von Elke Keuler

 

Kevin ist zwar nicht in meiner Gruppe, aber er wurde auf unser Anraten getestet, was seine vermutete Hochbegabung bestätigt hat. Es interessiert mich als Leiterin, ihn jetzt noch einmal in verschiedenen Situationen gezielt zu beobachten, um mich auch mit dem Team besser beraten zu können.
Ich habe vorher den Fragebogen von Joelle Huser durchgearbeitet und achte besonders auf die darin aufgeführten Merkmale.

Beobachtung 1

Ich bitte Kevin zu mir in die Gruppe, mit der Begründung, dass ich etwas mit ihm spielen möchte.
Grundsätzlich geht er mit Situationen, in denen nicht direkt klar ist, was ihn erwartet, etwas vorsichtig um. Wir arbeiten teil-offen, aber er hält sich eher selten in unserer Gruppe auf.
Aber er kommt, sein Gang ist eher zögerlich und „in den Augen sieht man Fragezeichen stehen“.

Als ich ihm sage, dass wir etwas mit Zahlen machen wollen,
lacht er und holt sich einen Spielteppich. Zahlen und der Umgang mit ihnen machen ihm schon seit längerem Spaß, vermitteln ihm offenbar ein Gefühl von Sicherheit und entsprechen seiner Vorliebe für ordnende Tätigkeiten.

Gemeinsam holen wir das Goldene Perlenmaterial (Montessori-Material zur Einführung in das Dezimalsystem). Direkt auf den ersten Blick erfasst er die Einer, Zehner, Hunderter und Tausender. Meine Frage, ob er das Spiel schon mal gespielt habe, verneint er und sagt: „Ich weiß das eben, ich sehe das.“ Das spricht für eine rasche Auffassungsgabe.

Wir holen dann den Kartensatz dazu und er legt ihn aus, entsprechend meiner Vorgabe, die Karten offen und untereinander zu legen.
Zuerst legt er die Karten von Eins bis Neun untereinander und sagt dann: „Ich weiß, wohin die Zehn gehört“, und legt sie links neben die Eins. Ohne mein Zutun hat er sich selbst schon eine Ordnung geschaffen und die Zusammenhänge erfasst.

Auch die anderen Zehnerzahlen 20, 30, … benennt er und legt sie neben die entsprechende Einerzahl. Ebenso verfährt er mit den Hundertern und Tausendern. Während er die Karten auslegt, wird er sichtlich motorisch aktiver, seine innere Beteiligung ist an seiner Mimik zu erkennen. Das Auslegen der Karten, die immer größer werden, macht ihm Spaß.

Anschließend kombinieren wir den Kartensatz mit dem Goldenen Perlenmaterial, das heißt, neben jede Zahl kommt die entsprechende Menge.

Als er bei den Hundertern ankommt – neben die 100 kommt eine Hunderterplatte, neben die 200 zwei Hunderterplatten – entsteht eine Treppe. Kevin meint: „Das sieht aus wie die Treppe am „Bonner Loch“, da sind die Stufen auch so breit.“ Er überträgt also das Bild, das er im Augenblick sieht, auf eine ganz andere Situation.

Seine Stimmung verändert sich, er wirkt fast traurig, als er bei der 9000 ankommt. Er fragt: „Und wie geht es nun weiter?“ Hier zeigt sich seine Vorliebe für komplexe, schwierige Aufgaben, aber auch seine Neugier – und was gibt es dann noch?

Da der Kartensatz und das Perlenmaterial nur bis 9000 bzw. bis 9999 reichen, schlage ich ihm vor, „Bank“ zu spielen. Das geht so: Eine Auswahl von Karten stellt eine große Zahl dar, die dann mit Hilfe des Kartensatzes als Menge nachgebaut wird.
Nun lege ich mit den Karten die Zahl 5555 und zeige ihm, wie er mit dem  Perlenmaterial die Menge darstellen kann – also 5 Tausender, 5 Hunderter, … und frage ihn, wie die Zahl bzw. die Menge nun heißt.

Dann legt er mir mit dem Kartensatz die Zahl 3724 hin, also untereinander die Karten mit der 3000, der 700, der 20 und der 4.
Gemeinsam überlegen wir nun, welche Perlenkarten wir benötigen, um die Menge 3724 darzustellen.

Sehr schnell erfasst er dann auch, wie die Zahl heißt. Während er sich die benötigten Perlenkarten zusammensucht, hüpft er um den Teppich herum.

Wir spielen noch eine ganze Weile weiter und es macht ihm ungeheuren Spaß, immer höhere Zahlen zu legen und in die entsprechenden Mengen umzusetzen. Hier zeigen sich sein großes Interesse an Zahlen und an höheren Anforderungen, aber auch eine große Eigenmotivation und eine lange Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdauer.

Leider ist dann bei 9999 Schluss, was ihm gar nicht gefällt. Er fragt wieder: „Wie geht es dann jetzt weiter?“ Ich beantworte seine Frage und verspreche ihm, dass wir bei unserem nächsten Treffen den Kartensatz auf die Zehntausender zu erweitern.

Tatsächlich schreiben wir dann gemeinsam die Zahlen 10000, 20000,…, 90000 auf einzelne Karten.

Auswertung:
Zunächst war es wichtig, ihm direkt zu sagen, was ihn erwartet, wenn man sich mit ihm beschäftigen will. Andernfalls läuft man Gefahr, dass er nicht mitmacht. Weiterhin ist es ratsam, immer noch was „in der Hinterhand“ zu haben, das man ihm anbieten kann, denn er sucht nach größeren Herausforderungen.
Sehr schön fand ich seine große emotionale Beteiligung. Spannend ist, wo er zurzeit seine persönliche Grenze setzt, ob er mit den Zehntausendern dann zufrieden ist oder ob er noch mehr will.

Beobachtung 2

Kevin kommt strahlend in den Kindergarten und grüßt in die Runde: „Guten Morgen!“ Während er am Frühstückstisch sitzt und isst, schaut er sich nach allen Seiten um, ist ständig in Beobachtung.
Erin sagt: „Das Handtuch ist nass.“ Kevin meint dazu: „Das kommt durch die ganze Nassigkeit vom Frühstück.“ Es ist eine Eigenart von Kevin, dass er immer wieder eigene Wörter erfindet.

Als er sein Geschirr spült, beobachtet er die anderen Kinder im Raum. Er beugt sich zu dem kleineren Hannes hinunter und sagt zu ihm: „Heute dürfen nur Jungs auf den (begehrten) Bauteppich.“
Auf meine Frage, wer denn heute darf, liest er die Namen mühelos von der Liste ab. Er liest schon seit einem halben Jahr. Er entdeckt seinen eigenen Namen und freut sich.

Die Gruppenerzieherin erläutert mir, dass er jeden Morgen auf die Liste schaut und immer genau beobachtet, wer auf dem Bauteppich spielt und ob das mit der Liste übereinstimmt. Klare Regeln und Strukturen sind für Kevin besonders wichtig. Bei Sonderregelungen und Veränderungen im Tageslauf fragt er stets nach dem Warum.

Kevin baut ein Haus mit mehreren Etagen. Dazu braucht er viele Lego-Platten, es kommt zu einem Streit mit den beiden anderen Kindern (Hannes und Dominik), die auf dem Bauteppich spielen.
Kevin löst das Problem, indem er versucht, die anderen Beiden von seiner Idee, ein Hochhaus zu bauen, zu begeistern. Es gelingt ihm. Ganz klar versucht er hier, seine Idee durchzusetzen. Obwohl es so aussieht, als hätte er die Anderen als Mittel zum Zweck dazu genommen, liegt viel Euphorie in seiner Stimme. Von der Art, wie er spricht, hat man den Eindruck, als würde ein Erwachsener versuchen, ein Kind zu motivieren, etwas Bestimmtes zu tun.

Kevin regelt nun, wer was baut und welche Bausteine dazu benötigt werden. Dominik ist unzufrieden, er braucht eine Platte: „Kevin, such mir eine.“ Kevin: „Ja, mach ich.“

Während Kevin danach sucht, erklärt er weitere Vorgehensschritte beim Bauen. Er bemerkt, dass ich die Situation auf dem Bauteppich beobachte, und beginnt die Kinder zu loben, wenn sie einen Baustein gefunden haben, den er benötigt.

Während er baut, summt er vor sich hin und ist sichtlich zufrieden. Das Haus bezeichnet er nun als mehrstöckiges Piratenschiff. Kevin: „Wir brauchen einen Ausgucksessel“.

Die Kinder lassen sich von ihm ins Spiel integrieren, wobei er die Rollen festlegt. Er zeigt hier Führungskompetenz.

Irgendwann baut sich Dominik ein eigenes Schiff. Dominik: „Hier bin ich der Kapitän.“ Offensichtlich ist für ihn jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo ihm Kevins Führungsanspruch zu viel wird.

Mir fällt auf, dass Kevin fantasievoll und planvoll konstruieren kann. Nicht ganz klar ist mir, ob es ihm Spaß macht, mit den beiden anderen Jungen zu spielen, oder ob er sie nur für seine Zwecke instrumentalisiert. Darin würde die Gefahr liegen, dass er irgendwann als Spielpartner nicht mehr so beliebt sein könnte.

Um hier noch einmal genauer zu beobachten, plane ich für ihn und ein paar andere Kinder eine Beschäftigung auf dem Bauteppich. Dabei will ich auch Kevins planvolles Vorgehen noch genauer beobachten.

Beobachtung 3

Kevin ist im Nebenraum und schlägt auf einer großen Matratze Purzelbäume. Als ich hereinkomme,hört er auf und schaut mich (verunsichert) an. Ich begrüße ihn und frage, wie es ihm geht.
Kevin: „Gut, aber ich wollte hier alleine sein.“
Ich: „Ich störe dich also.“
Kevin: „Ja, ich mache gerade Purzelbäume.“ Er hält kurz inne und fragt mich: „Wieso heißt das Purzelbäume? Was hat das mit Bäumen zu tun?“
Ich verspreche, es für ihn herauszufinden.

Beobachtung 4

Ich schlage den Kindern vor: Wir bauen auf dem Bauteppich einen Weihnachtsmarkt.
Zunächst überlegen die Kinder, was es auf einem Weihnachtsmarkt alles gibt. Dabei fällt auf, dass sich Kevin bei seiner Aufzählung vor allem an Fahrgeschäfte erinnert.

Die Kinder haben verschiedenes Baumaterial zur Verfügung. Kevin beginnt sofort, eine „Unterlage zum Riesenrad“ zu bauen. Er zeigt hier seine Vorliebe für technische Dinge, die ihn herausfordern.

Während die anderen Kinder auf dem großen Bauteppich eng beieinander sitzen, zieht sich Kevin mit seinem Bauwerk in die Ecke zurück. Er macht offensichtlich sein eigenes Ding.
Ziemlich rasch baut er mit Lasy (eltoys Lasy Konstruktionstechnik) ein Gestell mit einem sich drehenden Rad. Dabei geht er planvoll vor: Er betrachtet zunächst die Bausteine, die er zur Verfügung hat. Das eigentliche Zusammenbauen geht dann sehr schnell.

Kevin fragt mich: „Elke, ich weiß nicht, wie man das baut, wo die Leute drin sitzen.“
Ich frage ihn, ob er weiß, wie man das nennt. Kevin: Gordel oder so ähnlich“. Ich sage: „Du meinst die Gondel.“ Kevin: „Ach ja, danke.“

Gemeinsam überlegen wir, wie so eine Gondel wohl aussieht. Kevin erklärt Finn, dass man ein Rohr benötigt, damit es sich drehen kann. Mit einigen Steinen baut er dann Sitzflächen. Kevin: „Ich baue auf der anderen Seite noch einen Ständer, sonst kann das zur Seite kippen. Aber zuerst baue ich einen Bezahlstand. Hier stehen jetzt die, die immer das Geld kriegen.
Hier zeigt er seine sprachlichen Fähigkeiten.

„Ich bin jetzt fertig.“
Finn kommt zu ihm und bewundert das Riesenrad. Er macht den Vorschlag, daneben eine Mauer zu bauen. Kevin: „Das geht nicht, sonst stößt die Gondel daran… Finn, ich baue das Riesenrad noch höher. Das eine dreht sich in die eine und das andere in die andere Richtung.“ Hier zeigt sich seine Vorliebe für anspruchsvolle Aufgaben.
Kevin: „Manchmal bleiben die Gondeln auch oben stehen… Ich habe die tollsten Erfindungen.“

Er überlegt, wie er die Steine setzen muss, wobei er seine Fähigkeit zum vorausschauenden Denken beweist. Leider muss er feststellen, dass ihm zwei Steine fehlen. Er ist enttäuscht.
Ich versuche ihn zu trösten, sage, dass seine Idee total gut gewesen ist, dass ich es schade finde, dass er nun nicht weiter bauen kann und dass mir im Moment auch keine Lösung einfällt. Er akzeptiert die Tatsache, ohne weitere Frustration zu zeigen.

Beobachtung 5

Kevin ist mit drei anderen Kindern in der Turnhalle, ich setze mich dazu.
Kevin: „Erin, soll ich dir mal was zeigen? Jannis, du musst an die Seite gehen, ich will was zeigen.“ Dabei lächelt er das Kind an. Dann nimmt er zu mir Kontakt auf: „Schau mal, was ich kann!“
Er nimmt Anlauf und lässt sich mit einer Art „Schraube“ auf die dicke Matte fallen. „Das habe ich mal im Fernsehen gesehen. Da war ein Mann, der hat das an einer Stange gemacht und ich habe das jetzt so lange geübt, bis ich es kann.“ Er stellt hier einen hohen Anspruch an sich selbst.
Angesteckt durch Kevin, lassen sich jetzt auch die anderen Kinder auf die Matte fallen.

Bedia ist in der Krabbelrolle und fragt, wer sie drehen will. Kevin: „Ich.“
Danach springt er wieder auf die Matte. Dabei schaut er mich immer wieder an, ich vermute, dass er versucht, sich über diesen Weg Bestätigung zu holen. Er zeigt dabei ein Dauerlächeln.

Er krabbelt nun auch in die Rolle und lässt sich von Erin drehen. Kevin: „Ich bin ein Gepard! Elke, sollen wir ein Spieleland machen?“

Ich: „Was für ein Spieleland soll das sein?“
Kevin: „Du darfst dir aussuchen, wie es heißt und wo es ist.“
Ich: „Es soll ein Zauberwald in China sein.“

Kevin: „Immer wenn man hinfällt, fällt man so, deshalb heißt das Zauberwald.“ Er lässt sich auf den Po fallen.

Die anderen Kinder machen es nach.
Kevin zu den Kindern: „Richtig.“

Nun lässt er sich auf unterschiedliche Art auf die Matte fallen. Dabei versucht er immer die Mitte zu treffen und kommentiert seinen Sprung jedes Mal, zum Beispiel so: „Jan, willst du auch mal versuchen, die Mitte zu treffen? Da springt man und rutscht man so aus.“
Jan macht mit.

Kevin: „Am Rand ist es schwieriger, ich mache es jetzt mal schwieriger!“
Er kombiniert verschiedene Formen des Laufens mit verschiedenen Sprüngen. Dabei fordert er sich selbst zu immer neuen Leistungen heraus.

Die anderen Kinder schauen ihn staunend an und machen es nach. Kevin ruft „Gut!“ oder „Richtig!“ oder „So nicht!“. Wie ein Erwachsener bewertet er die anderen Kinder, was diese aber offenbar nicht stört. Das spricht für Ansätze von Führungskompetenz.

Beobachtung 6

Kevin kommt morgens freudestrahlend in den Kindergarten und erzählt mir von seinem Besuch im „Sealife“. Er hat dort Haie gesehen und weiß nun, dass es verschiedene Arten von Haien gibt, die sich der Größe, aber auch in der Gefährlichkeit unterscheiden.

Ich schlage ihm vor, dass er am Nachmittag mal nach unten in meine Gruppe kommen soll, wo wir dann im Internet nach Haien schauen können.

Tatsächlich kommt er nach dem Mittagessen von sich aus zu mir. Im Internet finden wir den größten aller Haie, den Walhai. Er kann 18 bis 20 Meter lang werden.

Um ihm eine Vorstellung davon zu ermöglichen, was 20 Meter sind, messen wir gemeinsam den Kita-Flur aus und müssen sogar noch die Eingangstür öffnen. Anfang und Ende der Strecke markieren wir mit Klebestreifen.

In der folgenden halben Stunde läuft er diese Strecke immer wieder ab. Er ist begeistert, wie groß ein Hai sein kann. Jedem, der rein kommt – die Abholzeit hat begonnen – erklärt er, was die beiden Markierungen zu bedeuten haben.

Am nächsten Tag kommt er noch einmal zu mir und sagt: Weißt du noch, wie wir gestern gemessen haben, wie lang der Hai ist? Ganz schön lang, oder?“

Fazit

Abschließend glaube ich sagen zu können, dass Kevin trotz seiner Hochbegabung und einigen Eigenheiten, wie zum Beispiel sein manchmal erwachsen anmutendes Verhalten, ein ausgeglichenes, fröhliches, wissbegieriges und von anderen Kindern akzeptiertes Kind ist.
Mein Eindruck ist, dass sowohl seine Familie wie auch der Kindergarten ihn in seiner Hochbegabung gut unterstützen: Anscheinend wurde das Maß gefunden, ihn hinreichend zu fördern, ohne ihn zu überfordern.
Er zeigt bisher keine Merkmale von chronisch unterforderten Kindern – was hoffentlich auch so bleibt, wenn er in der Schule ist.

 

Datum der Veröffentlichung: Mai 2017
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