin. Wir besuchten das Puppenspiel “Hänsel und Gretel“. Danach gestalteten die Kinder dazu eine eigene Hörspielkassette, bastelten Kochlöffelpuppen und machten Aufführungen. Moritz zeigte zusätzlich Fähigkeiten als Elektriker und wird immer, wenn Verkabelungen gebraucht werden, zu Rate gezogen.

Das Projekt entwickelte sich weiter, immer mehr Kinder fanden ihren Bereich; und wenn einem Kind gar nichts einfiel, was es besonders gut konnte – was ich selbst ziemlich erschreckend fand – dann half die Gruppe: „Aber du kannst doch schon Schleife binden.“ – „Ja.“ – „Dann bist du Professorin für Schleifebinden.“ Strahlendes Lächeln.

Bernd (4), der auch Anzeichen einer besonderen Begabung zeigt (zum Beispiel viele, viele Fragen und den Wunsch, Schreiben zu lernen), hatte lange gefehlt. Als er wieder in die Kita kam, bemerkte er, was sich alles getan hatte. Für sich nahm er daraufhin eine Federmappe, eine Schreibunterlage und einen Tornister, wurde also ein allseits interessierter Schüler. Hintergrund: Er hatte schon seit längerem die Idee, dass er in die Schule wollte.

Quasi in einer zweiten Runde und nachdem sie das Treiben der anderen Kinder ausgiebig erlebt hatten, fanden andere Kinder ihre Profession:

Ivan (5)

übernahm eine Rolle als Künstler. Er gestaltete Plakate und bietet Malkurse an. Für ihn entwickelten wir Staffeleien.

Mona (4)

hat besondere fürsorgliche und hauswirtschaftliche Qualitäten; sie suchte sich die Rolle der Putzfrau aus und richtete sich einen Putzwagen ein.

Leon (4)

wurde unser begeisterter Müllmann, er leerte die Papiermülltonnen im ganzen Haus. Er durfte, wenn die Müllabfuhr in Sicht kam, hinausgehen und einen fachlichen Schwatz mit den Müllmännern halten, die ihm unter anderem erklärten, dass ihnen die Hydraulik die schwerste Arbeit, das Hochheben der Mülltonnen, abnimmt.

Inzwischen haben die Kinder den Aktenvernichter in Betrieb genommen und zerkleinern das Altpapier für die Pappmaché-Herstellung.

Ali (5)

würde gerne eine Zeitung herausgeben, mit Interviews, Texten und Fotos. Ich möchte es gerne ermöglichen und dafür auch den Computer einsetzen.

Schließlich hatten dann alle Kinder ab 4 Jahren ihren eigenen Bereich, den sie über lange Zeit bis zu den Sommerferien intensiv bespielten.

Die Spielbereiche, die die Kinder sich schufen, waren anfangs sehr wichtig dafür, dass sie sich mit den Rollen identifizieren konnten. Bald jedoch merkten die Kinder, dass das egoistische Besetzen der Spielräume dazu führte, dass sie einsam waren. Das wurde langweilig, und so entwickelten sich Gespräche über Regelerweiterungen und die sozialen Aspekte ihrer „Professionalitäten“.

Außerdem entstand die Idee, die Spielbereiche mobil zu machen. So wünschen wir uns:

  • ein fahrbares Krankenbett,
  • ein mobiles Büro,
  • Sportbereiche,
  • eine Werkstatt in unserem Bauwagen,
  • einen fahrbaren Imbiss,
  • eine transportable Staffelei,
  • ein Discotheater,
  • und, und, und …

Bei der Umsetzung geht es jetzt darum, Erwachsene auszukundschaften, die uns dabei professionell zur Seite stehen.

Das meiste davon ging in Erfüllung:

Für das Krankenbett besorgten Eltern stabile Rollen, so dass es auch als „Krankenwagen“ eingesetzt werden konnte. Väter bauten ein Bühnenpodest für unser Theater in einem Nebenraum. Aus einem stabilen Tisch mit Rollen und einem transportablen Elektroherd entstand ein mobiler Imbissstand, an dem hin und wieder Speisen zubereitet und dann portionsweise im ganzen Haus angeboten wurden. Elias´Büro wechselte je nach Wunsch seinen Standort, es war allerdings nicht fahrbar, sondern wurde mit vereinten Kräften umgesetzt.

Elias

Elias (5), dessen Fähigkeiten eigentlich den Anstoß zu dem Projekt gegeben hatten, kam erst sehr spät auf mich zu.

Er beobachtete das Geschehen sehr lange, überlegte gründlich, ließ sich durch Nachfragen auch nicht bedrängen und beharrte darauf, dass er selbst das Richtige für sich finden müsste.

Schließlich, eher zum Ende des Projekts hin, als die anderen Kinder schon ihre Profession gefunden hatten, kam Elias auf mich zu und sagte: „Dann brauche ich ja dann wohl ein Büro.“

Ich fragte ihn, was er dafür bräuchte, und er zählte Einiges auf: Papierkorb, Pinwand, Landkarte, Stifte, Papier, Lupen, Schreibtischunterlage, Lampe. Dies alles bekam er für sein Büro und richtete sich darin ein. Den Büroraum bauten wir ihm aus zwei alten, aufrecht gestellten Bettgestellen, einem kleinen Tisch und einer Decke an der Seite. So entstand quasi ein separater Raum im Raum, in dem Elias sogar noch ein Regalbrett anbrachte.

Meine nächste Frage war: „Was willst du denn in deinem Büro machen?“ Und zu meiner Freude antwortete er darauf, allerdings ganz leise: „Da kann ich dann ja lesen.“

Ihm gefiel sein kleines Büro, er ging immer wieder hin, kam aber nie zum Spiel.

Erst als im Gespräch ein Kind sagte: „Du solltest Dich Elias Schlaukopf nennen“, kam er darauf – oder war ermutigt genug -, dass er der Geheimagent der Katzengruppe sein wollte. Erst jetzt wussten die Kinder, wie sie seine Fähigkeiten anfordern konnten. Elias, der Geheimagent, ist spezialisiert auf Beweisführung und engagiert sich verbal in allen Streitsituationen.

Die Kinder gehen zu ihm ins Büro, wenn es Streitigkeiten gibt, wenn etwas abhanden gekommen (vielleicht geklaut?) wurde oder sie einen Zettel vorgelesen haben wollen. So kann er im Kita-Alltag endlich seine intellektuellen Fähigkeiten zeigen.

Nun will er in absehbarer Zeit den „Club der klugen Köpfe“ gründen. Daran zeigen sich auch Bernd und Ali interessiert.

Datum der Veröffentlichung 12.5.10
Copyright © Hanna Vock 2010, siehe Impressum.