von Ellen Görg

 

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Isabel ist nun 3;3 Jahre alt und ihr Interesse an Mengen und Zahlen hat sich stets weiterentwickelt. Das kann ich im gesamten Tagesablauf beobachten. Sie sucht ständig nach neuen Impulsen, um ihren Wissensdurst zu stillen.

Dabei sucht sie oft den Kontakt zu den älteren Kindern. Sie interessiert sich für deren Spiele und schaut ihnen dabei zu. Besonders aufmerksam ist Isabel, wenn unsere Fünf- bis Sechsjährigen „ Halli Galli“ spielen. Deshalb möchte ich ihr dieses Kartenspiel gezielt vorstellen.

 

…kurz gefasst…

Isabel (3;3 Jahre alt) erarbeitet sich schrittweise ein Kartenspiel, das die meisten Kinder erst ab 5 bis 6 Jahren bewältigen. Sie versteht die Spielregel und auch den Wettbewerbscharakter des Spiels – und obwohl sie mit der Reaktionsgeschwindigkeit der Älteren noch nicht mithalten kann, hat sie Spaß am Spiel.

Probleme beim Spielen mit Gleichaltrigen

Auf Grund meiner Beobachtungen kann ich immer wieder feststellen, dass Isabel neue und schwierigere Herausforderungen braucht. Sie fordert sie manchmal direkt ein. Zugleich fällt es ihr in einer Kleingruppe von gleichaltrigen Kindern schwer, deren Spiele über einen längeren Zeitraum zu spielen. Das ist ihr zu langweilig und bringt sie in ihrem Wissensdrang nicht weiter. Es sei denn, sie übernimmt die Spielführung und kann ihr Wissen weiter vermitteln. Aber schnell stellt Isabel fest, dass die gleichaltrigen Kinder ihr nicht folgen können und bricht das Spiel ab, indem sie deutlich äußert, dass sie keine Lust mehr hat. Sie sucht dann wieder den Kontakt zu den älteren Kindern.

Mit dem Spiel „Halli Galli“ möchte ich Isabel eine neue Herausforderung stellen. Das Spiel erfordert eine schnelle Auffassungsgabe und schnelles Reaktionsvermögen. Diese Voraussetzungen sind bei ihr schon sehr gut entwickelt. Ich möchte herausfinden, inwieweit sie schon einen Sinn für Wettbewerbsspiele hat. Oder überfordere ich Isabel damit? Auch möchte ich feststellen, wo ihre Grenzen sind. Sind ihr ihre Grenzen bewusst? Und inwieweit ist Isabel in der Lage, sich so zu motivieren, dass sie bei auftretenden Schwierigkeiten nicht gleich aufgibt und eventuell nach eigenen Lösungsmöglichkeiten sucht.

Sie darf bei den Älteren nicht mitspielen

Da Isabel beim „Halli Galli“-Spiel der älteren Kinder nur zuschauen aber nicht mitspielen darf, fängt sie an, das Spiel zu stören. Ich schlage ihr vor, dass wir beide das Spiel spielen könnten. Isabel ist sofort einverstanden und ich sehe, wie froh sie darüber ist.

„Halli Galli“ ist für Kinder ab sechs Jahren gedacht und wird insgesamt mit 56 Karten gespielt. Ich denke, dass Isabel mit so vielen Karten überfordert sein könnte und fange zunächst mit 20 Karten an.
Das Spiel ist gestaltet wie ein Fruchtsalat. Ich suche zunächst die Karten mit den Fruchtsorten Bananen, Erdbeeren, Pflaumen und Limonen heraus. Zu jeder Fruchtsorte gibt es fünf Karten mit jeweils einer bis fünf Früchten.

Die Spielkarten werden an die Spieler verteilt und jeder Spieler legt seine Karten verdeckt vor sich hin. Reihum decken die Spieler eine ihrer Karten auf und legen sie offen in die Mitte. Dadurch verändert sich die Mischung des „Fruchtsalats“ ständig. Aber aufgepasst: Sobald auf zwei aufgedeckten Spielkarten die gleiche Anzahl Früchte zu sehen ist, muss man auf die Glocke schlagen. Der Schnellste gewinnt die beiden Karten.

Um ungestört zu sein, gehe ich mit Isabel zum Spielen in den Musikraum. Zuerst betrachtet sie die Spielkarten, dann probiert sie die Glocke aus, ob diese auch funktioniert.
Auf meine Frage: „Was kannst du auf den Spielkarten sehen? Welche Früchte kannst du erkennen?“ kann Isabel alle Früchte aufzählen. Nur die Limone betrachtet sie als Weintraube. Das ist aber für mich okay. Als ich sie frage, wie viele Früchte auf den Karten zu sehen sind, kann sie mit ihrem Finger die Früchte bis vier richtig abzählen, bei der fünf zählt sie immer einen weiter bis zur sechs.

Ich biete Isabel an, dass wir noch mal gemeinsam das Abzählen der Früchte üben. Sie nimmt dieses Angebot an, aber nur für kurze Zeit. Sie zählt dann immer bis 20, um mir zu zeigen, dass sie richtig zählen kann. Dafür lobe ich sie auch. Für mich ist das aber auch ein Hinweis, dass Isabel das Spiel spielen möchte und sich nicht länger an Nebensächlichkeiten aufhalten will.

Die Spielregel ist nicht alles

Ich erkläre ihr die Spielregel. Dann mischen wir die Karten und ich teile sie aus. Jeder bekommt einen Stapel mit zehn Karten. Beim Spiel beobachte ich, dass Isabel die Spielregel nicht beachtet. Sie beschäftigt sich vorwiegend mit der Menge der Früchte auf den Karten. Die Glocke, die vor dem Spiel noch interessant war, ist nur noch nebensächlich. Meine Versuche, sie noch mal auf die Spielregel hinzuweisen, ignoriert sie.

Ist Isabel mit der Spielregel überfordert? Oder ist es für sie wichtiger, sich zuerst intensiv mit dem Material auseinanderzusetzen? Isabel setzt das Spiel fort, indem sie die Karten nach den Mengen der Früchte sortiert. Alle Karten mit einer Frucht auf einen Stapel, dann alle Karten mit zwei Früchten usw. bis alle Karten geordnet sind. Dies macht sie selbstständig und ich bin überrascht, dass sie schon in der Lage ist, eine eigene Strategie zu entwickeln. Deshalb unterbreche ich sie auch nicht, denn sie ist dabei sehr konzentriert. Nach etwa 20 Minuten räumt sie das Spiel ein und will zu den anderen Kindern gehen. Sie fragt mich aber, ob ich das Spiel im Nebenraum liegen lassen kann, da sie später wieder damit spielen möchte. Ich bejahe und Isabel zeigt sich zufrieden.

Und doch hat sie die Spielregel verstanden

Am darauf folgenden Tag fordert Isabel mich auf, mit ihr in den Musikraum zu gehen, um „Halli Galli“ zu spielen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Isabel von sich aus zu mir kommt und das Spiel spielen möchte. Ich habe angenommen, dass ich sie mit diesem Spiel überfordert habe.
Ich frage sie dann, ob vielleicht noch andere Kinder mitspielen können. Das verneint sie. Wir gehen in den Musikraum, wo das Spiel noch auf dem Tisch liegt. Isabel legt die Karten hin und stellt die Glocke daneben.
Ich frage: „Was müssen wir als nächstes tun?“ Isabel: „Die Karten mischen und austeilen.“ – „Möchtest du das allein machen, oder soll ich dir helfen?“ Sie mischt und teilt die Karten aus. „Soll ich dir die Spielregel noch mal erklären, oder weißt du sie noch?“

Isabel:
„Karten umdrehen und wenn genau soviel Früchte drauf sind, auf die Glocke schlagen.“

Ich bin überwältigt, mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet! Eigentlich wollte ich ihr noch mal alles erklären. Ich will aber überprüfen, ob Isabel in der Lage ist, das bereits vermittelte Wissen (Spielregel) anzuwenden. Denn hoch begabte / überdurchschnittlich begabte Kinder verlieren durch Wiederholungen oft den Reiz an Dingen, wenn sie das zugrundeliegende Prinzip begriffen haben. Ich teste es aus und liege mit meiner Vermutung richtig.
Der Spielablauf entspricht im wesentlichen der Spielregel. Wir spielen das Spiel zweimal, und haben sehr viel Spaß miteinander, Isabel zeigt eine große Ausdauer.

Probleme mit dem Spiel in der Kleingruppe

Am nächsten Tag will ich dieses Spiel in einer Kleingruppe von vier Kindern spielen. Dazu wähle ich ein älteres Kind Emmily (5;8 Jahre) und dann noch Fiona (3;6 Jahre) und Marian (3;2 Jahre). Im Musikraum bereite ich alles vor und gehe mit der Kleingruppe zum Spiel.

Isabel merkt sofort, was jetzt stattfinden soll. Sie äußert: „Ich möchte nicht mitspielen“ und verlässt den Raum. Ich bin überrascht, denn mit dieser Reaktion habe ich nicht gerechnet. Sie zeigt nicht das geringste Interesse. Da ich die anderen Kinder nicht enttäuschen will, spiele ich mit ihnen das Spiel. Emmily, unser Vorschulkind, übernimmt die Spielführung und erklärt den anderen Kindern die Spielregeln.

Mich beschäftigt dieses Verhalten Isabels sehr. Ich frage sie anschließend, warum sie nicht mit uns zusammen spielen wollte. Ihre Antwort: „Ich möchte nicht mit Marian und Fiona das Spiel spielen.“ Beide sind ungefähr in Isabels Alter. „Und warum nicht?“ Isabel: „Die können das Spiel noch nicht spielen.“

Interessant! Kann es sein, dass ihr adäquate Spielpartner für anspruchsvolle Ziele nicht zur Verfügung stehen und dass sie schon so früh zu der Schlussfolgerung kommt, ihre Ziele am besten allein oder mit mir zu verfolgen und dass es für sie keinen Sinn macht, sich dafür mit Anderen zusammen zu tun? Ich muss es herausfinden.

Die Wettbewerbs-Variante funktioniert noch nicht

Am folgenden Tag fordert Isabel mich auf, mit ihr das Spiel zu spielen. Sie geht mit mir in den Musikraum, und fängt gleich an, das Spiel vorzubereiten. Die erste Spielrunde verläuft wie immer ohne Wettbewerb.
Danach erkläre ich ihr, was ein Wettbewerbsspiel ist: dass man sehr schnell sein und genau aufpassen muss. Und dass der Schnellste gewinnt. Isabel zeigt Begeisterung und will es ausprobieren.

Ich beobachte, dass Isabel sehr aufmerksam die Anzahl der Früchte auf den Spielkarten vergleicht. Dadurch bleibt jedoch das schnelle Reaktionsvermögen auf der Strecke. Ab und zu fällt ihr wieder ein, dass man ja auch schnell auf die Glocke schlagen soll. Dann macht sie es zwischendurch. Ohne sich davon zu überzeugen, ob es richtig ist. Obwohl sie einige Misserfolge einstecken muss, hat sie Spaß beim Spielen. Sie äußert auch den Wunsch, das Spiel wieder zu spielen.

Ich glaube, dass Isabel den Sinn des Wettbewerbs erfasst hat. Sie braucht aber noch die nötige Übung, um Konzentration und Schnelligkeit zu kombinieren. An ihrem Verhalten sehe ich, dass Isabel an ihre Grenzen gekommen ist: etwa wenn sie ärgerlich in sich hinein brummt, wenn es nicht so klappt, wie sie will, oder wenn sie die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Es ist wichtig für mich zu beobachten, dass Isabel trotzdem Spaß und Freude am Spiel hat. Und sie entwickelt den Ehrgeiz, es beim nächsten Spiel besser zu machen. Ich bin sehr auf den weiteren Verlauf gespannt. Denn ich verfolge mein Ziel weiter, dieses Spiel mit Isabel in einer Kleingruppe zu spielen.

Was hat Isabel geschafft?

Isabel zeigt von Anfang an großes Interesse daran, das Spiel „Halli Galli“ zu lernen. Denn sie will ja schon immer bei den älteren Kindern mitspielen, wird bisher aber immer abgewiesen. Obwohl ich bei unseren ersten Zusammentreffen meine Zweifel habe, als Isabel sich nur mit dem Spielmaterial auseinandersetzt. Aber je mehr ich mich damit beschäftige, scheint es mir auch logisch, denn sie will sich eigenständig mit dem Spiel auseinandersetzen, sich selbst einen Überblick verschaffen und auch eigenwillige Lernstrategien versuchen.

Dabei ist sie sehr konzentriert und aufmerksam. Deshalb habe ich ihr die Möglichkeit gegeben und sie nicht unterbrochen. Es hätte auch keinen Zweck, denn Isabel ist schon eine starke Persönlichkeit, und kann ihre eigenen Interessen gut umsetzen.

Gut ist auch, dass ich die Anzahl der Spielkarten reduziert habe. So kann sich Isabel einen schnellen Überblick über die Früchte und deren Anzahl verschaffen. Interessant ist auch, dass sie die Karten nach der Anzahl der Früchte sortiert. Ich vermute, dass sie genau überprüfen will, ob von jeder Sorte Früchte die gleiche Anzahl vorhanden ist.

Dass Isabel das eigentliche Spiel zunächst gar nicht ausprobieren will, verwunderte mich schon. Aber es ist ihre Entscheidung und die akzeptiere ich. Umso mehr staune ich am zweiten Tag, dass sie alles weiß, was wir beim ersten Mal besprochen haben. Sie baut das Spiel selbstständig auf und kann die Spielregeln wiedergeben. Ehrlich gesagt, habe ich es geahnt, dass sie dazu in der Lage ist. Aber wenn es dann eintrifft, kann man es doch kaum glauben.

Den Wettbewerbscharakter des Spiels hat sie verstanden. Isabel weiß worauf es ankommt, doch die erforderliche schnelle Reaktion gelingt ihr nicht sofort. Die muss offenbar erst eingeübt werden.

Es ist mir noch nicht gelungen, Isabel bei diesem Spiel in die Kleingruppe zu integrieren. Liegt es an der Zusammensetzung der Kindergruppe? Sollte ich vielleicht die älteren Kinder auswählen, bei denen sie immer zusieht? Starkes Interesse am Umgang mit älteren Kindern gilt ja als ein Anzeichen für besonders Begabte.
Ich werde versuchen, die älteren Kinder so zu motivieren, dass sie eventuell Isabel in ihr Spiel mit einbeziehen. Oder ich frage Isabel, mit welchen Kindern sie das Spiel spielen möchte.
Die Anzahl der Spielkarten im Spiel werde ich gemeinsam mit Isabel in der nächsten Zeit erweitern, Isabel kann selber bestimmen, wie viele Spielkarten sie dazu nehmen möchte.

Wie es weiter ging:

Bei Zahlen-Spielen findet Isabel (3;8) passende Spielgefährten

 

Datum der Veröffentlichung: Juni 2015
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.