von Annika Hensel

 

Ausgangssituation

Ben (5;6) kam vor zwei Monaten zu uns in die Kita. Vorher besuchte er einen anderen Kindergarten. Da es dort aber einige Schwierigkeiten mit Ben gab, wandten sich seine Eltern an uns. Ben fiel dort durch seine Aggressionen auf, hauptsächlich durch üble Beschimpfungen, aber auch durch Handgreiflichkeiten anderen Kindern gegenüber.
Schon zu diesem Zeitpunkt war den Eltern und Erzieherinnen Bens kognitiver Entwicklungsvorsprung gegenüber Altersgenossen aufgefallen; zudem war durch verschiedene Stellen attestiert worden, dass Ben hoch begabt sei.

 

… kurz gefasst…

Der fünfjährige hoch begabte Ben hat in einer ersten Kita negative Erfahrungen gemacht, die seine Grundstimmung „verdorben“ haben.
Die Autorin erfährt nun, dass ein Kind dann nicht durch einfache Ansprache für ein Projekt zu gewinnen ist. Es muss ein Kennenlernprozess voran gehen, in dem das Kind Vertrauen in die Person und die Gesamtsituation aufbauen kann.
Relativ früh im IHVO-Weiterbildungskurs fand der hier beschriebene Prozess statt – und wir (Hanna Vock und Arno Zucknick) sind der Autorin dankbar, dass sie zugestimmt hat, einige der recht umfangreichen Anmerkungen der Kursleitung (kursiv gesetzt) mitzuveröffentlichen.

Im Anschluss wird ein erstes gezieltes kleines Förderprojekt beschrieben, das Ben zu einem „Experten für Ausflüge“ macht.

Als die Eltern nun erfahren hatten, dass unsere Kita „Integrativer Schwerpunktkindergarten für hoch begabte Kinder“ ist, wünschten sie für Ben einen Platz in unserer Kita. Sie erhofften sich hier eine bessere Förderung, aber vor allem mehr Verständnis für Ben. Damit wir ihren Sohn „aus Hochbegabungsgründen“ aufnehmen konnten, baten wir die Familie, Ben auf Hochbegabung testen zu lassen. Die Testung, die Barbara Teeke durchführte, bestätigte Bens Hochbegabung.

Somit kam Ben in unsere Kita und lebte sich augenscheinlich schnell ein. Dies bestätigten auch seine Eltern. Sie freuten sich, dass Ben zu seiner alten Fröhlichkeit zurückgekehrt war, die er in der anderen Einrichtung verloren hatte. Auch zeigte er sehr bald viel weniger Aggressionen.

Vorüberlegungen zum Projekt mit Ben

Zu diesem Zeitpunkt kannte ich Ben (als freigestellte Leiterin) noch nicht gut, denn ich hatte mich zu Anfang meines Weiterbildungskurses mit einem anderen Kind befasst. Ich nahm mir also vor, zunächst Kontakt zu ihm aufzubauen und mit ihm die verschiedenen Fragebögen, die wir für unsere erste Beobachtung benutzt haben, zu bearbeiten.
(Siehe: Interessen-Fragebogen für den Kindergarten und
Beobachtungen mit dem Beobachtungsbogen nach Huser und Hinweise auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung.)

So erhoffte ich mir, Ben besser kennen zu lernen und seine Interessen heraus zu finden. Uns würde dann bestimmt eine Sache einfallen, mit der wir uns tiefer gehend beschäftigen könnten.

Anmerkung der Kursleitung:
Möglicherweise lag der Fehler, der den vollen Erfolg zunächst verhindert hat, schon hier: Wie Du selbst erwähnst, gab es bisher kein „Gemeinsam“ zwischen Dir und Ben. Bei Kindern, die schon aus ihrer Sicht schlechte Erfahrungen mit Erzieherinnen gemacht haben, ist es oft nötig, dass das Kennenlernen behutsam erfolgt, und es braucht seine Zeit.
Erst wenn das Kind glaubt, Dich wirklich einschätzen zu können und Dich für o.k. hält, kann ein Beziehungsaufbau einsetzen und allmählich Gemeinsamkeit entstehen. Diese Gelegenheit hättest Du ihm zunächst geben sollen, zum Beispiel durch gemeinsame Erlebnisse beim erst später stattfindenden Ausflug. Hier hätte er auch die Möglichkeit gehabt, Dich unverbindlich und „am Stück“ zu beobachten und sich ein Bild zu machen.

Aus diesem entstehenden Projekt wollte ich mir dann ein genaues Ziel überlegen, um Ben kognitiv zu fördern.

Kontaktaufnahme zu Ben

Da ich als freigestellte Leitung der Kita nicht im Gruppengeschehen bin, überlegte ich mir, wie ich anders an Ben herantreten könnte; denn Ben war kein Kind, das von sich aus Kontakt zu mir suchte.
So sprach ich ihn nach dem Mittagessen an, bei dem ich, wie häufig, in Bens Gruppe dabei war. Die Situation erschien mir günstig, da Ben neben mir saß und augenscheinlich unschlüssig war, was er nun nach dem Essen machen sollte. Also fragte ich ihn, ob er Lust habe, etwas mit mir zu machen. Dies bejahte er, wirkte dabei aber etwas unschlüssig.

Ich schlug ihm vor, wir könnten doch ein Interview machen, damit wir uns besser kennen lernten. Als Ben dies hörte, war er überhaupt nicht begeistert und wollte auch nichts mehr mit mir machen. Auch meine Versuche, ihm zu erklären, worum es ging, oder auch der Vorschlag, wir könnten etwas anderes machen, halfen nicht. Ben blieb dabei, er wolle nichts mit mir machen. Dies verkündete er ziemlich bestimmt und verschwand dann in den Flur.

Anmerkung der Kursleitung:
Es wäre im Sinne der obigen Anmerkungen vermutlich besser gewesen, ihn zu fragen und ihm die Initiative zu überlassen. Also ihm das Signal zu senden: Es interessiert mich, was Dich gerade interessiert / Es geht um Dich, nicht um ein Interview.
Der Vorschlag des Interviews war für ihn vermutlich zu unvermittelt und zu unüberschaubar. Hoch begabte Kinder haben oft ein hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung und ein feines Gespür dafür, wann sie sich gedrängt fühlen. Und sie wollen genau wissen, was man von ihnen will.
Du hättest zum Beispiel sagen können: Ich hätte Lust, mit Dir zusammen etwas zu spielen, denn ich möchte Dich kennenlernen. Was könnten wir zusammen spielen?

Überrascht blieb ich mit meiner Kollegin zurück. Diese erklärte mir dann aber, dass mich dies nicht wundern müsse, diese Reaktion sei ihnen von Ben bekannt und sei auch nicht persönlich zu nehmen.

Anmerkung der Kursleitung:
Genau. Wir glauben auch, dass es nichts mit Deiner Person zu tun hat, sondern wohl eher damit, wie Du auf ihn zugegangen bist.

Also dachte ich mir zunächst nichts dabei und schob seine Ablehnung auch auf seine möglicherweise schlechte Tagesverfassung.
Zwei weitere Annährungsversuche an Ben, mit dem Vorschlag er könne etwas mit mir und – wenn er möchte auch – mit Freunden zusammen machen, schlugen fehl.

Jedes mal reagierte Ben ähnlich wie beim ersten Mal: Er wies mich sehr bestimmt mit viel Druck ab. Auch meine beiden Kolleginnen konnten sich nicht erklären, warum Ben nicht mit mir arbeiten wollte.

Anmerkung der Kursleitung:
Vielleicht hat er sich gewundert und konnte es sich nicht erklären, warum Du immer wieder gerade mit ihm was machen wolltest. Vielleicht war es ihm suspekt 😉

Ein Grund hierfür, dachte ich, sei meine Position den Kindern gegenüber, da ich keine direkte Bezugsperson für Ben bin. Weil er ja erst kurz in unserer Kita war und viele neue Beziehungen aufbauen musste, schien mir logisch, dass er jetzt nicht noch wen kennen lernen wollte, zumal ja seine ersten Erfahrungen mit Erzieherinnen nicht glücklich gelaufen waren.

Anmerkung der Kursleitung:
Dieser Erklärungsversuch erscheint uns nur teilweise plausibel: Da er schlechte Erfahrungen gemacht hat, ist er vorsichtig geworden und will genau prüfen, ob wieder die alten Muster auftauchen. Insofern teilen wir Deine Einschätzung.
Aber die Erklärung: Jetzt, zu dieser Zeit, will er vielleicht nicht noch mehr neue Menschen kennen lernen, geht uns in derDeutung zu weit. Wir glauben eher, dass hoch begabte Kinder ständig auf der Suche nach möglichen Partnern sind, sofern sie noch nicht weitgehend resigniert haben. So schlimm steht es aber unserer Einschätzung nach mit Ben noch nicht; das zeigt ja auch sein eher zutrauliches Verhalten beim späteren Ausflug.

Außerdem kam mir auch der Gedanke, dass es sein kann, dass Ben mich nicht mag und deswegen keine Lust hat. Dies verneinten meine Kolleginnen aber, sie seien sich sicher, dass dies nicht so sei. Zumal Ben auch bei manchen Angeboten ihrerseits in gleicher Weise reagierte.
Also entschied ich mich, Ben weiter zu beobachten, aber ohne ihn zu stören.

Die nächste Gelegenheit bot sich bei einem Gruppenausflug. Die Gruppe machte zu diesem Zeitpunkt ein Piratenprojekt und nun sollte eine Flaschenpost in den Rhein geworfen werden. Als zusätzliche Aufsichtsperson fuhr ich mit und hatte Ben in meiner Gruppe.

Beim Ausflug fiel mir auf, dass Ben mir gegenüber durchaus offen war. Wir unterhielten uns viel und Ben akzeptierte mich voll als Bezugsperson, hielt sich zum Beispiel ohne Gegenwehr an meine Regeln.

Anmerkung der Kursleitung:
Jetzt war ihm wohl Deine Position und Rolle hinreichend klar.

Wenige Tage später kam ich in mein Büro und fand ein Bild, das Ben für mich gemalt hatte.

Anmerkung der Kursleitung:
Man könnte es so interpretieren, dass er damit, nachdem er Dich beim Ausflug etwas näher kennengelernt hat, ausdrücken wollte: Ich mag Dich und Du bist interessant für mich.

Nun war ich mir sicher, dass meine oben genannten Gründe nicht (oder aber nicht nur) der Grund für Bens Verweigerung sein konnten.

Anmerkung der Kursleitung:
Ja, aber in der Zwischenzeit ist ja auch was passiert… Wie würdest Du reagieren, wenn Jemand, den Du zwar schon gesehen hast, aber noch gar nicht kennst, auf Dich zukommt und sagt, was er mit Dir machen möchte. Es ist oft hilfreich, sich an Stelle des hoch begabten Kindes einen Erwachsenen vorzustellen. Wie würde ich mit dem umgehen, und welche Reaktion würde ich erwarten?

Von Beginn an hatte ich das Gefühl, dass Ben keine Lust hatte, etwas Besonderes mit mir zu machen, da er immer der Besondere der Gruppe ist und das aber nicht mehr möchte.

Bei einem Treffen der IHVO-Schwerpunktkitas bei Hanna (Vock) in Bonn berichtete ich ihr von meinen Erlebnissen mit Ben. Sie bestärkte mich darin, an Ben dran zu bleiben und diese Arbeit über seine Verweigerung zu schreiben.

Anmerkung der Kursleitung:
Ohne Haare spalten zu wollen …, aber „Verweigerung“ ist hier zu viel gesagt. Er hat doch lediglich Angebote, die ihm irgendwie nicht geheuer waren, nicht angenommen.

Da ich wie oben beschrieben, das Gefühl hatte, Ben wolle nicht etwas mit mir machen, weil er befürchtete, so wieder einen Sonderstatus zu bekommen, startete ich weiterhin keine neuen Versuche für ein Projekt.

Um Ben aber weiter beobachten zu können, aß ich zum Beispiel häufiger in der Gruppe und suchte im Alltäglichen den Kontakt zu ihm. Das funktionierte auch sehr gut und mehr und mehr suchte Ben auch den Kontakt zu mir.

Anmerkung der Kursleitung:
Also: erst Beziehungsaufbau, dann gemeinsames Projekt. Der fehlende oder unzureichende Beziehungsaufbau ist übrigens auch einer der Hauptschwächen von Kursen außerhalb der Kita, zum Beispiel bei Kinderunis und ähnlichem.

Bei der Beobachtung Bens fiel mir auf, dass er in der Gruppe gut angekommen ist und gute Freundschaften pflegt. Nur noch selten kommt es zu aggressiven Ausbrüchen. Ich beobachte, dass Ben seine Freundschaften sehr genießt und sich in seiner Person insgesamt angenommen fühlt.

Anmerkung der Kursleitung:
Das ist eine große Bestätigung für Eure Kita! Grüße an alle!

Sich nicht angenommen und dazugehörig zu fühlen, war meines Erachtens eines der Hauptprobleme in der anderen Kita. Bens psychische Bedürfnisse wurden dort nicht hinreichend erfüllt und es gab niemanden, der seine Denkweise nachvollziehen konnte. Um aber zur Gruppe dazu zu gehören, passte er sich sehr stark an. Dadurch entstand bei ihm ein sehr starker innerer Druck, der sich in Aggressionen nach außen und in Niedergeschlagenheit zeigte.

(Siehe auch: Dauerfrustration.)

Durch den Wechsel der Kita erfuhr Ben eine neue Offenheit ihm gegenüber. Zum einen ist er zu Kolleginnen in die Gruppe gekommen, die nicht nur die Ausbildung beim IHVO gemacht haben, sondern auch über viele Jahre Berufserfahrung verfügen. So erlebt er in unserer Einrichtung eine andere Haltung Begabungen gegenüber – und dies nicht nur in seinem Fall, sondern für alle Kinder. Dies erklärt meiner Meinung nach auch, dass es Ben jetzt insgesamt besser geht und dementsprechend auch seine destruktiven Seiten seltener zu Tage treten.

Daneben beobachte ich aber, dass Ben immer noch gerne Dinge versteckt, von denen er meint, sein Gegenüber könne sie nicht verstehen. So kam er an einem Tag zu mir ins Büro gelaufen. Man merkte, dass er eigentlich nicht damit gerechnet hatte, mich hier anzutreffen, und überrascht war.

Er hatte einen Jutesack mit Halbedelsteinen in der Hand, der ihm halb aus der Hand rutschte. Ich bewunderte seine schönen Steine, was ihm sichtlich gut gefiel. Er setzte an, mir zu erzählen, dass er damit was Verbotenes vorhabe, hielt inne und verschwand.
Ich hatte das Gefühl, dass er mir eigentlich gern erzählt hätte, was er mit den besonderen Steinen vor hatte, aber aus Angst, nicht richtig verstanden zu werden und möglicherweise Sanktionen zu erfahren, ließ er es.

Abschließend denke ich, dass Ben ähnliche Erfahrungen gemacht hat, wie Till aus dem Artikel von Dr. Barbara Schlichte-Hiersemenzel. (Siehe Literaturverzeichnis.) Bens Hochbegabung wurde von seinen Eltern und seinem Umfeld schnell erkannt. Mit dieser Tatsache ging seine Familie positiv um. Dann kam Ben in den Kindergarten, der ihm als gut für ihn versprochen wurde. Dort merkte er schnell, dass dem nicht so war. Im ersten Kindergarten fand er keine Kinder, die seine Interessen und Gedanken nachvollziehen konnten. Er merkte, dass er anders ist, und fing an sich anzupassen. Mit traurigen Konsequenzen für seine seelische Verfassung.

In unserer Kita erlebte Ben eine neue Situation, die ihm gut tut, trotzdem lässt ihn seine Angst anders zu sein noch nicht los und er passt sich an und will keine Sonderrollen haben.

Anmerkung der Kursleitung:
Weiß er denn überhaupt schon, was eine positive Sonderrolle (zum Beispiel neidlos bewundert werden, für kluge Ideen geschätzt werden, als „Erklärer“ vieler Dinge in der Gruppe anerkannt zu sein) ist und wie die sich anfühlt? Es wäre sicher gut, wenn er das bald kennenlernen könnte.

Perspektive

Ben wird im Sommer unsere Kita verlassen und zur Schule gehen. Ich denke, die Entscheidung von Bens Eltern war richtig, ihm vor der Schule noch mal die Möglichkeit zu geben, eine andere Ausgangssituation vor dem Schuleintritt zu bekommen.

Mein Projekt ist ein ganz anderes geworden, als ich es mir vorgestellt hatte und als das, was die Kurs-Aufgabe eigentlich vorsah. Insofern kann ich sagen, dass mein Ziel, Ben in einem speziellen Projekt kognitiv zu fördern, noch nicht erreicht wurde, wobei er im Zusammenhang mit dem Piratenprojekt der Gruppe hier auch viel erlebt hat. Viele Teile des Projektes hat er sehr bereichert.

Meinem daraufhin veränderten Ziel, Ben zu beobachten, um zu verstehen, warum er sich verweigert, bin ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen doch deutlich näher gekommen, wobei Ben bestimmt auch hier noch die ein oder andere Überraschung für uns bereit hält.

Und so ging Bens Förderung weiter:

Verkehrsexperten

Ausgangsituation

Bei meiner bisherigen Arbeit mit Ben kristallisierte sich heraus, dass es für Ben sehr gut wäre, noch häufiger die Erfahrung zu machen, dass besonderes Wissen etwas Tolles ist und bei mir und uns in der Einrichtung sehr geschätzt wird.

Deswegen entschied ich mich, Ben zu einem Experten für ein Thema zu machen. Die Rolle als Experte in der Gruppe ermöglicht es Ben, sein Wissen in die Gruppe einzubringen. So erlebt er, dass es etwas Wertvolles ist, schlau zu sein und dass er selber, aber auch andere, davon profitieren können, wenn er vieles besonders gut weiß.
Eine Möglichkeit, hierbei auch die sozialen Kompetenzen zu fördern, fand ich in der Auseinandersetzung der Experten mit dem Thema Ausflüge, da hierbei nicht nur „Fachwissen“, wie Verkehrsregeln zum Beispiel, wichtig sind, sondern auch soziale Fragen.

Um ihm positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit anderen Kindern zu ermöglichen, überlegte ich, wer ein guter Partner im Projekt sein könnte. Ich entschied mich für Janna. Sie ist, so wie Ben, über die Hochbegabtenquote in unsere Kita gekommen. Mehr dazu lesen Sie in:
Janna und die Prinzessingeschichte.

Ziele für Ben

Mein Ziel ist nicht an erster Stelle der inhaltliche Input, denn Ben bekommt zur Zeit viele inhaltliche Impulse durch das große Gruppenprojekt und einige Arbeitsgruppen, die er besucht. Vielmehr will ich im Beziehungsaufbau zu Ben seine Bedürfnisse in den Vordergrund stellen. Dies soll ihm zeigen, dass ich ihn so mag, wie er ist und gerne Zeit mit ihm verbringe. Als positiven Effekt erhoffe ich mir, dass Ben – durch die Angenommenheit bei mir und in der gesamten Einrichtung – zu mehr innerer Gelassenheit gelangt und dadurch natürlich auch sensibler anderen gegenüber sein kann.

Eine Liste mit allem Wichtigen

Ich ging mit meinem Anliegen auf die Beiden zu. Im Gespräch stellten wir fest, dass wir im Kindergarten viele Ausflüge machen und dass die Erzieherinnen Experten brauchen könnten, die sie bei den Ausflügen unterstützen. Die Beiden bekundeten Interesse, solche Experten zu werden, und waren begeistert dabei.

Wir gingen ins Büro, damit wir dort in Ruhe arbeiten konnten. Zunächst fragte ich, ob sie wüssten, was ein Experte ist. Und ich war nicht wirklich überrascht, als Ben ganz exakt antwortete:

„Ein Experte ist jemand, der sich mit einem Thema besonders gut auskennt.“

Wir sprachen darüber, dass vor und bei Ausflügen vieles beachtet werden muss. Um den Überblick zu behalten, holten wir uns ein großes Plakat, auf dem wir alles festhielten, was uns einfiel.

Ich war erstaunt, dass die Beiden ohne mein Zutun – Ben nahm die Zügel in die Hand und ich musste nur aufschreiben, was sie sagten – alles Wesentliche zusammentrugen:

    • Man muss auf seinen Rucksack aufpassen.
    • Man muss aufpassen, dass einem selber und auch den Freunden nichts passiert.
    • Man muss aufpassen, dass keiner verloren geht.
      Man muss die Kinder zählen (am Anfang und auch mal zwischendurch).
    • Man muss gleiche T-Shirts anziehen oder Schärpen.
    • Man muss Karten für den Hals mit Adressen haben und umhängen.
    • Man muss die Verkehrsregeln beachten:
      – Nach links und rechts gucken, bevor man über eine Straße geht.
      – Man darf nur über eine Straße gehen, wenn alles frei ist.
      – Nur bei Grün über eine Straße mit Ampel gehen.
      – Rot = man darf auf gar keinen Fall gehen / die Autos fahren.
      – Gelb = Vorwarnung / Achtung, gleich wird es rot.
      – Grün = man darf gehen / fahren.
      – Man darf nur auf dem Bürgersteig gehen, außer man überquert eine Straße.
    • Man darf beim Ausflug nichts abpflücken oder kaputt machen, weil das Anderen gehört und die sonst traurig sind.
    • Man muss auf die Erwachsenen hören.
    • Man muss immer bei der Gruppe bleiben.
    • Man darf nicht rumtrödeln.
    • Bei Ausflügen darf man nicht zanken, hauen beißen oder so ähnliche Sachen, obwohl der Y. das immer macht.
    • Man muss Essen und Trinken mitnehmen.
    • Pflaster und Verbandssachen müssen mitgenommen werden und auch ein Handy.
    • Wenn man verloren geht, muss man der Polizei seinen Namen sagen und wo man wohnt. Nur der Polizei.

Als den Kindern (und auch mir) nichts Weiteres einfiel, überlegten wir, wie wir fortfahren wollten und beschlossen, zu dritt einen kleinen Ausflug zu machen, um zu gucken, ob wir vielleicht doch noch etwas vergessen hatten.

Ein Ausflug zur Probe

Genauso machten wir es dann am übernächsten Tag.
Die Gruppe hatte morgens ein Buch gelesen, in dem stand, wie man Popcorn machte. Also zogen wir los, um im Supermarkt Maiskörner zu kaufen. Auch dabei überließ ich den Kindern das Kommando.
Sie fanden allein den Weg zu dem ihnen bekannten Supermarkt und kauften auch weitgehend selbstständig ein.

Anfänglich war unsere Aufmerksamkeit noch beim Thema Ausflug und dem Thema Straßenverkehr. Die Beiden überlegten, was sie in ihrer Liste vergessen hatten, und kamen am Ende zu dem Schluss, dass sie komplett ist.

Wir haben über die Verkehrsregeln gesprochen und darüber, dass es wichtig ist, sich immer daran zu halten, da sonst Gefahr droht. Auch fiel uns auf, als wir an der Grundschule vorbei liefen, dass dort Poller mitten auf der Straße stehen. Nachdem wir den Begriff Poller geklärt hatten, überlegten wir, warum diese dort stehen. Die Kinder fanden die Antwort: Damit kein Auto an dieser Stelle durchfahren kann, da viele Kinder aus der Schule raus kommen und auch oft nicht aufpassen, weil sie sich so freuen, wenn die Schule aus ist.

Auf unserem Rückweg unterhielten wir uns über verschiedene Dinge. Das Thema Ausflüge war inhaltlich ausgefüllt und abgehandelt.
Natürlich gibt es noch viele Möglichkeiten, sich mit dem Thema auseinander zu setzten, ich spürte aber, dass das Thema Ben anfing zu langweilen, da er schon sehr viel wusste und ihm dies erstmal reichte. Janna erzählte unterwegs von Ausflügen mit ihrer Familie. Ben lief vor, als Janna erzählte, fragte aber vorher immer, bis wohin er laufen dürfe und hielt sich dann auch an die Vereinbarungen.

Am folgenden Tag schlossen Janna, Ben und ich das Projekt ab, indem die Beiden mit meiner Unterstützung ihre eigene Experten-Urkunde am Computer machen durften. Außerdem stellten Ben und Janna im Stuhlkreis den anderen Kindern der Gruppe unser Plakat vor, was sie sehr souverän machten.

Reflexion

Ich denke, das Augenmerk nicht auf den inhaltlichen Input, sondern auf den vertrauensvollen Beziehungsaufbau zu Ben zu legen, war richtig.

Bens auch körperliche Annäherung zu mir – er kommt öfters zum Kuscheln -, zeigt mir, dass er Vertrauen und Zuneigung zu mir gewonnen hat. Ich denke, mittlerweile hat Ben die emotionale Festigung und das Selbstbewusstsein, um auch andere Kinder mit ihren Besonderheiten akzeptieren zu können.
Wenn man Ben mit dem Kind vergleicht, das vor einem Jahr zu uns kam, dann ist deutlich spürbar, dass er entspannter ist als damals. Als er kam, war er unruhig und unsicher. Wenn man mit ihm sprach, konnte er einem nicht in die Augen sehen. Wenn etwas nach seinem Empfinden nicht richtig lief, reagierte er verbal und auch körperlich aggressiv.

Heute ist er entspannt. Er schaut einem in die Augen und sucht Nähe. Dies ist gegenüber Kindern wie Erwachsenen so, er hat einige Freundschaften geschlossen.
Ich denke, er weiß, dass er seinen Raum bekommt und nicht darum kämpfen muss. Deswegen kann er auch Anderen gegenüber gelassener sein.

Wenn Ben seine Gedanken früher nicht umsetzen konnte, wurde er aggressiv – mittlerweile kann er sich auch gut zurücknehmen und warten, bis er an der Reihe ist. Dies zeigte er auch bei der Auflistung der Punkte, die man bei einem Ausflug beachten muss. Janna schweifte häufig vom Thema ab und erzählte zum Beispiel von Wölfen. Dies machte Ben offenbar nichts aus. Er malte derweil auf dem Plakat und wartete ab, bis er etwas beitragen konnte und wollte.

Auch die Auflistung der Punkte zeigt, dass Ben Gefühle Anderer einzuschätzen weiß und sich im vertrauten Kreis auch dazu äußern kann. Bei der Klärung der Frage, warum man unterwegs nichts abpflücken oder kaputt machen darf, erklärte er, weil derjenige, dem die Sache gehöre, dann traurig sei.
Dass er dies jetzt zeigen kann, hängt bestimmt auch damit zusammen, dass Ben sich nicht mehr so viel mit sich selbst und seinen negativen Gefühlen und dem damit zusammenhängenden negativen Verhalten auseinander setzten muss. So ist er auch freier, sich über die Gefühle Anderer Gedanken zu machen.

Dies bestätigt auch ein vor kurzem geführtes Gespräch mit beiden Eltern. Meine Kolleginnen und ich baten um dieses Gespräch, um Bens Eltern abschließend zur Kindergartenzeit ein Feedback zu geben über Bens Entwicklung. Wir berichteten über unsere Beobachtungen, dass er entspannter ist und ausgeglichener. Dies bestätigten seine Eltern, sowie dass er nun Freundschaften pflegt.

Manchmal verfällt er noch in alte Verhaltensweisen, zum Beispiel als nun die ersten neuen Kinder eingewöhnt wurden. Dies verunsicherte ihn, aber meine Kollegin konnte durch ein langes Gespräch mit ihm herausfinden, dass er Angst hat, dass keine Zeit mehr für ihn da ist.

Aussichten für Ben

Diese Angst konnte meine Kollegin ihm nehmen, indem sie ihm erklärte, dass sie auch in Zukunft noch Zeit für ihn hat, und direkt Verabredungen mit ihm traf.
Außerdem bestärkten wir die Eltern noch einmal darin, konsequent gegenüber Ben zu sein und sich weiterhin ihrer Rolle als seine Eltern bewusst zu sein. Häufig verfällt besonders Bens Vater in eine Kumpelrolle, die Ben aber nicht die nötige Sicherheit gibt. Dann wird er unsicher, unzufrieden und unruhig.
Abschließend ermunterten wir sie, sich gern weiterhin an uns zu wenden, wenn Ben in der Schule ist. Über dieses Angebot freuten sie sich sehr und waren sich sicher, es anzunehmen. Gerade auch, weil sie viele Ängste mit dem Schulstart verbinden, was unter anderem an Bens Vorverurteilung in unserem Stadtteil liegt, die durch seine früheren Verhaltensweisen bedingt ist.

Mein Anteil

Natürlich sind viele Fortschritte, die Ben machte, hauptsächlich durch die Arbeit meiner Kolleginnen in seiner Gruppe und die damit verbundenen kognitiven Inputs zurück zuführen.

Nicht unwichtig war aber auch, dass es mir gelungen ist, ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Ben aufzubauen. Dies ging nur, weil ich mich viel mit Ben beschäftigt habe und der Kontakt auch weiterhin eng ist.

Er kommt häufig auf mich zu, um mir Dinge zu erzählen. Außerdem kommt er auch regelmäßig in mein Büro und möchte dort Zeit bei mir verbringen. Wir klären dann verschiedene Dinge, zum Beispiel hat Ben einmal erklärt, wie der Drucker funktioniert: „Der Computer schickt dem Drucker einen Befehl, nämlich einen Zahlencode. Und dann fährt eine Rolle über das Blatt und an der Rolle ist eine Walze, die hin und her läuft und die Buchstaben draufdrückt.“

Insofern habe auch ich zu Bens Fortschritten direkt beigetragen – und natürlich auch dadurch, dass ich den Kolleginnen beständig ein Umfeld schaffe, das es ermöglicht, intensive Begabten- und Hochbegabtenförderung zu betreiben (unter anderem auch durch Verbesserung der finanziellen und damit personellen Basis).

Siehe auch:
Bessere Möglichkeiten für Kitas durch Stiftungsgelder

Als weitere gezielte Förderung für Ben plane ich, mit Ben und drei anderen Kindern ein kleines Bibelstück für einen Gottesdienst vorzubereiten.

Hier lesen Sie, wie es weiter ging:

Die Geschichte des Philippus.

Bitte lesen Sie in diesem Zusammenhang auch:
Dauerfrustration wegen und Unterforderung und Unverständnis

Erste Annäherung an ein schwieriges Kind

Hans fasst Vertrauen

 

Datum der Veröffentlichung: März 2016
Copyright © Annika Hensel, siehe Impressum.