von Brigitte Gudat

 

Hintergrund des Projekts

Tamara (4;8) hat in den letzen Wochen fast täglich mit denselben Kindern am Maltisch gesessen. Die Kinder sitzen sehr lange dort und malen Bilder, die sie untereinander besprechen und auch bewerten. Bei Tamara kommt es häufiger vor, dass sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist und wieder von vorne beginnt.

Mehr zu Tamara lesen Sie hier:

Tamara, 4;4 Jahre alt

Meine ursprüngliche Idee, eine Geschichte ohne Ende zu erzählen und daraus ein Bilderbuch zu gestalten, erschien mir dann doch zu schwierig.

Stattdessen habe ich als Einstieg eine Handpuppe mit Namen Finki gewählt, die die Kinder kennen und die sehr beliebt ist. Die Handpuppe gehört zu einem Programm von Sprachfördermaterialien, mit denen wir in unserer Kita arbeiten.

Als weitere Hilfestellung habe ich Bildkarten verwendet. Mit Hilfe der Bildkarten sollen die Kinder dazu angehalten werden, spontan eine zusammenhängende Geschichte zu erfinden. Dabei wird von ihnen ein hohes Maß an Kreativität und Phantasie verlangt. Die Motive auf den Karten sollen in eine Handlung gestellt werden. Die Kinder sollen abwechselnd die Geschichte erzählen, sich dabei aber an bereits Erzähltes halten.

Danach sollen sie den Ablauf der Geschichte bildlich darstellen. Sollten die Kinder ihre Bilder nicht fertig bekommen, können sie am nächsten Tag weiter malen.

…kurz gefasst…

Einige vierjährige Kinder machen unter Anleitung ihrer Erzieherin erste Erfahrungen mit gemeinschaftlichem Geschichten-Erfinden – Zunächst mit Hilfe einer Puppe und Bildkarten und später ohne Hilfsmittel.

Tamara spielt dabei eine sehr aktive Rolle.

Teilnehmer
Tamara (4;8), Simon (4;11), Nele (4;11),
Leah (5;5), Svenja (4;2), Finn (4;3).

Die Kinder sind nicht von mir ausgewählt worden. Ich habe gefragt, wer mitmachen möchte. Es handelt sich um Kinder, die sehr häufig miteinander spielen.

Mit Beginn des Neuen Kindergartenjahres hat sich die Altersstruktur in der Gruppe stark verändert. Seit August haben wir elf neue Kinder, wovon acht gerade erst drei Jahre alt sind. Fünf Kinder kommen nächstes Jahr in die Schule.

Materialien
Bildkarten mit verschiedenen Motiven (z. B. Memorykarten)
DIN A4 Blätter und Malstifte
die Fingerpuppe Finki

Durchführung
Da in der Gruppe regelmäßig vorgelesen wird und die Kinder sehr gerne Bilderbücher anschauen, war der Einstieg in das Thema nicht allzu schwer.

Zu Beginn habe ich den Kindern erklärt, dass ich heute keine bereits geschriebene Geschichte vorlesen würde, sondern wir versuchen würden, selbst eine Geschichte zu erfinden. Zu der Geschichte könnten sie Bilder malen, die wir nachher zu einem Buch zusammenstellen würden. Die Geschichte sollte von Finki erzählen.

Die Geschichte ist ausschließlich von den Kindern erzählt worden. Eine Kollegin hat das Erzählte dokumentiert. Die blau gekennzeichneten Wörter stellen die Begriffe auf den Bildkarten dar, die aufgedeckt wurden.

Und so sah es dann aus:













Es war für die Kinder offensichtlich schwierig, ein Ende der Geschichte zu finden. Deshalb stammt der letzte Teil von mir.

Als wir mit der Geschichte fertig waren, hat meine Kollegin den Kindern noch einmal alles vorgelesen. Danach haben die Kinder noch begonnen, die passenden Bilder zu ihrer Geschichte zu malen. Erstaunlicherweise wusste jedes Kind noch, zu welchen Karten es seine Beiträge geliefert hatte und somit bildlich darstellen sollte.

Fazit und Weiterentwicklung

Tamara wollte beginnen und erzählte den ersten Satz. Die anderen Kinder waren zu Beginn sehr gehemmt. Erst nach und nach trauten sie sich mitzumachen. Es war für sie eine völlig ungewohnte Situation.

Ich hatte mir vorgestellt dass die Kinder viel freier erzählen würden. Sie waren zwar sehr konzentriert bei der Sache, wirkten aber auch sehr unsicher und zaghaft. Wenn man diese Situation mit ihrer sonstigen Ausdrucks- und Erzählweise vergleicht, wirkten sie sogar gehemmt.

Tamara hatte nie Probleme, die Geschichte fortzusetzen, wenn sie an der Reihe war. Darüber hinaus half sie den anderen. Bis auf Simon wollten alle Kinder ihre Bilder unmittelbar im Anschluss malen. Die Malaktion lief über zwei Tage. In den nächsten Tagen klebten wir den Text, den ich ausgedruckt hatte, auf die Rückseite der Bilder. Danach wurden die Bilder kopiert und als Buch zusammengebunden. Jedes Kind bekam ein eigenes Exemplar.

Das Bilderbuch haben wir den anderen Kindern der Gruppe vorgestellt und vorgelesen. Die Kinder kommentierten ihr Buch und erklärten, wer welches Bild gemalt hatte. Besonders unsere jüngsten Kinder schauten sich fasziniert die Bilder an. Das Bilderbuch werden wir laminieren, damit es von allen Kindern jederzeit angeschaut werden kann.

Direkt am Tag, nachdem wir die Geschichte erfunden hatten, saßen Nele, Tamara und Frida am Maltisch. Sie riefen mir zu, sie bräuchten jede Menge Blätter. Sie wollten ein Bilderbuch machen. Zuerst klebte jede für sich mehrere Blätter an einer Seite zusammen. Danach wurden die Blätter bemalt und mit Buchstaben und Zahlen beschrieben. Während des Freispiels beschäftigten sie sich fast nur damit.
Am nächsten Tag holten sie ihre Bücher heraus und arbeiteten weiter. Sie waren anschließend für mehrere Wochen immer wieder damit beschäftigt.

Die Eigeninitiative der Kinder zeigt mir, dass ihr Interesse geweckt ist, obwohl ich die Aufgabenstellung vielleicht schon als Überforderung angesehen hatte. Tage später haben wir noch einmal eine Geschichte mit Hilfe von Bildkarten erfunden, jedoch ohne Fingerpuppe. Diesmal war es für die Kinder schon wesentlich leichter.

Tage später haben wir einen weiteren, spontanen Versuch gestartet. Ich habe mich mit den Kindern in die Kuschelecke gesetzt und wir überlegten, was wir machen könnten. Meistens lese ich etwas vor. Dieser Vorschlag kam natürlich auch wieder.

Daraufhin machte ich den Vorschlag, doch selbst eine Geschichte zu erfinden. Ein Mädchen, Frida, die an der Bilderbuchgeschichte nicht beteiligt war, meinte sofort, „Ja, das machen wir!“.

Dann ging die Diskussion los, wovon die Geschichte handeln könnte. Es wurden mehrere Vorschläge zu Tiergeschichten gemacht, bis Nele vorschlug, eine Geschichte von einer kleinen Hexe zu erzählen. Dieser Vorschlag wurde begeistert aufgenommen. Dann ging es los.

Alle trugen mehr oder weniger intensiv ihre Ideen bei, darunter auch Erfahrungen aus der eigenen Erlebniswelt der Kinder. Es kam auch zu Diskussionen, wie die Geschichte weitergehen könnte.

Zu der Gruppe gehörten nun auch zwei türkische Mädchen. Beide sprechen sehr gut deutsch, aber es fällt Ihnen manchmal schwer, Erlebnisse zu erzählen. Hierbei jedoch machte eine der Beiden eifrig Vorschläge, was die Hexe denn alles herbeizaubern könnte. In der Geschichte spielen Kastanien eine wichtige Rolle, und die Mädchen erzählten, dass man Kastanien rösten und essen könne.

Es ist eine sehr schöne Geschichte geworden, die wir auch den restlichen Kindern der Gruppe noch vorlesen werden:

 

Die kleine Hexe und die Kastanien

Die kleine Hexe Nana wohnte mitten im Wald in einem kleinen Hexenhaus. Das Haus hatte sie ganz bunt gezaubert. Dort wohnte sie mit ihrem Freund. Ihr Freund war ein Rabe. Der Rabe hieß Abraxas.

Eines Tages gingen Nana und der Rabe im Wald spazieren. Plötzlich entdeckte sie einen riesengroßen Baum mit Kastanien. Sie hatte große Lust, einige zu essen. Schnell zauberte sie sich einen großen Korb. Dann flog sie auf ihrem Hexenbesen hoch in den Baum und „hokuspokus“ zauberte sie alle Kastanien in den Korb.

Danach flog sie mit dem Raben nach Hause und wollte die Kastanien essen. Aber zuerst musste sie die Kastanien rösten. Sie holte Holz, um ein großes Feuer vor dem Haus zu machen. In einem großen Topf wollte sie die Kastanien rösten.

Als sie die Kastanien sah, sagte sie zu dem Raben: „Das sind viele zu viele für mich alleine. Die schaffe ich ja nie.“ Da hatte der Rabe eine Idee. „Du kannst doch deine Freunde zum Kastanienessen einladen.“ „Ja Klasse, das mache ich“, sagte die Hexe und überlegte, wen sie alles einladen wollte.

Sie machte eine Einladung für ihren Freund, den großen Zauberer Hokuspokus, und noch eine für die große Hexe. Der Rabe Abraxas durfte auch noch seinen Freund einladen. Der Rabe nahm die Einladungen und flog weg.

Nun musste die kleine Hexe noch einen Tisch herbeizaubern. Sie nahm ihren Zauberstab und sagte: „Hokuspokus fidibus, drei mal schwarzer Kater, ich hexe einen Tisch herbei.“, und schon stand ein Tisch vor ihr. Danach zauberte sie noch Stühle, Teller und Gläser herbei und zum Schluss noch einen Blumentopf mit Blumen.

Als sie fertig war, war sie vom vielen Zaubern müde geworden. Sie ging ins Haus und legte sich auf ihr Bett.

Plötzlich wurde sie durch lautes Geschrei geweckt. Der Rabe Abraxas schrie ganz aufgeregt: „Wie kannst du schlafen? Deine Gäste sind da.“ Erschrocken sprang die kleine Hexe aus dem Bett. Da stand ihr Freund, der Zauberer Hokuspokus, schon in der Tür.

Sie lief schnell hin und begrüßte ihre Freunde. Dann gingen sie alle nach draußen, machten das Feuer an und rösteten die Kastanien. Sie haben so lange gegessen bis es dunkel war und alle satt waren. Spät in der Nacht verabschiedeten sich ihre Freunde und die kleine Hexe Nana ging mit ihrem Freund Abraxas ins Bett.

 

Frida meinte nachher:

„Wir sind die Geschichten-Erfinder!“

 

Nach dieser Erfahrung möchte ich auf jeden Fall mit den „Geschichten-Erfindern“ weitermachen. Die sprachlichen Voraussetzungen sind bei den Kindern vorhanden. Oft reichen nur kleine Impulse, um sie auf den Weg zu bringen.

Als nächstes könnten wir versuchen, noch mehr Geschichten von der kleinen Hexe zu erfinden. Und vielleicht könnte sie in den Bildern der Kinder auch Gestalt annehmen, um mit der Figur eine konkrete Vorstellung zu verbinden.

Tamaras Anteile

Tamara hat an allen Aktionen teilgenommen. Gemalt hat sie an mehreren Tagen. Hierbei hatte sie genaue Vorstellungen. Entsprach etwas nicht ihrer Vorstellung, hat sie ein neues Bild begonnen. Tamara hat auch nur gemalt, wenn sie Lust dazu hatte. Bei einem Bild meinte ein Kind zu ihr, sie habe vergessen, Finki ein Gesicht zu malen. Tamara meinte daraufhin, man könne das Gesicht nicht sehen, weil Finki – vom Betrachter abgewandt – sich die Bilder an der Wand anschaue. Tamara hat dieses Bild sehr schnell und zügig gemalt, sie hatte meiner Meinung nach eine konkrete Vorstellung von der Situation.

Beim Geschichtenerfinden wirkte Tamara hoch konzentriert und hörte genau zu. Sie erzählte, schob sich aber nie in den Vordergrund. Ich habe festgestellt, dass Tamara viele Dinge noch im Nachhinein, oft sogar Tage später, erneut anspricht.

Tamara wird zurzeit durch ihre Eltern sehr im künstlerischen Bereich gefördert. Sie nimmt des Öfteren an Mal-Workshops teil, die von einer Kunstpädagogin angeboten werden. Tamara malt hauptsächlich Bilder nach ihren eigenen Vorstellungen. Die bei den anderen Kindern zurzeit sehr beliebten Mandalas mag sie nicht.

Tamara und natürlich auch die anderen Kinder waren stolz, ihr Bilderbuch mit nach Hause nehmen zu können.

Wir haben gemeinsam eine neue Form der Kommunikation erarbeitet, von der alle profitiert haben, bei deren Entwicklung aber Tamara ganz eindeutig eine besondere Rolle gespielt hat.

 

Datum der Veröffentlichung: Juni 2016
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