von Ayla Altın

 

Pablo ist ein 3;4 Jahre alter Junge, der unsere Kita seit etwa einem halben Jahr besucht. Die Eingewöhnung in den Kindergarten verlief ohne Komplikationen. Er wächst zweisprachig auf. Er spricht Deutsch und Spanisch.

Ich habe mir Pablo als Beobachtungskind (im IHVO-Zertifikatskurs) ausgesucht, weil er kognitiv seinem Alter voraus entwickelt ist. Zunächst habe ich ihn im Freispiel beobachtet und festgestellt, dass er sich Spiele aussucht, die für Vorschulkinder geeignet sind. Seine Spielpartner sucht er sich nach seinen Bedürfnissen aus, er spielt sowohl mit gleichaltrigen als auch mit älteren Kindern.
Angelehnt an den Beobachtungsbogen nach Huser habe ich folgende Beobachtungen und Einschätzungen notiert:

Allgemeiner Entwicklungsvorsprung

Pablo zeigte im Freispiel sehr viel Interesse an Zahlen und Buchstaben. Er spielte zum Beispiel mit zwei anderen Kindern ein Zahlenspiel, bei dem er würfeln musste und dann die passenden Zahlen-Karten finden musste.
Beim Würfeln erkannte er sofort die Menge der Augen auf dem Würfel, ohne sie abzuzählen und konnte ohne weiteres die passende Zahlen-Karte, die auf dem Tisch lag, finden. Er kann somit die Mengen sofort erfassen und erkennt die Zahlen. Ich probierte einige Spiele, die mit Zahlen zu tun haben, und stellte fest, dass Pablo im Zahlenbereich bis 29 sehr sicher ist.

Schnelle Auffassungsgabe und Neugierde

Pablo hat eine schnelle Auffassungsgabe. Das oben beschriebene Spiel hatte ein Vorschulkind zum Spielzeugtag von zu Hause mitgebracht; es war für Pablo neu und unbekannt.
Da Pablo ein sehr neugieriges Kind ist, gesellte er sich sofort mit an den Tisch, an dem bereits das Vorschulkind und ein anderes Kind das Spiel aufbauten und zu spielen anfingen. Zunächst beobachtete er das Geschehen eine Weile.
In der zweiten Runde fragte er, ob er auch mitspielen könnte. Die anderen stimmten zu und wollten ihm erklären, wie das Spiel funktioniert. Pablo verstand die Regel schnell und spielte mit.
Ich hatte den Eindruck, dass er die Spielregel bereits während des Beobachtens verstanden hatte. Nach meinem Wissen ist es eine sehr große Leistung für ein dreijähriges Kind, mit einem Spiel zu spielen, das für Vorschulkinder gedacht ist.

Dieses schnelle Begreifen beobachte ich in vielen Situationen, wie zum Beispiel wenn er wie die Älteren eine Aufgabe bekommt und sie sehr gewissenhaft erledigt.

Orientierung an älteren Kindern

Pablo hat sowohl gleichaltrige als auch ältere Spielpartner. Er sucht sich die Kinder seinen Bedürfnissen entsprechend aus. Wenn ihm in der Gruppe langweilig ist, sucht er auch den Kontakt zur Erzieherin.

Verblüffende Gedächtnisfähigkeit

Pablo hält sich an Abmachungen, die mit ihm oder auch mit anderen Kindern getroffen wurden. Wenn die anderen Kinder vergessen, ihre Aufgaben zu erledigen, erinnert er sie daran oder kommt zur Erzieherin und macht sie darauf aufmerksam.
Neulich habe ich im Morgenkreis beobachtet, wie er ein Ereignis berichtet hat, das schon einige Zeit zurück lag. Er erzählte detailliert und präzise, was passiert ist und was ihn beeindruckt hat.

Lange Aufmerksamkeitsdauer und starke Eigenmotivation

Seine Ausdauer ist ausgeprägter als bei gleichaltrigen Kindern. Wenn er ein Spiel beginnt, beschäftigt er sich umfassend und aufmerksam damit.
Im Morgenkreis beschäftigten sich die Kinder mit Zahlen. Es ist ein Thema, das Pablo sehr interessiert; daher war er sehr aufmerksam, hörte konzentriert zu und machte mit. Er meldete sich oft, war sehr aufgeregt und wollte zu allem seine Meinung sagen. Auf die Frage der Erzieherin, ob jemand die Zahl erkennt, die sie hoch hielt, meldete er sich jedes Mal und war sichtlich enttäuscht, wenn er nicht dran kam.

Dieser Morgenkreis dauerte etwa 45 Minuten, was einer ganzen Schulstunde entspricht und für Kindergartenkinder normalerweise zu lang ist. Pablo blieb aber während der ganzen Zeit aufmerksam und machte aktiv mit.

Kritische Einstellung zu den eigenen Leistungen

Wenn ihm klar wird, dass wir etwas von ihm erwarten, dann traut er sich nicht und nimmt lieber den einfacheren Weg.
Wenn ich zum Beispiel ein Spiel für Pablo aussuche, das etwas anspruchsvoller ist, möchte er das plötzlich nicht mehr spielen und sucht sich ein einfacheres Spiel heraus.
Wird er aber aufgefordert, von sich aus ein Spiel auszusuchen, dann wählt er schwierigere Spiele. Große Herausforderungen nimmt er unbewusst und spielerisch wahr.

Drang nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit

Pablo ist mit seinen 3;4 Jahren schon sehr selbstständig. Seine alltäglichen Aufgaben nimmt er sehr ernst, er hält sich an die Gruppenregeln und achtet darauf, dass auch andere sich daran halten. Seine Aufgaben erfüllt er selbstständig und mit viel Freude.

Wenn er zwischendurch Hilfe braucht, weil er nicht weiter kommt, fragt er und holt sich Unterstützung. Viele Aufgaben erledigt er von sich aus, er meldet sich freiwillig, ohne dass ihn jemand auffordert, wie zum Beispiel beim Kalenderdienst. Er meldet sich jeden Morgen freiwillig und möchte ihn machen. Wenn wir morgens vergessen, den Kalender im Morgenkreis zu besprechen, geht er nach dem Frühstück unaufgefordert in den Flur und stellt ihn neu ein. Danach kommt er ganz stolz in die Gruppe und verkündet das neu eingestellte Datum.

Merkmale von unterforderten Kindern

Merkmale zur Unterforderung zeigt Pablo noch nicht. Das könnte daran liegen, dass wir viele verschiedene Angebote haben, an denen er teilnehmen kann, um seinen Wissensdurst zu stillen.
(Hier möchte ich erwähnen, dass ich in einem Integrativen Schwerpunktkindergarten für Hochbegabtenförderung arbeite.)
Wenn bei uns Projekte oder Angebote stattfinden, werden die Kinder nicht nach ihrem Alter sondern nach ihren Stärken und Interessen eingeteilt. Daher kann Pablo seinen Bedürfnissen nachgehen. Er zeigt zum Beispiel großes Interesse an dem Spiel „Schlaumäuse“, das am Computer gespielt wird. Er möchte bei jeder Gelegenheit damit spielen.
Da er aber noch nicht lesen kann, braucht er dabei Unterstützung. Er fragte mich, ob ich mit ihm zusammen spielen könnte. Wir setzten uns gemeinsam an den Computer und ich half ihm durch das Programm. Er versuchte mit den Buchstaben Wörter zu bilden und zu lesen. Er kennt zwar alle geschriebenen Buchstaben, aber nicht die passenden Laute dazu.

Mit diesem Spiel versuchte er spielerisch, die Laute zu lernen. Immer wenn er den Buchstaben anklickt, tönt aus dem Computer der passende Laut und hilft beim Verbinden der Buchstaben, so dass ein Wort entsteht. Das fesselte ihn so sehr, dass er vollkommen die Zeit vergaß. Er versuchte sich das Lesen beizubringen. Dabei versuchte ich ihn zu unterstützen.
Er war zwischendurch sehr aufgeregt und verlor seinen Mut; er sagte: „Ich kann das nicht, du musst mir helfen!“

Ich zeigte ihm, wie es geht, und half ihm dabei. Obwohl er sehr aufgeregt war, konnte er nicht aufhören mit dem Spiel. Nach einer Weile beendete ich das Spiel, weil ich wollte, dass er zur Ruhe kommt. Das tat ihm in diesem Moment gut. Immer wenn er mich jetzt sieht, fragt er ob wir gemeinsam „Schlaumäuse“ spielen (was dann oft auch passiert).

Sprache und Wortschatz

Pablo wächst zweisprachig auf. Er spricht Deutsch und Spanisch fließend. Er baut Haupt- und Nebensätze grammatikalisch korrekt auf. Er hat einen großen Wortschatz, den er einsetzt. Beim Sprechen stottert Pablo ein wenig. Dieses Stottern vermehrt sich, wenn er aufgeregt ist.
Er hört den anderen Kindern aufmerksam zu. Wenn er Fehler in ihrem Satzaufbau erkennt, korrigiert er die Kinder.

Mathematisch-logische Intelligenz

Pablo kann im Zahlenbereich bis 29 zählen und zuordnen. Er erkennt die Zahlen als geschriebene Zahl, er kann Mengen erfassen und kann beurteilen, ob eine Menge größer oder kleiner ist. Dies konnte ich bei einen Spiel beobachten, in dem er laut Spielregel Steine sammeln musste: Derjenige, der die meisten Steine hatte, hat am Ende gewonnen. Er zählte seine Steine und die Steine seines Gegenübers und sagte: „Ich habe 19 Steine und du 17. Ich habe gewonnen, weil ich mehr habe“.
Das Zählen ist zur Zeit eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Er sucht sich bewusst Spiele aus, die mit Zählen oder Zahlen zuordnen zu tun haben.

Inter- und intrapersonale Intelligenz

Pablo ist sehr sensibel und mitfühlend. Er kann sich in Konfliktsituationen gut durchsetzen. Er provoziert aber keinen Streit von sich aus. Im Außengelände konnte ich beobachten, wie Pablo beim Buddeln im Sandkasten ein anderes Kind aus Versehen mit der Schippe traf und ihm weh tat. Dieses Kind weinte laut, woraufhin Pablo sich erschreckte und versuchte, sich um das Kind zu kümmern. Er entschuldigte sich sofort und umarmte das Kind. Das betroffene Kind war aber noch viel zu jung, um Pablo zu verstehen, deshalb schrie es weiter. Da verlor Pablo die Fassung und fing auch an zu weinen. Selbst als das getroffene Kind sich beruhigt hatte, weinte Pablo weiter und musste sich erst einmal auf die Bank setzen und sich von dieser Situation erholen.
Auch sonst ist Pablo ein hilfsbereites und freundliches Kind. Er beobachtet intensiv sein Umfeld und bietet immer seine Hilfe an, wie zum Beispiel beim Aufräumen und bei anderen Aufgaben.

Fazit

Nach einer intensiven Beobachtungsphase kann ich fest stellen, dass Pablo im mathematischen, logischen Denken und auch im Bereich Sprache sehr weit fortgeschritten ist.
Sein besonderes Interesse gilt jedoch der Mathematik, deswegen will ich ihn in der nächsten Zeit in diesem Bereich fördern.

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Datum der Veröffentlichung: Juni 2015
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