von Brigitte Gudat

 

Tamara ist vier Jahre und vier Monate alt. Ich habe Tamara als Beobachtungskind (im Zertifikatskurs) ausgewählt, weil sie von ihrem Verhalten her auffällt und in ihrer Entwicklung anderen Kindern voraus ist.

Im normalen Tagesablauf zeigt Tamara Fähigkeiten, die bereits stark ausgeprägt sind und die sie anderen Kindern ihres Alters voraus hat.

Hier einige Beispiele:

    • Sie schneidet mit der Schere perfekt alles aus.
    • Sie beherrscht sämtliche Malutensilien wie Stifte und Pinsel.
    • Sie malt Erlebnisbilder mit Häusern und Personen wie Mann, Frau und Kind detailgetreu.
    • Sie malt flächig aus und setzt Farben naturgetreu ein.
    • Sie malt Mandalas perfekt aus.
    • Sie schreibt ihren Namen und kennt schon einzelne Buchstaben.
    • Sie kann Fahrrad fahren.
    • Sie kann bereits Aufträge ohne fremde Hilfe erledigen.
      Beispielsweise haben die größeren Kinder große Zahlen auf ein Blatt geschrieben und diese dann aus Mürbeteig nachgeformt. Tamara wollte mitmachen. Ihr wurde der Ablauf erklärt und sie erledigte die Aufgabe ohne weitere Hilfe in kurzer Zeit. Als sie mehrere Stunden später abgeholt wurde, wusste sie noch, welche vier Zahlen sie gemacht hatte.
    • Tamara macht mit Vorliebe Dinge, bei denen sie frei entscheiden kann, was sie macht. Regelspiele und Tischspiele meidet sie in der Regel.
    • Im Spiel mit anderen Kindern ergreift sie die Spielinitiative und entwickelt eigene Spielideen.
    • Werden Bewegungsstunden angeboten, bei denen Tamara selbst auswählen kann, was sie macht (Bewegungsbaustellen), ist sie motiviert und probiert alles aus. Wird aber in der Gruppe mit nur einem Gerät geturnt, etwa mit Seilen, oder soll sie anderen Dinge nachmachen oder ausprobieren, macht sie nicht mit oder sagt, sie könne es nicht.

Bei den genannten Beispielen finden wir auch einige Situationen, die Joelle Huser in ihrem Beobachtungsbogen unter dem Begriff „allgemeine Merkmale“ definiert.

Wenn Tamaras Entwicklung weiter so schnell voranschreitet, sollte überlegt werden, ob die Förderung im Kindergarten ausreicht oder ob eine speziellere Förderung notwendig ist.
Den Eltern ist dies ebenfalls aufgefallen. Sie haben sich aber schon gegen eine vorzeitige Einschulung ihrer Tochter ausgesprochen, weil sie ihr noch genügend Zeit zum Spielen geben möchten und sie ihrer Meinung nach dem Leistungsdruck noch früh genug ausgesetzt wird.

Zunächst aber muss geklärt werden, in welchen Bereichen Tamaras besondere Begabungen liegen, um eine Gesprächsgrundlage mit den Eltern zu schaffen.

Tamara wurde deshalb von mir in einer provozierten Situation beobachtet. Die provozierende Beobachtung führe ich detaillierter aus:

Tamara soll anhand von Bildern eine Geschichte nacherzählen.

Dies erschien mir sinnvoll, da sie sehr großes Interesse an Bilderbüchern, Geschichten und Erzählpostern zeigt. Fast täglich holt sie sich Bücher heraus und schaut sie sich alleine oder auch mit anderen Kindern an. Werden Bilderbücher oder Geschichten vorgelesen, hört sie fasziniert zu und kann die Geschichte noch am nächsten Tag nacherzählen.

In der provozierten Situation habe ich ihr Bildkarten vorgelegt, die den Prozess des Aufstehens und Anziehens eines Jungens namens Floh schildern. Der Ablauf erstreckt sich über 17 Bildkarten. Vier Bildkarten (vom Abtrocknen, Kämmen und Anziehen der Unterwäsche und Strümpfe) sortierte ich aus, damit es nicht zu umfangreich wurde.

Tamara sollte nun anhand der Bilder selbstständig den Ablauf der Geschichte erzählen und herausfinden, wo im Handlungsablauf etwas fehlt. Empfohlen werden diese Karten für Kinder ab 5 Jahren. Die Karten legte ich verdeckt auf einen Stapel und erklärte ihr die Aufgabe.

Hier eine Auswahl:

 

Tamara deckte im Spielverlauf die Karten selbst auf und erzählte:
1. Bild:
„Der Junge schläft. Die Mutter kommt und er soll aufwachen“.
2. Bild:
„Guck, der Junge wacht auf, er streckt sich. Der Junge will aufwachen“.
3. Bild:
„Hier ist der Junge aufgewacht und zieht seine Mäusehausschuhe an“.
4. Bild:
„Der Junge nimmt seine Latzhose und die Stoppersocken vom Stuhl. Der will sich anziehen“.
5. Bild:
„Er geht ins Badezimmer und duscht sich.“
6. Bild:
„Nein, er zieht sich zuerst den Schlafanzug aus, sonst wäre der ja nass geworden“.
7. Bild:
„Jetzt geht er aber wirklich in die Dusche“.
8. Bild:
„Da macht er sich nass und wäscht sich mit dem Schwamm“.
9. Bild:
„Jetzt nimmt er sich Shampoo und schäumt sich die Haare ein“.
10. Bild:
„Der Junge duscht sich ab und muss die Augen zuhalten, sonst bekommt er Schaum in die Augen, er hält ja den Kopf nicht nach hinten“.
11. Bild:
„Hier zieht der Junge ein T-Shirt mit roten und weißen Streifen an“.

Tamara zählt die Bildkarten ab und sagt: „Elf Bilder haben wir schon“, und deckt die nächste Karte auf.
12. Bild:
„Jetzt zieht er die Latzhose an“.
13. Bild:
„Jetzt ist er fertig und zieht nur noch die Schuhe an. – Nein wir sind ja noch gar nicht fertig, du hast ja noch Karten“.

Ich sage: „Ich glaube, wir haben irgendwo etwas vergessen. Überlege doch mal, wie du es machst, wenn du dich anziehst. Hat der Junge auch wirklich alles angezogen?“

Tamara schaut sich die Karten nochmals an, überlegt und sagt:
„Der Junge hat sich gar nicht abgetrocknet, und ich habe auch noch eine Unterhose an. Zeig mir mal die Karten, ob da eine Unterhose drauf ist“.

Tamara nimmt die fehlenden Karten und bemerkt, dass der Junge sich ja auch noch die Haare kämmen muss. Daraufhin fügt sie die fehlenden Bilder in der richtigen Reihenfolge ein und beschreibt die restlichen Bilder. Zum Abschluss zählt sie alle 17 Karten noch einmal richtig durch und meint, sie sei jetzt fertig und möchte zu den anderen Kindern.

Tamara hat ihrer Mutter auf dem Nachhauseweg erzählt, dass sie mit mir eine Geschichte aus vielen Bildern erzählt hat. Sie hat der Mutter die Geschichte nacherzählt, aber dann noch bemerkt: „Stell dir vor, der Junge hatte gar keinen Namen“.
Ich hatte vergessen, ihr den Namen des Jungen zu nennen.

Bezieht man nun die Äußerungen Tamaras auf den Beobachtungsbogen von Joelle Huser, zeigt sich Folgendes:

    • Sprachliche Intelligenz und gute Ausdrucksfähigkeit
      Tamara hat die Bilder treffend und präzise beschrieben. Sie benutzt Wörter wie „schäumt“, an Stelle von „wäscht“, um eine Situation genauer zu beschreiben. Sie drückt sich sprachlich treffend aus und spricht grammatikalisch korrekt und sicher.
    • Besonders gute Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit
      Sie zeigt eine gute Beobachtungsgabe. Sie beschreibt das jeweilige Bild, führt aber gleichzeitig die Geschichte selbst fort, z. B. in Bild 3:  „Der Junge ist aufgewacht und zieht seine Mäusehausschuhe an.“ Ebenso verfährt sie mit den anderen Bildern.
      Auch die Interpretation des 2. Bildes („Der streckt sich“) und der Hinweis auf den vergessenen Namen deuten auf eine gute Wahrnehmung hin. Sie ergänzt die fehlenden Bilder anhand des logischen Handlungsablaufs.
    • Führungskompetenz
      Indem sie sagt: „Zeig mir mal die Karten, ob da eine Unterhose drauf ist“, nimmt sie den weiteren Ablauf der Situation in die Hand.
    • Gutes Abstraktionsvermögen
      Sie verbindet eigene Erfahrungen, wie z.B. den Kopf nach hinten zu halten, damit die Seife nicht in die Augen läuft, mit der Situation des Jungen auf dem Bild. Sie benutzt ihr Gedächtnis („Ich habe noch eine Unterhose an“) und vergleicht sie mit den Bildern, um so die richtige Lösung zu finden und um die Geschichte logisch fertig zu stellen.
    • Vorliebe für ordnende und zählende Tätigkeiten
      Wie selbstverständlich zählt sie die Bilder korrekt nach, was auf Interesse an Zahlen hindeutet.
    • Verblüffende Gedächtnisfähigkeit
      Tamara verfügt auch bereits über ein ausgesprochen gutes Lang- und Kurzzeitgedächtnis: sie ist in der Lage, ihrer Mutter die Geschichte nachzuerzählen und die Mutter auf ein wichtiges Detail – den vergessenen Namen – aufmerksam zu machen.
    • Drang nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit
      Sie zeigt Selbstbewusstsein, indem sie nach Beendigung der Geschichte äußert, was sie als nächstes tun möchte.

Abschließend ist zu sagen, dass noch weitere und ausführliche Beobachtungen notwendig sind, um ein genaueres Bild zu gewinnen. Auch bin ich auf die Hilfe und Aufmerksamkeit der anderen Mitarbeiterinnen angewiesen, um möglichst viele Situationen zu erfassen und auch andere Sichtweisen mit zu berücksichtigen.

Die Eltern sind auch mit in diesen Prozess einzubeziehen, um herauszufinden, was von ihnen bereits unterstützt und gefördert wird.

Mehr zu Tamara lesen Sie hier:

Vierjährige Geschichten-Erfinder

 

Datum der Veröffentlichung: Juni 2016
Copyright © Brigitte Gudat, siehe Impressum.