von Claudia Flaig

 

Alena kam mit 2;6 Jahren in unsere Kita. Schon an ihrem ersten Kitatag schickte sie ihren Papa direkt nach Hause. (Der in der Nacht arbeitende Vater betreut sie tagsüber, während die Mutter tagsüber vollzeit arbeitet.)
Alena zeigte ein sehr gutes Sprachverhalten und war auffallend interessiert, hatte Betreuer und Kinder sowie deren Tätigkeiten umfassend im Blick. Da sie recht groß war, wirkte sie älter als zweieinhalb.

Von Anfang an fiel uns bei ihr eine gewisse Traurigkeit, ein In-sich-gekehrt-sein auf. Ein lautes, kindliches oder albernes Lachen etwa war bei ihr äußerst selten – und wenn es dann doch einmal dazu kam, machten wir uns gegenseitig erfreut darauf aufmerksam.
In ihrer ersten Kitawoche versuchte sie zweimal vom öffentlichen Spielplatz aus wegzulaufen. Darauf angesprochen, erzählten die Eltern, dass Alena regelmäßig versucht, „nach getaner Arbeit“ Spielplätze schnellstmöglich und gerne allein zu verlassen.

(Anmerkung der Kursleitung:
Ein starker Drang zur Selbstständigkeit ist hier schon erkennbar!)

…kurz gefasst…

Diese Erstbeobachtung bindet neben einigen situativen Beobachtungen auch mehrere Fragebögen ein. Zwei der Fragebögen werden im Dialog zwischen Kind und Erzieherin ausgefüllt. Dabei zeigt sich, dass die Vierjährige damit schon sehr gut umgehen kann.
Die Ergebnisse werden in einem Elterngespräch durchgesprochen.

In ihrem jungen Alter zeigte Alena schon ein ausgeprägtes Sozialverhalten und einen hohen Gerechtigkeitssinn. Das Gruppengeschehen immer im Überblick, schlichtete sie Streit, hob das Spielzeug der Babies auf (zu dieser Zeit arbeiteten wir mit zwei Erzieherinnen und einer Kinderpflegerin in einer altersgemischten Gruppen mit 12 Kindern von 0;8 bis 5 Jahren). Sie half Kindern beim Anziehen, stand jedem Betreuer zur Seite.

Später dann, nach dem 3. Geburtstag, vertiefte sich das positive Sozialverhalten weiter: Alena kommentierte nun das gesamte Gruppengeschehen und steht seitdem in ständigem Kontakt zu uns Erziehern, was uns leider immer wieder nervt. Wir akzeptieren ihr hohes Mitteilungsbedürfnis, zeigen uns aber zugegebenermaßen manchmal auch ungeduldig. Das kommentiert sie wortlos mit dem typischen „Alena-Blick“, der uns sagen soll: „Ich denke, Du hast uns diese Regel erklärt. Sie wird hier verletzt, ich berichte davon und Du weist mich ab?!“

Bei Beschäftigungsangeboten jeder Art fühlt sich Alena stets angesprochen. Sie möchte zu gerne immer mitmachen und ist dann aufmerksam und konzentriert bei der Sache, ruhig, oftmals in sich gekehrt. Dabei scheint ihre Aufmerksamkeit unermüdlich. Bei ihrer schnellen Auffassungsgabe ist das Umsetzen von Aufgaben gar kein Problem.

Schon diese allgemeinen Beobachtungen aus Alenas erstem Kitajahr, haben bei mir zu dem Gedanken geführt, dass sie möglicherweise ein weit überdurchschnittlich begabtes Kind sein könnte.

Alena begeistert mit vielen Spielideen

Kurz nach ihrem 4. Geburtstag (mit 4;1 Jahren) beginnt eine intensivere Beobachtung bei den acht älteren Kindern der Gruppe, wobei Alena rasch eine führende Rolle übernimmt.

Meine Kollegin Kathrin leitet in der Turnhalle die Beschäftigung mit einer Menge großer Eierkartons („Bretter“ für jeweils 30 Eier) – ich beobachte dabei Alena gezielt und mache vor allem über sie Notizen.
Was soll nun mit dem ungewöhnlichen Spielmaterial geschehen?

Alena hat sofort viele Ideen, die sie laut und deutlich verkündet, wonach die anderen Kinder aktiv mitmachen:
– Schlittschuh laufen,
– Elefantenohren,
– Kartons zunächst in Bauch- und dann in Rückenlage auf den Füßen balancieren,
– Kartons zwischen die Beine klemmen und
– im Partnerspiel die Kartons zwischen Popos und Rücken klemmen.

Dann leitet meine Kollegin einen Stopptanz an: Wenn die Musik stoppt, sucht sich jedes Kind einen Karton und setzt sich darauf. Alena entwickelt eine neue Spielidee: „Guck mal Kathi, ich baue mir ein Bett“ und sie nimmt einen Karton für den Kopf und einen für die Füße. Alle Kinder bauen es ihr nach. „Wir können auch eine Straße machen, Kathi.“ Alle Kinder helfen ihr sofort. Alena genießt ihre Rolle sehr und sagt manches Mal, wohin die Kartons gelegt werden sollen.

Zum Abschluss wird noch „Feuer, Wasser, Erde“ und „Möhren ziehen“ gespielt, Beides sehr beliebt. Auch Alena macht mit großer Freude mit. „Wann gehen wir wieder turnen, Kathi?“ fragt sie beim Anziehen.

(Anmerkung der Kursleitung:
Könnte Alena ein Turnangebot für vier Dreijährige organisieren und durchführen? Traust Du ihr das zu?)
Die Autorin nahm diese Anregung auf: siehe: Alena leitet eine Turngruppe.

Sprachtest Delfin

Der Delfin-Test zur „Diagnostik, Elternarbeit und Förderung der Sprachkompetenz Vierjähriger“ war damals in Nordrhein-Westfalen vorgeschrieben und ich nahm an einer Schulung dazu teil.

Meine Meinung dazu:
Die Testsituation überfordert die meisten Kinder und lässt ein realistisches Testergebnis bei gehemmten Kindern nicht zu. Gerade diese Problematik veranlasst mich, diesen Test als Beobachtung zu dokumentieren.
(Anmerkung der Handbuch-Redaktion: Der Sprachtest war unter Fachleuten stark umstritten und wurde 2015 in NRW wieder abgeschafft.)

Bei unserem Test nahmen vier Kinder teil, darunter Alena mit 4;1. Die anderen sind: Mariana (4;4), Frederik (4;1) und Amar (3;10). Da Alena ein auffallend gutes Sprachverhalten hat, wird sie von mir als erster Spieler (Delfin)  eingesetzt. Sie liebt unbekannte Herausforderungen, und so hoffe ich, dass die anderen Kinder durch sie motiviert werden, leichter einzusteigen.

Während des Tests sitzt eine den Kindern unbekannte Lehrerin am Nebentisch. Nachdem sie keine Anstalten macht sich vorzustellen, geschweige denn zu lächeln, stelle ich sie den Kindern vor. Am Vortag habe ich das Spiel mit nicht an dem Test teilnehmenden Kindern im Büro gespielt. Seitdem hat mich Alena fünfmal gefragt, wann sie denn nun endlich das neue Spiel spielen dürfe. Sie ist nun absolut in freudiger Erwartung, sie strahlt mit großen Augen und knabbert an den Fingernägeln.

Die ersten fünf Aufgaben (mit einer Spielfigur bestimmte Bildinhalte markieren) werden von Alena schnell und korrekt erledigt. Gespannt nimmt sie am Geschehen der anderen Kinder teil, die andere Aufgaben bekommen. Für mich überraschend mischt sie sich aber nicht ein und redet nicht einmal für andere Kinder.

Die nächste Aufgabe ist das Nachsprechen bedeutungsloser Kunstwörter, was Alena fehlerfrei gelingt. Gleichermaßen ohne Fehler spricht sie sinnvolle und „Quatsch-Sätze“ (so wörtlich im Test-Text!) nach und ist dabei konzentriert und voller Elan.
Bei der nachfolgenden Aufforderung, zu erzählen, was alles auf einem Zoo-Bild zu sehen ist, spricht Alena flüssig, mit dem Höhepunkt beginnend, in komplexen Satzstellungen über alle abgebildeten Begebenheiten. Auf die abschließende Frage nach ihren Lieblingstieren („Affen, weil die nämlich so lustig sind…“) ist sie kaum zu bremsen. Die Lehrerin gibt mir ein Zeichen, dass es reicht, da sie mit ihren Notizen nicht nachkommt.

Die anderen drei Kinder kommen mit den Testbedingungen nur schwer zurecht, wie es zu erwarten war. Mariana verweigert ein Großteil der Aufgaben, vermutlich weil sie die künstliche Situation sehr befremdlich findet: eine fremde Lehrerin, die vertraute Erzieherin, die – gemäß den detaillierten Verhaltens-Vorgaben – jede Aufgabe nur einmal erklärt, keine aufmunternde Motivation bietet und ohne Erklärung im Stoff weitergeht.
Amar, ein Junge mit Migrationshintergrund, hat erwartbar die allergrößten Probleme und Frederik „besteht“ zwar den Test, ist aber wegen seiner Vorerfahrungen aus logopädischer Betreuung sehr aufgeregt.

Ein Arbeitsblatt bringt Phantasie zum Blühen

Kurz darauf beschäftigen sich Alena (jetzt 4;2) und zwei andere Mädchen (Jenni, 5 Jahre, und Mariana, 4 Jahre alt) in meiner Anwesenheit mit einem Arbeitsblatt: darauf sind als Strichzeichnung zwei Häuserreihen zu sehen, die meisten Dächer sind nur gepunktet skizziert und zumeist fehlen auch die Schornsteine. Zunächst erkläre ich nichts.
Alena sagt sofort: „Das Dach hier (sie zeigt auf das erste Haus) hat einen Schornstein, die anderen nicht.“ Und sie malt in der unteren Häuserreihe die Schornsteine.

Nun gebe ich die Anweisung, dass die Kinder bei den Häusern, die noch keine Dächer haben (die nur mit Punkten markiert sind), diese bitte dazu malen sollen. Alena fängt in der unteren Reihe an auszumalen. Dann malt sie einige Dächer nach. „Wie schreiben ist das, oder?“, sagt sie. „Hier habe ich daneben gemalt“, zeigt sie auf die Stelle.
„Jetzt könnt ihr die Schornsteine malen“, sage ich zu den Kindern und Alena malt sie nun auch in der oberen Häuserreihe dazu und bewertet ihr Ergebnis: „Es ist mir hier ein bisschen daneben gegangen. Ich male hier (sie deutet auf das letzte Haus der oberen Reihe) ein Fenster rein, dann kann man da auch raus gucken. Da sind Gardinen dran, die werden immer zugemacht.“

Dann sagt sie zu mir: „Claudi, das Haus wollen die Leute nicht angemalt haben.“ – „Warum nicht?“ – „Die Leute sagen: Nein, das wollen wir nicht; das finden wir hässlich. Die wollen ein weißes Haus. Das Blatt kommt in die Schulmappe, oder? Darf ich eine Sonne malen? Der Stift ist kaputt gegangen, den kann man aber neu anspitzen.“

Jenni sagt, sie werde einen Mond malen; der sei blau. Darauf Alena: „Der Mond ist aber gelb!“- Jenni: „Ich male einen runden Mond.“ – Alena: „Das ist dann ein Vollmond. Dann musst Du alles ausmalen.“

Immer wieder kratzt sich Alena am Kopf: Sie schreibt „MAPA“ und „APA“. Sie zeigt auf das A. Der Querstrich ragt über die Seitenlinien hinaus. „Das ist ein bisschen falsch, oder?“ Ich beruhige sie, dass jeder, der lesen kann, diesen Buchstaben erkennt. „Ich bin fertig, Claudi. Darf ich das Blatt in die Mappe tun?“ Strahlend locht sie das Blatt und heftet es ein.

Beobachtungen beim Freispiel auf dem Spielplatz

Wir wollen zu einem öffentlichen Spielplatz. Die Gruppe zieht sich in der Garderobe Schuhe und Jacken an. Lina (2 Jahre alt) geht mit dem Puppen-Buggy unerlaubterweise zurück in den Gruppenraum. Alena (immer noch 4;2) zieht sich gerade am anderen Ende des Flurs ihre Jacke an. Sie läuft hinter der Zweijährigen her und ruft: „Lina, Lina, komm her! Ich ziehe Dich an. Wir gehen zum Spielplatz. Du darfst nicht zurück in die Gruppe, und der Buggy muss hier bleiben.“

Auf dem Spielplatz erklimmt Alena sofort das Klettergerüst: „Claudi, Claudi, guck mal!“ Eine Frau geht am Rande des Spielplatzes mit einem Kinderwagen vorbei. Alena läuft zu ihr und ruft: „Frau Meister, wohin gehst Du?“ – „Nach Hause.“
Alena hüpft in den Sandkasten. „Claudi, guck mal, der Sand ist weich. Ich habe Stöcke gesammelt. Und eine Freundin von meiner Mutter ist hier gerade vorbei gegangen.“

Alena spielt weiter im Sand, zehn Meter entfernt weint der zweijährige Justus. Alena hält inne und guckt. „Der hat sich nur gezankt. Er hat sich nicht weh getan. Das muss er ja lernen.“

Alena geht zu Jenni und ruft mir zu: „Claudi, wir haben hier einen Stift. Jenni malt damit.“
Sie zeigt auf dünne von Jenni gesammelte Stöcke.
Dann fragt sie: „Claudi, wo ist Frederik eigentlich?“ Ich antworte, dass er bei der Logopädin ist. Alena: „Warum?“ – „Er übt dort sprechen.“ – Darauf Alena sofort: „Ich kann sprechen.“

(Anmerkung der Kursleitung:
Dieses gute Selbstbewusstsein muss erhalten bleiben.)

Alena nimmt einen dicken Stock und bohrt damit kreisrund im Sand: „Steuer, Steuer, Steuer.“ (Steuerknüppel) Dann fällt ihr auf: „Ich muss mir mal den Sand aus dem Schuh raus holen. Aber das mache ich erst, wenn wir gehen.“

Jenni hat unterdessen einen quaderförmigen Holzblock mit weichem, trockenen Sand berieselt und malt nun mit einem Stock als Stift darauf. Alena: „Das geht ja nicht. Da kann man nicht richtig drauf schreiben.“ Sie schaut den Holzklotz sehr interessiert an. „Komm, wir machen Kuchen!“ Sie baut einen Berg und steckt Stöcke in den Sandkuchen. Alena lacht: „Guck mal, Claudi. Das sind Kerzen. Ich hole noch Blumen.“ Jenni und Alena halten die ganze Zeit wortlosen Blickkontakt. Alena holt Gänseblümchen von der Wiese und hält sie Jenni wortlos hin. Jenni, die sonst auch sehr viel redet, reicht ihr wortlos den begehrten Holzblock. Sehr sozial, wie ich finde. Alena strahlt, spielt einen Moment mit dem Klotz, dann geht sie zurück zum Klettergerüst.

Zwischenbilanz der Beobachtungen

Während dieser intensiven Beobachtungen kam tief vergrabenes Wissen aus der Ausbildungszeit im Fach Psychologie wieder an meine geistige Oberfläche.
Obwohl die Beobachtungen eigentlich keine neuen Erkenntnisse über Alena brachten, hat es mich doch sehr erstaunt, wie konkret die bis dahin nur angenommenen Thesen (über frühe Hochbegabung) bewiesen werden können.
Das merkte ich vor allem dann, wenn ich mit meinen Kolleginnen über die Beschäftigungen mit Alena sprach. Sehr positiv finde ich, dass dadurch Hochbegabung in unserer Gruppe und in der ganzen Kita ein Thema geworden ist und die Kolleginnen dafür sensibilisiert wurden. Ich nehme mir auf jeden Fall vor, Alena immer wieder anspruchsvolle und auch lang dauernde Beschäftigungen anzubieten und ihren Umgang damit zu protokollieren.

Erkenntnisgewinne durch Fragebögen

Um die bereits gewonnenen Erkenntnisse über Alena weiter zu vertiefen, bin ich gemeinsam mit Alena (im Alter zwischen 4;2 und 4;7 Jahren) verschiedene Fragebögen durchgegangen oder habe entsprechend formalisierte Interviews geführt. Dies sind im einzelnen:
– der Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter
– der IHVO-Fragebogen zur Selbsteinschätzung des Kindes, wie es die Kommunikation in der Kitagruppe erlebt,
– der Interessen-Fragebogen für den Kindergarten.

Zur Vorbereitung auf ein auswertendes Gespräch haben Alenas Eltern zudem den
– IHVO-Elternfragebogen für 4- bis 6-jährige Kinder im Kindergarten ausgefüllt.

Noch eine wichtige Vorbemerkung.
In der Zeit dieser Erhebung findet in der Kita eine großangelegte Umstrukturierung statt, die bei den Erzieherinnen und den Kindern sowie bei den Eltern zu großer Unruhe führt:
– das Konzept der altersgemischten Gruppe wird teilweise aufgegeben,
– mit zahlreichen Kindern einer geschlossenen Einrichtung wird eine neue Gruppe gebildet,
– die Leitung der Gesamteinrichtung wechselt.
In Alenas Gruppe ändert sich allerdings wenig, sodass auch die Kontinuität der Beobachtungen gewahrt werden kann.

Die Auswertung des IHVO-Kommunikations-Fragebogens ergibt, dass Alenas Selbsteinschätzungen in etwa mit meinen Erkenntnissen übereinstimmen.

Alena benennt erwartungsgemäß Jenni als besonders beliebte Spielpartnerin und sieht sich in einem guten Kontakt zu den Jüngeren in der Gruppe. Alena hört aber auch Mariana gerne zu, die ein cleveres, fantasievolles Kind und sicherlich eine interessante Spielpartnerin ist.
Obwohl Alena viele gute Spielideen einfallen, hat sie das Gefühl, diese nicht immer in die Gruppe einbringen zu können. Das könnte an ihrer bestimmenden Art liegen.
Antipathien benennt sie zu zwei Jungen, Amar und Jeremy. Dennoch hat sie Amar in ihre Turngruppe gewählt, „damit er manches besser lernt“, wie Alena sagt. Hier wird ihr starkes Sozialverhalten sichtbar. Über einen anderen Jungen, Frederik, hebt sie positiv hervor, dass man von ihm etwas über Fußball erfahren kann.

Den Interessenfragebogen beantwortet Alena interessiert und zügig. Am längsten (6 Sekunden!) überlegt sie bei der Frage, was ihr am Kindergarten nicht gefällt, und dann kommt dies: „Die großen Kinder passen nicht gut auf die Babies auf, weil den Babies was passieren kann.“

Wie schon in dem IHVO-Fragebogen, benennt sie erneut Jenni und Mariana als liebste Spielpartner, zusätzlich nennt sie – sogar an erster Stelle – Frederik.
Auf die Frage, was sie „gern noch ein bisschen besser können“ würde, betont Alena: „Ich möchte gerne können, dass ich schreiben kann.“

Auf eine weitere Frage, was sie gerne lernen möchte, antwortet Alena: „Flugzeug selber fahren, ein Riesenrad selber drehen.“ Auf meine Rückfrage zum Riesenrad erklärt sie, dass sie lernen möchte, die Technik in Gang zu setzen und zu verstehen, was dort passiert.

Als schwierig (aber wohl durchaus positiv) empfindet sie für sich, „wenn ich mir Sachen alleine angucken muss – zum Beispiel neue Spiele, die ich den Kindern dann erkläre.“
Und was nervt sie häufig? „Wenn die Kinder nicht auf mich hören, zum Beispiel wenn ich ihnen sage, dass sie leise sein müssen. Die müssen das lernen, aber die verstehen das nicht. Die Kinder nehmen auch oft etwas weg, was anderen gehört – und dann nehmen sie das mit nach Hause oder zur Oma.“
Diese Befürchtung hegt sie auch für ihr Lieblingsspielzeug, einen Stoff-Affen: „Er liegt auf dem Puppenschrank. Ich habe Angst ihn hier zu verlieren. Er ist so schön.“

Nach ihrem Lieblingsbuch befragt, nennt sie: „Cinderella. Meine Mutter liest mir das gerne vor – mein Papa nicht, weil das nur für Frauen ist.“
Eine komplexe Antwort gibt Alena auf diese Frage: „Du triffst eine alte Frau, die alles über die Welt und das Leben weiß. Was würdest Du sie fragen? Was auch noch?“ –
„Ich würde nichts fragen, weil meine Mama sagt, dass fremde Frauen Hunde klauen. – Ich würde sie fragen, wie man ein Auto steuert oder eine Rakete.“

Erstaunt hat mich, dass sie zwei Antworten mit dem Satz abschließt: „Und fertig!“ Offenbar ist Alena damit zu keinen weiteren Aussagen bereit.

Nachdem sie zunächst „Malen“ als eine Lieblingsbeschäftigung angibt, erläutert sie später auf die Frage, worauf sie „richtig stolz“ sei, unvermittelt: „Ich male nur noch Krickelkrakel, weil: wenn ich schön male und da geht was daneben, dann ärgere ich mich. Weil ich dann nicht das male, was ich will. Ich kann es dann nicht.“
Das zeigt mir die hohen Anforderungen Alenas an sich selbst. Unbedingt ist nun darauf zu achten, Überforderung zu vermeiden. Wir müssen Alena lernen lassen, ihre Ideen in feinmotorischer Gestaltung geduldig umzusetzen und auch Nicht-Perfektes zuzulassen.

(Siehe auch den Beitrag: Zeichenkurs mit Linda)

Ihre soziale Verantwortung geht ihr über das eigene Interesse, einen Hubschrauber selber zu fliegen. Das zeigt ihre Antwort auf die Frage nach einem möglichen Berufswunsch. O-Ton Alena: „Notärztin – Krankenwagen und Hubschrauber fahren, um Menschen zu retten.“

Auf einer abschließenden Liste von insgesamt 17 Angeboten (von Theaterspielen über Lesen, Computer, Schreiben und Rechnen bis zum Lösen von Rätseln) kreuzt Alena ohne zu zögern alles als besonders interessant an – das zeigt sich auch im Kindergartenalltag.

(Anmerkung der Kursleitung:
Erstaunlich, dass sie alles gerne macht. Solche Blätter bekommen wir selten zu sehen.)

Die vielfältigen Interessen und Fähigkeiten Alenas, die oft erst in höherem Alter erwartet werden, spiegeln sich auch im Gelsenkirchener Entwicklungsbogen, den ich mit ihr im Alter von 4;6 durchgegangen bin. Hier konnte ich für sie 26 von 28 Items der Altersgruppe 5 bis 5;6 ankreuzen. Im Altersbereich „5;6 bis Einschulung“ erreicht die Viereinhalbjährige immerhin 40 von 54 Anforderungen, davon jeweils sämtliche in den Sachbereichen „Sprache“, „Kognitive Entwicklung“ und „Soziale Kompetenz“. Lediglich in den Bereichen „Feinmotorik“ und „Grobmotorik“ erreicht sie „nur“ das Niveau der Altersgruppe 5 bis 5;6 Jahre.

Das Elterngespräch

Aus Termingründen schaffen wir es erst beim dritten Anlauf, das Elterngespräch über unsere gesammelten Beobachtungen zu führen. Alena ist inzwischen 4;7 Jahre alt.

Bei meinem Eintreffen zeigen sich die Eltern verlegen, da sie noch mit dem Ausfüllen des Elternfragebogens beschäftigt sind. Ich zeige Verständnis und sage, dass es kein Problem sei, manche Fragen nicht zu beantworten – wir können ja nun in Ruhe darüber sprechen. Sie sind erleichtert und ich schlage vor, mit dem Gespräch über den (Gelsenkirchener) Entwicklungsbogen zu beginnen. Damit möchte ich ihnen Selbstsicherheit geben, denn darüber haben wir bereits vor einem halben Jahr geführt – über unsere damaligen Erkenntnisse.

Der Entwicklungsbogen zeigt nur noch einige wenige Anforderungen, die einzuschulende Kinder erfüllen sollen – wobei Alena ja noch viel jünger ist. Die noch zu erwerbenden Fähigkeiten finden sich für Alena ausschließlich im fein- und grobmotorischen Bereich, was ich altersentsprechend finde.

Vorzeitige Einschulung?

Nach Alenas bisheriger Entwicklung gehe ich davon aus, dass sie bis zum fünften Geburtstag alle Anforderungen erfüllen wird. Damit kann Alena für das kommende Schuljahr als schulreif bezeichnet werden. Sofort sagen die Eltern, dass sie sich seit einigen Wochen mit diesem Gedanken beschäftigen. Die Grundschule liegt ihrem Haus gegenüber. Alena sieht jeden Morgen sehnsüchtig aus dem Fenster und sagt, dass sie jetzt gerne in die Schule gehen möchte.

Alenas Interesse an Zahlen, an Buchstaben, an Fragen aus Natur- und Sachgebieten und ihre Suche nach älteren Kindern haben uns im Verlauf des Gesprächs dazu gebracht, dass Alena für das nächste Jahr in der Grundschule angemeldet werden soll (dann ist sie 5;5). Im Kindergarten wollen wir sie deshalb nun am Vorschulprogramm „Schlaufüchse“ teilnehmen lassen.

Die Entscheidung, sie vorzeitig einschulen zu lassen, wird jedoch erst vor den Sommerferien, nach Probeunterricht in der Grundschule in Zusammenarbeit mit Alena gefällt. Sollte sie dann nicht mehr vorzeitig in die Schule wollen, würde die Entscheidung natürlich gegen die Einschulung fallen.

Nun sehen wir uns den Kommunikations-Fragebogen an. Unser gemeinsames Fazit: Alena orientiert sich an Jenni und Mariana, den ältesten Kindern der Gruppe. Zugleich übernimmt sie gerne die Verantwortung für jüngere Kinder und kann leider nur von den Erwachsenen etwas lernen.

Schlussfolgerungen aus dem Interessenfragebogen

Das Gespräch mit den Eltern über den Interessen-Fragebogen für den Kindergarten bringt eine Reihe neuer Einsichten.
Positiv überrascht sind die Eltern von Alenas Wortwahl. Erstaunt sind sie über Alenas Bericht von ihrem Spielzeug-Affen, der immer auf dem Puppenschrank liegt. Sie kennen ihn zwar, wissen aber bisher nicht, wie gut behütet und beobachtet er dort liegt.

Alenas Schilderung, dass der Vater sich weigert, Cinderella vorzulesen, bringt uns alle zum Lachen. Der Vater bestätigt, dass er sich weigere, die Geschichte vorzulesen – er hasse sie.

Warnung vor Perfektionismus

Zu Alenas Erklärung, dass sie nur noch „Krickelkrakel“ macht, weil sie (vermeintlich) nicht gut genug malen könne, sagt die Mutter, sie selbst sei sehr perfektionistisch und verlange das auch von Alena. Sie male sogar Alenas Mandalas nach!
Glücklicherweise zeigt sie sich darüber selbst befangen. So fällt es mir leicht, sie davon zu überzeugen, dass diese Verhaltensweise sehr viel Schaden anrichten kann. Ich schlage ihr vor, Alena demnächst beim Malen offen zu sagen, dass sie für ihr Alter echt toll malen und ausmalen kann. Auch Eltern können Fehler eingestehen. Und Kinder dürfen nicht unterschätzt werden, als könnten sie Verhaltenskorrekturen der Eltern nicht verstehen.

Beide Eltern sagen von sich aus, sie sähen jetzt auch, dass sie Alena viel zu selten loben. Darin könne auch die Ursache für Alenas oft hektische und unkonzentrierte Arbeitsweise liegen. Sie wollen ihr von nun an mehr Mut geben, Fehler zu machen. Wie könnte das besser gehen, als wenn sie dies Alena vorleben.

Die Eltern bestätigen viele Erkenntnisse aus der Kita

Beim gemeinsamen Durchsehen des mittlerweile zum Teil ausgefüllten Elternfragebogens zeigen sich in allen Bereichen Übereinstimmungen mit den von uns erhobenen Fragebögen.

Die Eltern bestätigen unsere Beobachtungen über Alenas besonders ausgeprägte Selbstständigkeit und ihren großen Wortschatz. Auch sie beobachten, dass Alena am liebsten mit deutlich älteren Kindern spielt, sich lange (“ca. 1 Stunde“) auf Beschäftigungen wie Malen und Bücher anschauen konzentrieren kann. Ebenfalls sehen sie ihr Interesse für Zahlen und Buchstaben, am Lesen- und Schreiben-Lernen. Sie wissen auch, dass Alena „am liebsten jetzt schon die Schule gehen möchte“.

Insbesondere heben auch die Eltern die Stärke Alenas im Umgang mit anderen Menschen hervor. Als Stärken ihrer Tochter nennen sie „verständnisvoll, einfühlsam“. Dazu berichte ich den Eltern ausführlich über Alenas Turngruppe.

In diesem Zusammenhang sprechen wir erneut über Alenas Selbstvertrauen. Bei Dingen, die sie beherrscht, hat sie natürlicherweise Selbstvertrauen. Sie zeigt sich auch stets aufgeschlossen, Neues zu lernen. Klappt das jedoch nicht auf Anhieb, wird sie nervös und verliert ihr Selbstvertrauen.

Die Frage, ob Alena sich ein Kita-Kind als Freund/in wünscht, lassen die Eltern im Fragebogen offen. Sie sagen, dass sie schon länger überlegen, wer da in Frage kommen würde. Sie haben den Eindruck, dass Alena eine/n Freund/in sucht, denn sie habe sich zuhause beschwert, dass sie die großen Kinder aus der neu hinzu gekommenen Gruppe immer noch nicht kenne. Hier sehen wir eine Schwachstelle unserer Arbeit: Alle Kinder dürfen jederzeit nach Absprache in die andere Gruppe gehen, sie tun es aber nicht, Hier müssen wir dringend aufarbeiten.

(Anmerkung der Kursleitung:
Gut, dass diese selbstkritische Einschätzung schon wenige Wochen nach der oben erwähnten Umstrukturierung der Kita erfolgte – mit Alenas Unterstützung!)

Auf die Fragebogen-Frage „Worüber lacht ihr Kind gern?“ wissen die Eltern keine Antwort, was sie betroffen macht. Wir finden aber schnell heraus, dass Alena eher der Typ ist, der lächelt. Ich versuche den Eltern zu erklären, dass nicht jeder Mensch, der nicht laut und herzhaft lacht, gleich ein unglücklicher Mensch ist. Alena ist ernsthaft, aber nicht unglücklich, wenn auch ein wenig melancholisch.

Ich frage dann, wie sich Alena momentan zuhause im allgemeinen verhält, denn mir kommt sie derzeit ein wenig gestresst vor. Die Eltern sind vom Umzug, Renovieren und der Eröffnung ihres Cafés in der Tat ziemlich fertig. Alena bemuttert ihre Eltern, sie schätzt die Situation anscheinend völlig richtig ein. Sie schickt ihre Eltern auf die Couch zum Ausruhen, macht ihnen Salat und räumt auf – zum Glück alles nicht perfekt…

(Anmerkung der Kursleitung:
Ein kluges, liebes Kind – das aber dringend etwas begeisterndes Eigenes braucht!)

Wir sind uns einig, dass Alena dringend eigene Bedürfnisse finden sollte, um dann ihren Interessengebieten nachgehen zu können. Ich frage nach eventuellen musikalischen Interessen – und siehe da: Alena will schon lange Geige lernen – wahrscheinlich meint sie jedoch Cello. Die Mutter will sich in der Musikschule nach entsprechenden Möglichkeiten erkundigen. Außerdem weise ich auf die Aktivitäten eines örtlichen Vereins für Eltern hoch begabter Kinder und auf die Internetadresse des IHVO hin.

Zum Abschluss des fast dreistündigen Gesprächs einigen wir uns auf ein Gesprächsprotokoll und ich gebe den Eltern noch Informationsmaterial über Hochbegabung und vorzeitige Einschulung mit.

 

Sie können Alenas Förderung, soweit sie in den Handbuch-Beiträgen dokumentiert ist, chronologisch über knapp zwei Jahre weiter verfolgen:

Alena (4;6) leitet eine kleine Turngruppe

Die tote Mutter von Pompeji und Buntstifte für Südafrika

Elektrogeräte demontieren

Alena (5) lernt Buchstaben – wann soll sie in die Schule?

Alena (5;2) lernt das Schattenspiel kennen

Alena und eine Kerngruppe werden Experten der Lernwerkstatt

 

Datum der Veröffentlichung: April 2018
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum