von Gudrun Pütz

 

Die fünfjährige Pia (5;6) begann zu schreiben und ich habe ihr vorgeschlagen, mit mir kleine Buchstabenstempel herzustellen. Sie war sofort sehr interessiert und malte Buchstaben auf Moosgummi. Sie schnitt sie aus und klebte sie dann auf kleine Holzklötzchen. An den folgenden Tagen wurden sie ausprobiert: immer mit kleinen Wörtern wie PAPA, MAMA, OMA…

Die Autorin beschreibt eine individuelle Förderung wie sie sein soll: Die Idee geht vom Kind aus, die Erzieherin unterstützt und bestärkt sie; das Kind produziert neue Ideen – und beschreitet eigenwillige Lernwege. Die Erzieherin begleitet sie.
Siehe auch: Einzelförderung, Mentoring.
Die Ergebnisse fließen als Anregungen in die Gruppe. Es entsteht ein konkretes Produkt (Buch) und eine neue Struktur (Angebot Drucktische). Pia lernt dabei in kurzer Zeit sehr viel und gibt auch ihre Erfahrung weiter. Perfekt!

Dann habe ich ihr kleine Briefchen mit Aufträgen geschrieben, zum Beispiel:
„HALLO PIA MÖCHTEST DU MIT WASSERFARBEN MALEN?“ oder „SCHLIEß BITTE DIE TÜRE“. Pia schrieb mir nicht zurück. Als ich sie danach fragte, meinte sie: „Ich kann doch mit dir reden!“ Aber sie druckte dann für ihre Schwester „WIE WA S IN DER SCHULE?“ oder „MUST DU HEUTE RECHNEN?“ und „HALO SONJA ICH GE HEUTE REITEN“. Sonja schrieb ihr daraufhin kleine Briefe zurück. Nach einigen Tagen ließ Pias Interesse am Briefe-Drucken nach und sie wandte sich wieder ihrer neuen Freundin Solveig aus der Nachbargruppe zu.

Anmerkung der Kursleitung:
Das reichte für sie offenbar aus, um für sich das Konzept „Briefeschreiben und Briefkontakt“ zu erarbeiten.

Ein Buch mit eigenen Reimen entsteht

Als Solveig einige Tage krank war, bemerkte ich, dass Pia sich langweilte. Weil sie sich sehr gerne kleine Wortspiele und Reime ausdachte, bot ich ihr an, ein kleines Buch mit ihren Reimen zu drucken. Sie war davon hellauf begeistert und wollte sofort anfangen. Wir beschlossen, am nächsten Vormittag zu starten. Da kam sie schon mit den Worten in den Kindergarten: „Jetzt fangen wir aber mit meinem Buch an!“ .

Ich hatte schon einige Tage zuvor einige ihrer selbst ausgedachten Reime in
Großbuchstaben aufgeschrieben und fragte sie, ob sie einen davon gerne drucken wollte. Sie verneinte zuerst. Da ihr aber so schnell kein Reim einfiel, der ihr gut genug für das Buch war, entschied sie sich doch dafür, den von mir vorgeschlagenen Reim zu drucken. Das hat ihr – und auch mir – großen Spaß gemacht.

Pia reimt oft aus der Situation heraus: Wenn sie an ihrem Webrahmen arbeitet, fällt ihr ein Reim zum Weben ein – oder sie isst eine Nektarine und macht sich einen Reim darauf. Als sie den Reim mit der Nektarine abgeschrieben hatte, malte sie zwei Bienen darunter – und dabei reimte sie schon weiter.

Pia ändert auch bestehende Abzählreime, die gerade bei einem Spiel benutzt werden. Ich habe die Reime dann aufgeschrieben, und zu einem späteren Zeitpunkt haben wir sie gedruckt. Pia bestand aber immer darauf, mit mir alleine zu drucken. Da gerade die Eingewöhnungsphase für die neuen Kinder begann, hatte ich zu dieser Zeit kaum Gelegenheit, mit Pia zu arbeiten. Dann wollte Pia zunächst lieber schreiben als drucken. Allerdings war sie mit der Gleichmäßigkeit ihrer Buchstaben nicht zufrieden und ich musste sie immer wieder überreden, weiter zu schreiben.

Anmerkung der Kursleitung:
Sie stellt sich selbst eine neue, weiterführende Aufgabe und hat einen hohen Anspruch an ihr Ergebnis.

Sie war jedes Mal sehr stolz, wenn wir einen Reim in ihr Buch abgeheftet hatten. Sie nimmt sich das Buch schon mal und liest selber, aber sie liest auch anderen Kindern daraus vor.
Pia wollte zu den Reimen auch immer etwas malen oder basteln. So wird das Buch weiter vervollständigt, wenn Pia Spaß daran hat.

Anmerkung der Kursleitung:
Pia hat viel gelernt. Auch wenn Du wenig Zeit hattest, waren Deine Impulse und Dein Interesse an ihrem Projekt notwendige Bedingung für Pias Erfolg. Die Reime und die technische Umsetzung sind für eine 5-Jährige klasse!

Pia macht ein weiteres Buch

Eines Morgens wollte ich im Gruppenraum mit einem Zollstock ein Buchregal ausmessen. Während ich mit einer Kollegin sprach, kam Pia ganz aufgeregt und wollte mir etwas zeigen.
Ich sah, dass sie den Zollstock in Form eines „A“ geknickt hatte. Pia fragte begeistert: „Glaubst Du, dass ich alle Buchstaben mit dem Zollstock legen kann?“

Ich ermutigte sie, das zu versuchen. Doch bevor sie weitermachte, setzte sie sich an den Maltisch und erklärte: „Ich male sie mir vorher lieber noch mal auf.“ Das Blatt mit den Buchstaben legte sie neben sich und bog dann einen Buchstaben nach dem anderen zurecht, lehnte den Zollstock jeweils an die Tür und fotografierte ihn.

Damit war sie insgesamt zwei Stunden intensiv beschäftigt.

Als alle Buchstaben auf diese Weise erstellt waren, bot ich ihr an, die Fotos auszudrucken.

Die gedruckten Zollstock-Buchstaben schnitt Pia dann aus und legte sie zu Wörtern. Sie meinte: „Oh cool, jetzt kann ich damit schreiben!“

Ich darauf: „Mit den Wörtern kannst Du dann Geschichten schreiben. Was hältst Du davon, wenn Du Dir eine Geschichte ausdenkst und wir sie dann aufschreiben in einem Buch?“ Von der Idee war sie sehr angetan. Am nächsten Morgen kam sie sofort zu mir und fragte: „Frau Pütz, wir können jetzt das Buch machen. Ich habe mir eine Geschichte überlegt.“

Anmerkung der Kursleitung:
Das war eine gute Frage zur richtigen Zeit .. und deshalb bleibt sie auch dran.

Sie erzählte mir dann die Geschichte von dem Mädchen mit dem Wackelzahn – sie hatte erst vor ein paar Tagen ihren ersten Zahn verloren… Meinen Vorschlag, auch andere Kinder an der Herstellung des Buches zu beteiligen, lehnte sie ab:

„Nein, das Buch mache ich ganz allein mit Dir. Die anderen Kinder können zuschauen. Dann sehen sie, wie man ein Buch macht, und ich helfe ihnen später dabei, auch ein Buch zu machen.“

Anmerkung der Kursleitung:
Da ist sie erstaunlich klar und selbstbewusst. Und wie am Ende beschrieben, hält sie ihr Versprechen gegenüber den anderen Kindern ein!

Wir schauten uns die Bücher in unserer Gruppe an. Pia stellte fest, dass es unterschiedliche Arten von Büchern gibt. Auf meine Frage, wie denn ihr Buch aussehen sollte, sagte sie: „Auf jeden Fall will ich Bilder haben in meinem Buch.“ Sie wollte aber nicht malen sondern drucken.

Wir hatten ein paar Tage vorher auf Schmirgelpapier gemalt und dann damit gedruckt. Ich fragte Pia, ob sie auch ihre Bilder so herstellen wollte. Sie verneinte. Ich gab ihr ein Stück dünnes Styropor und einen Nagel, mit dem sie etwas darauf malen (= ritzen) könnte. Wir würden dann versuchen, damit zu drucken. Sie ritzte ihren Namen auf das Styropor und sagte: „Malen nur für das Buch. Jetzt ritze ich meinen Namen.“ Ich gab ihr Wasserfarbe, dickflüssige Fingerfarbe und Linoldruckfarbe sowie einen Pinsel, eine kleine Gummiwalze und eine Spiegelfliese.

Druckvorlage in Spiegelschrift

Sie probierte alles aus und stellte fest, dass ihr gedruckter Name nicht lesbar war. Ich stellte ihr die Spiegelfliese auf und ließ sie ihr Blatt davor halten: „Ah, das ist Spiegelschrift!“ Sie nahm sich ein neues Stück Styropor, schrieb ihren Namen in Spiegelschrift, druckte ihn und freute sich, dass er nun lesbar war. Bei der Auswahl der Farbe entschied sie sich für die Linoldruckfarbe, weil sie gesehen hatte, dass man mit den anderen Farben nicht so gut drucken konnte. Außerdem machte es ihr großen Spaß, die Farbe mit der Gummiwalze auf die Fliese aufzutragen. Das kannte sie noch nicht.

Wir überlegten, wie wir nun vorgehen sollten. Pia wollte zuerst die Bilder herstellen. Für ihre Geschichte kamen wir auf sechs Bilder. Die stellte sie dann weitgehend allein an einem Vormittag fertig. Ich konnte nur ein paar Mal kurzfristig bei ihr sein und sagte ihr, sie könnte mich holen, wenn sie mich brauchte – das war aber nicht der Fall. Sie wollte nicht frühstücken, nicht nach draußen und arbeitete intensiv mit roten Wangen an ihren Druckplatten, die sie dann stolz den anderen Kindern zeigte. Die wurden neugierig und Pia erklärte ihnen, was sie gemacht hatte. Am nächsten Tag gingen wir mit vier interessierten Kindern in den Nebenraum und Pia zeigte ihnen, was sie gelernt hatte.

Erst nach zwei weiteren Tagen konnten wir dann mit ihren Drucken loslegen, die sehr schön wurden. Auch das Schreiben ging ihr schnell von der Hand. Allerdings musste ich ihr wieder alles vorschreiben. Sie freute sich: „Das wird ein richtiges Buch und da sind keine Fehler drin. Ich hab noch nicht gelernt, wie man richtig schreibt.“
Am nächsten Tag wurden die getrockneten Druckbilder in das Buch eingeklebt und Pia präsentierte den Kindern freudestrahlend ihr Buch.

Die Kinder waren sehr angetan. Die vier von ihr angeleiteten Kinder wollten nun auch ein Buch herstellen. Daraufhin meinte Pia: “Weißt Du was, Frau Pütz, wir können ja nebenan eine Druckwerkstatt machen!“ Sie erklärte: „Wir brauchen ein paar Tische und dann nehmen wir die gebastelten Buchstaben, das Styropor und das Schmirgelpapier

und dann können wir verschiedene Arten zu drucken kennenlernen und ausprobieren und gemeinsam
ein Buch herstellen für die Gruppe…“

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Datum der Veröffentlichung: August 2021
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