von Hanna Vock

 

Hoch begabte Kinder merken schon im Alter von drei, vier oder fünf Jahren, dass sie sich von Gleichaltrigen deutlich unterscheiden: in ihren Interessen, ihren kognitiven Fähigkeiten und oft auch in ihrer Sprache. Spätestens mit dem Eintritt in den Kindergarten machen sie Erfahrungen, die sie ihr Anderssein deutlich spüren lassen.

 

…kurz gefasst…

Oft hört man: „Hoch begabte Kinder sind Kinder wie andere auch.“ Wie fast immer, ist es komplizierter: Sie haben dieselben Grundbedürfnisse, aber aktuell auch immer Spiel- und Lernbedürfnisse, die von denen der Gleichaltrigen weit entfernt sind.
Unsere Kultur sollte ihnen erlauben, ihr Anderssein nicht nur wahrzunehmen, sondern auch schon im Kindergartenalter auszudrücken.
Im Kindergarten sollte unser Bildungsziel sein, dass sie oft Flow erleben können.

Ein Beleg dafür sind die Äußerungen einiger Jugendlicher, die in den 90er Jahren am Hochbegabtenzweig der Christophorusschule in Braunschweig ihr Abitur machten und die sich im Gespräch mit mir an ihre Kindergartenzeit erinnerten:

Junge Frau, 18:

“Es klingt vielleicht komisch – aber ich habe mich eigentlich im Kindergarten immer eher wie die Erwachsenen (die Erzieherinnen – HV) gefühlt. Was die gemacht und geredet haben, fand ich interessant. Was die anderen Kinder gespielt haben, hat mich nicht so interessiert.”

Junger Mann, 18:

“Es war mir ganz früh klar, dass ich mit den anderen Kindern im Kindergarten über viele Dinge, die mich beschäftigt haben, nicht reden konnte. Das hatte gar keinen Zweck.“

Junger Mann, 17:

“Ich bin drei Jahre in den Kindergarten gegangen und habe mich die meiste Zeit gelangweilt. Ich konnte mit den anderen Kindern nicht viel anfangen und die nicht mit mir. So habe ich mein Ding gemacht und die ihrs. Bei den ganzen Bastelarbeiten habe ich nie mitgemacht, außer Laternen, die mussten alle machen.”

Junge Frau, 16:

“Ich fand´s im Kindergarten ganz lustig. Ich hab immer gerne getobt und war viel draußen. Drinnen war es eher langweilig. Ich hatte oft das Gefühl: Ich bin im falschen Film. Aber ich habe mit fünf Jahren zu Hause schon interessante Bücher gelesen, das sollte aber im Kindergarten keiner wissen, auch nicht, dass ich schon ganz gut schreiben konnte. Das wollte ich nicht.”

Alle Vier berichteten, dass sie von den Erzieherinnen, zum Teil auch von den eigenen Eltern, immer wieder in verschiedener Form aufgefordert oder gedrängt wurden, sich anzupassen: bei bestimmten Spielen mitzumachen; überhaupt mehr zu spielen; das zu machen, was die anderen Kinder auch machen.

Alle vier hatten schon im Kindergarten ein starkes, sie teilweise bedrückendes Gefühl des Andersseins.

War der junge Mann glücklich, der sagte: „Ich konnte mit den anderen Kindern nicht viel anfangen und die nicht mit mir. So habe ich mein Ding gemacht und die ihrs.“?

Man darf es anzweifeln. Vielleicht wäre er glücklicher gewesen, wenn er sich in einem Umfeld befunden hätte, in dem echter Austausch, Teilhabe an der geistigen Welt des Anderen, Zusammenspiel und Zusammenarbeit auf hohem Niveau stattgefunden hätte…

 

Hoch begabte Kinder haben in der Kita  im Prinzip dieselben Bedürfnisse wie alle anderen Kinder:

Sie wollen

  • mit anderen Kindern zusammen spielen,
  • mit anderen Kindern und Erwachsenen Spaß haben,
  • sich mit ihnen austauschen und anfreunden,
  • gemeinsam etwas gestalten, Entscheidungen treffen, etwas schaffen,
  • Anerkennung finden,
  • immer selbstständiger werden,
  • verstehen, was um sie herum geschieht,
  • verstehen, was mit ihnen selbst geschieht,
  • sie sind auf der Suche nach neuem Wissen, interessanten Menschen und Medien, von denen sie etwas Faszinierendes über die Welt erfahren können.

Die konkrete Ausprägung dieser im Prinzip gleichen Bedürfnisse kann sich aber völlig unterschiedlich zeigen.

Ein motorisch-kinästhetisch hoch begabtes vierjähriges Kind, zum Beispiel, hat vielleicht großes Interesse und großen Spaß daran, komplizierte Tanzfolgen zu erlernen oder zu improvisieren, wogegen viele andere Vierjährige erst lernen (und Spaß daran haben), bei einer einfachen Melodie so ungefähr im Takt zu klatschen oder zu gehen. Das hoch begabte Kind wird sich notgedrungen langweilen und stark unterfordert sein, wenn über Jahre immer wieder nur diese nach seinem Empfinden einfachen Dinge in seiner Umgebung vorkommen. Es findet keine Nahrung für die Entfaltung seiner Begabung.

Und weiter gedacht: Es hat keine Lust, immer wieder dieselben, einfachen und sehr unvollkommen ausgeprägten Tanzbewegungen zu machen, zusammen mit Kindern, die sich aus seiner Sicht zur Musik nur sehr rudimentär bewegen können.

Viererlei wäre für dieses Kind wünschenswert:

  1. dass seine besondere Begabung in der Kita erkannt wird;
  2. dass es in der Gruppe nicht mit“tanzen“ muss, wenn es keine Lust hat;
  3. dass es ermutigt wird, seine Kunst zu zeigen, und dafür Anerkennung anzunehmen,
  4. dass die Erzieherinnen den Eltern nahe legen, das Kind außerhalb der Kita tänzerisch angemessen fördern zu lassen (wenn das Kind Lust dazu zeigt).

Das naturwissenschaftlich besonders interessierte und begabte fünfjährige Kind kann sich hochgradig frustriert fühlen, wenn „spannende Experimente“ angekündigt werden und das Experiment dann darin besteht, eine brennende Kerze zu beobachten, zu fühlen, wie heiß die Flamme ist und sie schließlich auszupusten; eine Sache, die ihm eh schon lange klar ist.

Nicht anders ergeht es Schulanfängern, die mit großen Erwartungen in die Schule kommen und nach kurzer Zeit vom (für sie viel zu) geringen Tempo, zum Beispiel beim Rechnen- oder Schreiben-Lernen, enttäuscht sind.

Obwohl also grundlegende Bedürfnisse hoch begabter und nicht hoch begabter Kinder in vieler Hinsicht übereinstimmen, können die aktuellen Spiel- und Lernbedürfnisse sehr unterschiedlich sein.

Die Spiel- und Lernbedürfnisse können besondere sein.
Dies einzusehen, ist für Eltern wie Erzieherinnen wichtig.

Den Begriff „besondere Spiel- und Lernbedürfnisse“ prägte ich im Jahr 2000 anlässlich meiner ersten Fortbildung mit Erzieherinnen. Es hat sich in allen weiteren Fortbildungen als sinnvoll und fruchtbar erwiesen, immer wieder nach den besonderen Spiel- und Lernbedürfnissen einzelner hoch begabter Kinder zu fahnden, um daraus Förderkonzepte zu entwickeln.

Die konkrete Ausprägung der Spiel- und Lernbedürfnisse hängt eng zusammen mit dem Begabungspotenzial des Kindes, und sie hängt davon ab, inwieweit das Kind seine Begabung bereits entfalten konnte. Im Falle einer intellektuellen Hochbegabung ist entscheidend, in welchem Maße sich das eigenständige Denken des Kindes bereits entwickeln konnte.

Ein dreieinhalbjähriges Kind, das zu Hause bereits regelgerecht Halma spielt, findet kaum Gefallen an „Tempo, kleine Schnecke“, was ein schönes, bei Drei- bis Vierjährigen beliebtes, aber sehr einfach strukturiertes und leicht zu überblickendes Spiel ist.

Generell können wir feststellen, dass hoch begabte Kinder nicht nur schwierigere Spiele bevorzugen,

sondern ihre Spiele komplexer gestalten wollen und einen höheren Anspruch an den Verlauf und das Ergebnis des Spiels (und des Lernens) stellen.

 

Siehe auch das Beispiel von Marja und den Kasperpuppen im Beitrag:
Spielgefährten und Freunde hoch begabter Kinder.

In ihrer Ausbildung erfahren die Erzieherinnen in der Regel nichts oder nur sehr wenig über das Potenzial und die Bedürfnisse hoch begabter Kinder. Die Folge sind häufig zu beobachtende pädagogische Schwierigkeiten, die in unseren Fortbildungen immer wieder zu Tage treten:

  • Die aktuellen Fähigkeiten der hoch begabten Kinder werden unterschätzt.
  • Das Entwicklungspotenzial der Kinder wird unterschätzt.
  • Das Entwicklungstempo der Kinder wird unterschätzt.
  • Die Eigenmotivation und die Ausdauer der Kinder werden unterschätzt.
  • Die soziale (ja, die auch!) und gedankliche Reife, die Fähigkeit zu Metakognition (Nachdenken über das Denken) und Reflexion (geistige Aus- und Bewertung des Erlebten und Erfahrenen) werden unterschätzt.
  • Die Weite des Interessenhorizonts wird unterschätzt.

Wenn das so ist, kann eine angemessene Förderung nicht gelingen. Stattdessen besteht dann die Gefahr dauerhafter Unterforderung.

Siehe auch: Dauerfrustration wegen Unterforderung und Unverständnis.

 

Wenn allerdings im Kindergarten sehr Anspruchsvolles, zum Interesse des Kindes Passendes geboten wird, können Erzieherinnen erfreuliche Beobachtungen machen. So schrieb Ute Bleienheuft in einer Aufgabe während ihres IHVO-Zertifikatskurses:

„Mein hoch begabtes Beobachtungskind machte die ganze Zeit auf mich den Eindruck, als wäre sie in einer anderen Welt. Sie sagte kaum etwas und arbeitete sehr konzentriert. Als die CD zu Ende war, wirkte sie auf mich sehr glücklich.“

Damals schrieb ich als Kursleiterin an den Rand der Arbeit von Frau Bleienheuft:

„Sie war im Flow, also in einem Zustand großer geistiger Konzentration (man kann auch sagen: ihr Gehirn durfte endlich mal auf Touren kommen); und sie war in einem Zustand der Freude, etwas tun und lernen zu können, das zum eigenen Begabungspotenzial passt. Der Flow führt zu einem Gefühl großer Zufriedenheit. Hoch begabte Kinder können ihn viel zu selten erleben. Er sollte aber häufig erlebt werden, und die Sehnsucht danach ist immer da. Wir können es geradezu als eine Aufgabe der Hochbegabtenförderung bezeichnen, die Kinder oft Flow erleben zu lassen.“

Ein Wissenschaftler, Spezialist für Weltraumraketentechnik, der sein autobiografisches Gedächtnis verloren hat, bekommt von einem Kollegen zu hören:

„Klingt ganz so, als wären Sie gestern auf einer heißen Party gewesen.“

„Gestatten Sie mir die absolut ernst gemeinte Frage: Bin ich so einer? Saufe ich so viel, dass ich danach umkippe?“

„Um das zu beantworten, kenne ich Sie nicht gut genug.“ McDermot kniff die Brauen zusammen: „Es würde mich allerdings überraschen. Sie wissen ja, wie wir Wissenschaftler sind. Wir hocken beisammen, trinken Kaffee und reden über unsere Arbeit – das ist unsere Vorstellung von einer Party.“

Klingt plausibel, dachte Luke. „Sich einfach voll laufen zu lassen ist für unsereinen offenbar nicht interessant genug“, sagte er.

Aus: Ken Follett (2000), Das zweite Gedächtnis, Seite 179.

 

 

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