Hanna Vock / Monika Hartings

In die Diskussion um die Waldkindergärten wollen wir unsere Erfahrung mit regelmäßigen Waldausflügen einbringen. Seit fast sechs Jahren fahren wir, bei gutem und bei „schlechtem“ Wetter, mindestens einmal im Monat in unseren Wald. Unsere Kinder sind Stadtkinder, fast alle werden mit dem Auto gebracht. Es gibt nicht viel Wald in unserer Gegend westlich von Neuss, und für manche unserer Dreijährigen ist der Wald ein ganz neues Erlebnis.
Wir sind eine Elterninitiative mit 20 Ganztagsplätzen. Das Außengelände ist wild und naturnah. Aber Wald, das ist doch noch ganz was anderes! „Unser“ Wald ist ein bewirtschafteter, recht kleiner, aber doch unglaublich abwechslungsreicher, abenteuerlicher Wald. Wir sind froh, dass wir ihn gefunden haben. In jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter hat er seinen besonderen Reiz.

Nicht Sonntagsspaziergang, sondern Abenteuer

Um hinzukommen, müssen wir 20 Minuten mit dem Bus fahren und dann noch einen guten Kilometer laufen. Die meisten neuen Eltern machen sich Sorgen, dass ihr Dreijähriges diese Laufstrecken nicht schafft oder zumindest bald zu jammern anfängt. Eine ganz unbegründete Sorge, denn sie laufen alle ausdauernd und mit Freude – von einer Attraktion zur nächsten. Die Großen müssen wir oft bremsen; kaum aus dem Bus gesprungen, würden sie den Weg bis zum Waldrand am liebsten im Laufschritt zurücklegen.
Da liegen einige gefällte Bäume am Wegesrand, für kleine Kinder ein Riesenklettergebirge. Manchmal ist die Rinde glitschig-nass und verlangt den Kindern alle Konzentration ab, manchmal ist sie trocken, und man kann über die verschiedenen großen Ritzen springen…
Im September lockt die große Brombeerhecke am Waldrand. Diese Brombeeren schmecken natürlich besser als die Früchte aus dem Laden. Die Kinder erfahren, dass man sich aus der Natur bedienen kann: Man kann viel mehr Pflanzenarten essen als die meisten Kinder und Erwachsenen glauben. Das ist für viele Kinder ein neues Erlebnis, aber die Gefahren müssen ihnen immer wieder erklärt werden. So darf man die Brombeeren nur oben pflücken (Fuchsbandwurm!).
Irgendwann haben wir den „wilden“ Einstieg in unseren Wald entdeckt: einen schmalen Pfad, auf dem man nur im Gänsemarsch vorwärtskommt, links undurchdringliches Gebüsch, rechts ein steiler Abhang zu einem Auenwäldchen, das meistens überflutet ist. Umgestürzte Bäume und Brombeerranken versperren den Weg. Hier gucken die kleinen Neuen manchmal etwas verschreckt und sind ein bisschen hilflos. Aber sie lernen schnell, dass man Dornenranken niedertreten und dass man über Baumstämme rüberklettern kann, wenn man nur beherzt die Rinde anpackt, auch wenn sie rauh und nass ist.
Das Gehen ohne Weg und Steg ist für die Kinder oft wie ein Abenteuer und ist gleichzeitig eine außerordentlich gute Bewegungsschulung: Sie lernen dabei eine Menge an Konzentration, Ausdauer, Geschicklichkeit und Koordination.

Vertrautes wiederfinden, Neues entdecken

Es gibt schöne Plätze, die die Kinder kennen und immer wiederfinden. Da ist das runde Holzhäuschen, wo wir manchmal Brot essen und wo wir nach Ostern Eier suchen, dann der Platz unter riesigen Buchen, wo man schön „Bäumchen wechsle Dich“ und anderes spielen kann. Es gibt einen Weg durch dichtes Unterholz, „wo das tote Kaninchen lag“, eine Ruine, Reste von Backsteinmauern, ganz versteckt zwischen „Urwald“, wo wir kleine Kletterkurse machen, ein breites, tiefes Bachbett, das manchmal trocken ist und manchmal Wasser führt, so dass wir aus Baumstämmen Brücken bauen, um ‚rüberzukommen.

Ein schöner Spiel- und Kletterplatz. Zum Vergrößern anklicken.

Es gibt ein verwunschenes Gebiet mit viel Weidengebüsch, wo man sich herrlich verstecken kann und über Baumstämme balancieren kann, meist ohne ins niedrige Wasser zu fallen.

 

Die älteren Kinder finden schon allein den sonnenbeschienenen Flecken, wo wir gerne Mittag essen. Dort ist es warm und trocken, auch wenn der übrige Waldboden feucht ist. Ganz in der Nähe ist der Abhang, der zu Tobespielen lockt. Man fällt weich, denn der Boden ist dort mit einer dicken Laubschicht bedeckt.

Nach Laufen und Spielen an der frischen Waldluft schmecken Butterbrote gut. Zum Vergrößern anklicken.

 

Ein Baum hat es geschafft, ein so ausgedehntes oberirdisches Wurzelgewirr auszubilden, dass die halbe Gruppe sich daraufhocken kann, um sich auszuruhen und fantastische Geschichten zu hören.

Es sind immer dieselben Orte, es gibt viel Vertrautes wiederzufinden. Das gibt den Kindern Sicherheit und Mut auf Entdeckungsreisen zu gehen. In jedem Monat haben diese Orte und hat der ganze Wald ein anderes Gesicht. Die Kinder nehmen Veränderungen wahr in der Gesamtstimmung und in unzähligen Einzelheiten. Sie entdecken Riesiges und Winziges, „Naturkunde“ ergibt sich am Wegesrand. Natürliche Zusammenhänge können wir den Kindern vor Ort am besten zeigen und erklären. Das geschieht beiläufig, denn im Vordergrund stehen für unsere Kinder Bewegung, Erlebnis und Abenteuer, die je nach Alter und Entwicklungsstand der Kinder immer wieder andere Schwerpunkte haben.
Anfangs hatten Eltern Bedenken und meinten, wir müssten dazu anhalten, im Wald still zu sein und die Tiere nicht zu stören. Wir haben uns dafür entschieden, die Kinder nicht zu ermahnen, wenn sie im Spiel laut rufen oder schreien, wenn sie aufgeregt sind durch die vielen starken sinnlichen Eindrücke. Es ist ihr Wald genauso wie der Wald der Rehe und Hasen. Die Waldarbeiter, die wir manchmal treffen, freuen sich über die muntere Kinderbande.
Sicher wird manches Pflänzchen geknickt und manches Tier aufgescheucht – aber unterm Strich entsteht in den drei Jahren bei den Kindern eine Bindung zu ihrem Wald und damit ein wichtiger Zugang zur Natur.

Der Wald ruft auch bei Kälte und Nässe

Es regnet – aber unter den dichten Bäumen ist es gemütlich trocken. Zum Vergrößern anklicken.

Jedes Wetter ist uns lieb. Nur bei starkem Dauerregen oder Sturm sagen wir unseren Waldausflug ab. Wir mögen die Bäume, aber sie sollen uns nicht auf den Kopf fallen.

Kälte und Regenschauer schrecken uns nicht mehr. Wir haben erfahren, dass das Wetter meistens besser ist als es aussieht. Anfangs waren nicht alle Kinder immer wetterfest angezogen, aber inzwischen achten alle Eltern darauf. Und wenn mal eine Familie vergessen hat, dass Waldausflug ist, finden sich im Kindergarten-Fundus aus Elternspenden immer noch ein paar passende Sachen. Auch wir Erzieherinnen denken an unsere „Waldklamotten“ – obwohl auch unsere gewöhnliche Arbeitskleidung dazu taugt, über den Waldboden zu rollen…
Auch im Sommer tragen wir alle im Wald lange Hosen und Schuhe, durch die so leicht kein Dorn durchkommt. Und auch Brennnesseln könnten höchstens den Händen was anhaben. Die voranlaufenden Kinder rufen dann „Brennnesselalarm“, und alle heben vorsichtshalber die Hände hoch.
Wenn wir in den Kindergarten zurückkommen, sind die Jacken meistens ausgezogen und um den Bauch gebunden. Die viele Bewegung in der frischen Luft oder die doch hervorgekommene Sonne haben uns warm gemacht, und die fröstelnd wartenden Mütter wundern sich.
Eines Tages kamen wir hinzu, als gefällte Buchen zersägt wurden. Wir haben zugesehen, sind ins Gespräch gekommen, und die Waldarbeiter schenkten uns frische, duftende Buchenscheite. Jedes Kind hat sein Scheit hingebungsvoll bis zum Bus geschleppt. Zuhause im Kindergarten hatten wir dann gutes Holz fürs Lagerfeuer.
Im Wald gibt es immer was zu sammeln und zu schleppen, Stöcke, Steine, Eicheln. Blätter, Blumen, Federn kann man in die Haare oder in ein um den Kopf gebundenes Tuch stecken. Manches Jahr ist reich an Bucheckern – die werden meistens gleich aufgegessen. Die Kinder haben beide Hände frei, sie nehmen keine Täschchen oder Rucksäckchen mit in den Wald, es würde sie nur behindern.

Dinge, die wir mitnehmen…

Wir sind drei bis fünf Stunden unterwegs. Was wir in dieser Zeit brauchen, passt in zwei Tagesrucksäcke: Mineralwasser, stapelbare Plastikbecher mit Namen, Butterbrote, Taschentücher, eine Blechdose mit Pflaster, Schere, Pinzette für Splitter, ein Baumwolltuch und zwei bis drei Garnituren Wäsche und Strümpfe für Wasser- und Matsch-Notfälle. Die passieren immer wieder, wenn Kinder selbstvergessen spielen. Wir hatten mal drei Jahre lang ein Kind, das in jede Pfütze fiel. Es wurde von Pfützen unwiderstehlich angezogen, und das Ende war oft ein Schlammbad. Als es wieder mal passierte, war die Ersatzwäsche schon aufgebraucht. Rundum eingematscht und überhaupt nicht erschrocken trabte es Richtung Bus. Damals hat uns ein großer Müllsack entscheidend weitergeholfen. Vor den besorgten Augen des Busfahrers stieg das Kind samt Gummistiefeln in den Sack, guckte oben fröhlich raus und durfte bei einer Erzieherin auf dem Schoß sitzen, damit auch ja nichts an die Sitze kommen konnte. Busfahrer haben freundlicherweise aber auch schon kleine und große Äste transportiert, wenn die Kinder sie unbedingt mitnehmen wollten.

Bei trockenem Wetter nehmen wir unser Mittagessen mit in den Wald. Das schleppen wir nicht mit – ohnehin fährt aus Sicherheitsgründen immer eine Erzieherin mit ihrem Auto bis an den Waldrand – falls mal was passieren sollte und wir schnell zum nächsten Telefon wollen. (Achtung: Handys gab es nocht nicht!!!)

Wenn wir nach ein paar Stunden aus dem Wald zurückkommen, sind Kinder wie Erwachsene total müde. Auch sonst sind wir viel draußen, aber die Waldluft schafft uns immer wieder und wir haben das gute Gefühl, einen gesunden Tag verbracht zu haben.

… und Dinge, die wir uns holen

Aber unser Wald gibt uns viel mehr als nur frische Luft. Er schenkt uns Abenteuer, vielfältige Bewegungsmöglichkeiten, Ausdauer im Laufen, Abstand von der alltäglichen Verwöhnung, hautnah Natur erleben, alles anfassen dürfen, natürliche Stille spüren, Weite und Ruhe sowie Spaß und Reize für alle Sinne.
Wir Erzieherinnen hoffen, dass unsere Kinder den Wald so lieben lernen, dass sie ihn später schützen wollen. Denn krank ist er auch schon, unser Wald.
Wir sind kein Waldkindergarten, und wir wollen auch keiner sein – aber unsere regelmäßigen Ausflüge in den Wald möchten wir nicht missen.
Erstveröffentlichung: in Kita aktuell NRW, 4/97.