von Hanna Vock

 

Die Situation

Bonner Rheinauenpark, Schnee, Sonnenschein, rodelnde Kinder. Im chronisch schneearmen Bonn rodeln die Kinder heute völlig begeistert an den zig Wiesenhängen, die der Park in vielfältiger Höhe und Steilheit bietet.

Ich habe keinen Schlitten dabei und sehe den rodelnden Kindern eine Weile zu. Auf meinem Spaziergang begleitet mich ein elfjähriger hoch begabter Junge.

Auf meine Freude über das Vergnügen der Kinder fällt ein Schatten. Ich sehe an einer Stelle des Parks etliche Eltern, die oben am Hang stehen und ihren Kindern zusehen, wie sie ganz klar erkennbar durch die schneebedeckten Prachtbeete des Parks rodeln. Die Schlitten haben große Stellen schon völlig plattgewalzt. Muss das sein? Nein, es gibt 50 Meter weiter einen genauso tollen Hang ohne Blumenbeete.

Also spreche ich einen Vater und eine etwas weiter entfernt stehende Mutter freundlich an.

Der Dialog

-„Entschuldigung, wahrscheinlich wissen Sie es nicht. Da unten sind Blumenbeete; dort haben die Gärtner in mühevoller Arbeit schon die Stiefmütterchen fürs Frühjahr gepflanzt. Vielleicht können Ihre Kinder an einem der anderen Hänge rodeln?“-

Die Mutter, die nahe genug steht, um alles zu hören, reagiert nicht und mischt sich auch im weiteren Verlauf nicht in das Gespräch ein.

Der Vater reagiert gereizt: „Na und? Die Kinder dürfen ja wohl auch mal ihr Vergnügen haben?“

Ich bleibe ganz freundlich: -„Dagegen ist ja nichts zu sagen, darum geht es mir auch nicht. Neulich war ich mit meinem Enkel an einem Hang hier in der Nähe, und wir hatten auch viel Vergnügen.

Es ist doch aber so, dass es hier ganz viele Hänge ohne Blumenbeete gibt, gleich da, 50 Meter weiter, zum Beispiel, und da drüben auch. Hier an dieser Stelle gehen die Blumenbeete kaputt, und die sind ja auch unsere Freude. Und es kostet unnütz Steuergelder, das im Frühjahr alles wieder neu zu bepflanzen.“-

Antwort, hämisch: „Ach so, Ihre Freude. Und das Geld . Das ist natürlich wichtiger als der Spaß der Kinder!“ Wendet sich ab.

Die Analyse

Neben mir steht der hoch begabte elfjährige Junge. Er hat den Dialog verfolgt und gibt mir jetzt seine Einschätzung und seine Analyse.

– „Ich finde, der Mann ist dumm und faul … und feige. Die Frau tut so, als würde es sie nichts angehen, das finde ich auch feige.“ –

-„Warum glaubst du, dass der Mann dumm ist?“ –

– „Er ist dumm, weil er nur Falsches gedacht hat. Er hat gedacht, dir ist der Spaß der Kinder nicht wichtig. Er denkt, dein Spaß an den Blumen wäre dir wichtiger als das Vergnügen der Kinder. Er denkt, du findest Geld wichtiger als das Vergnügen von Kindern. Er denkt du bist eine Spaßbremse. Dabei würdest du ja jetzt selber rodeln, wenn du hier jetzt einen Schlitten hättest, und nicht bloß so rumstehen und zugucken. Aber du würdest eben nicht durch die Blumenbeete fahren.

Aber ich glaube nicht, dass er was verstanden hat. Er hätte ja auch sagen können >O das wusste ich nicht< oder >O das ist ja wirklich blöd, dann suchen wir uns eine andere Stelle.<

Wenn einer so reagieren würde, das fände ich gut.“ –

– „Und wieso hältst du ihn für faul?“ –

– „Er ist zu faul, es seinem Kind zu erklären, warum sie woanders hingehen sollten. Und er ist zu faul, sich selber 100 Meter weiter zu bewegen bis zu einem Hang ohne Beete. Er ist zu faul, sich vorzustellen, was das für Folgen hat, wenn sein Kind hier die Beete kaputt rodelt. Später meckert er dann aber vielleicht, dass er mehr Steuern zahlen muss.“ –

– „Und wieso hältst du ihn für feige?“ –

– „Er kann sich selber und dir den Fehler nicht eingestehen. Das ist denk-feige.“ –

– „Und wie findest du es, dass die Frau gar nichts gesagt hat?“ –

– „Das kann einen deprimieren, wenn Leute so tun, als ginge sie das alles gar nichts an und einfach so weiter machen.“ –

Die Folgen

– „Und, bist du deprimiert?“ –

– „Es gibt ja ganz viele Menschen, die so sind wie diese Leute. Es ist ja nicht nur, wenn es um Blumenbeete geht, sondern überhaupt. Und deshalb glaube ich persönlich nicht, dass die Erde noch zu retten ist. Das kann auch passieren, dass alles kaputt geht, während ich noch lebe. Manchmal habe ich große Angst, wie das dann ist. … Auf keinen Fall will ich später mal Kinder haben, denn für die geht es bestimmt nicht gut aus.“ –

– „Kannst du irgendwas dagegen tun?“ –

– „Welt retten oder so? Nein, kann ich nicht. Kann keiner. Werde es wohl ertragen müssen. Am liebsten hätte ich dann ein schnell wirkendes Gift, das ich dann nehmen könnte, wenn es soweit ist.“ –

(Der Junge ist mit der anonymen Veröffentlichung unseres Gesprächs einverstanden.)

Die Frage und der Versuch einer Antwort

Ist das übertrieben, was der Junge aus dieser Situation ableitet, oder ist es nicht übertrieben? Nun ist es kein großes Verbrechen, Stiefmütterchenpflanzen platt zu rodeln. Das ist es auch nicht, was den Jungen zu einer so scharfen Analyse bewegt hat.

Er sieht in dieser Szene Gedankenlosigkeit, Gedankenunschärfe und Gleichgültigkeit von Erwachsenen. Und er erlebt im Prinzip Ähnliches nicht zum ersten Mal. Seine Einschätzung ist: Ganz viele Erwachsene verhalten sich immer wieder und in den unterschiedlichsten Situationen dumm. Dies hat er schon oft erfahren und beobachtet.

Wann hat er begonnen, sich darüber Gedanken zu machen? Ich habe ihn gefragt. Er antwortete: „Das war schon im Kindergarten. Da hatten wir so eine dumme Erzieherin. Die hat immer gesagt: Das und das ist die Regel, das ist ganz wichtig, dass ihr euch danach richtet – aber wenn sie keine Lust hatte hinzugehen und was zu unternehmen, dann hat sie gesagt: >Ja, ja, kümmere dich um deine Sachen.< Wenn ich dann gesagt habe: >Aber das ist doch gegen die Regel<, dann hat sie gesagt: >Ja, ja, spiel dich nicht auf. Du bist hier nicht der Polizist.<“

Siehe auch : Regeln und Grenzen

Mein junger Gesprächspartner sieht diese weit verbreitete Gedankenlosigkeit, Gedankenunschärfe und Gleichgültigkeit als verantwortlich an für einen drohenden Untergang der menschlichen Zivilisation. Diese Eigenschaften machen ihm Angst, und er fühlt sich demgegenüber allein und hilflos.

Er braucht Unterstützung von Menschen, denen zwar Fehler unterlaufen, die sie aber einsehen und zugeben können (siehe oben: „Wenn einer so reagieren würde, das fände ich gut.“) – und die er im Großen und Ganzen nicht für gedankenlos, gedankenunscharf oder gleichgültig hält. Diese Menschen kommen zu ähnlichen Interpretationen wie er selbst, was aus der Einsamkeit befreit, wenn er sich darüber austauschen kann. Sie können ihm ihre eigenen Verarbeitungsmuster anbieten, was ihm helfen könnte, mit der Dummheit in der Welt zu leben, ohne zu verzweifeln (an Gift-Selbstmord zu denken).

Sie können ihm nahe bringen, dass es durchaus auch viele Erwachsene gibt, die kluge Konzepte erdenken und versuchen, sie umzusetzen, und zwar in allen Feldern der menschlichen Zivilisation, so zum Beispiel in manchen Bereichen der Wissenschaften. Mit diesen Menschen gemeinsam zu wirken und bei ihnen einen geachteten Platz zu finden, könnte sich zu einem positiven Lebensziel entwickeln und die Ängste relativieren.

Dies spricht für den engagierten Einsatz der Eltern in diesem Sinne, und für
Einzelförderung für hoch begabte Kinder und Jugendliche. Es spricht für das Beteiligen von hoch begabten Kindern und Jugendlichen an echten, zukunftsträchtigen Projekten.

Ein schönes Beispiel dafür findet sich in dem Buch: Zeit der Geparden, auf den Seiten 29-36. (Siehe Literaturverzeichnis.)

Der Tabubruch

Hoch begabte Kinder brechen oft ein Tabu: Sie halten bestimmte Erwachsene für dumm. Manchmal sagen sie das auch und ernten Reaktionen, die sie ahnen lassen, dass hier ein starkes Tabu existiert.

Es wird oft schon als schlimm empfunden, wenn Kinder andere Kinder für dumm halten – aber Erwachsene haben sie überhaupt nicht in dieser Weise einzuschätzen.

Darf ein Kind Erwachsene für dumm halten? Dabei ist es eine andere Frage, ob und wie ein Kind dies gegenüber dem betreffenden Erwachsenen äußern sollte; auch hier ist eine Erziehung zu Taktgefühl und zum Vermeiden unnötiger Kränkungen wichtig.

Tatsache ist, dass hoch begabte Kinder die geäußerten Gedanken und das Handeln Erwachsener früh analysieren und bewertende Schlüsse ziehen. Dies ist Teil ihres intensiven Drangs zum Denken, um die Welt zu begreifen. Vor allem sozial sehr begabte Kinder beobachten genau, wie Erwachsene agieren und bilden sich dazu eine Meinung.

Natürlich können sie dabei irren oder vorschnell urteilen, wie das auch uns Erwachsenen immer wieder passiert. Allerdings sind die Einschätzungen, wenn man genauer hinsieht und hinhört, oft erstaunlich präzise und fundiert. Die oben beschriebene Szene ist ein Beispiel dafür.

Wenn Kinder immer wieder erleben, dass Erwachsene unlogisch denken, Zusammenhänge nicht sehen oder verdrehen, die Komplexität eines gegebenen Problems nicht erfassen, nicht ihren Aussagen entsprechend handeln, erschreckend uninformiert sind und sich auch nicht informieren wollen, dann hat das für die hoch begabten Kinder auch psychische Auswirkungen, die vielleicht nicht zu vermeiden sind, die es aber in der Arbeit mit den Kindern zu beachten gilt.

Es ist auch wichtig, sich selbst zu hinterfragen: Wie gut kann ich als Erzieherin damit umgehen, wenn ein Kind mir einen Fehler, eine Dummheit vorhält? Habe ich Angst davor, dass das Kind mich generell für dumm halten könnte? Und was würde das für mich bedeuten?

Von etlichen hoch begabten Jugendlichen habe ich erfahren, dass sie innerlich lange mit ihren Erfahrungen gerungen haben, dass sie lange Zeit gerne glauben wollten, dass die meisten Erwachsenen über dieselben Denk- und Urteilsfähigkeiten verfügten wie sie selbst. Für manche Kinder war es ein langer und schmerzhafter (und einsamer) Prozess, endgültig zu erkennen, dass dies nicht so ist. Das oben angeführte Tabu tut ein Übriges dazu.

Es ist wichtig, die Denkprozesse hoch begabter Kinder Ernst zu nehmen, wenn sie an ihren Vorstellungen über ihre soziale Umwelt arbeiten.

Es ist wichtig, das Tabu zu brechen – in Einheit mit der erzieherischen Forderung zu Respekt, Takt und Zurückhaltung. Wenn das Kind aber unmittelbar unter dummen Ideen und Konzepten Erwachsener leidet (egal ob in der Familie, der Kita, der Schule oder der weiteren Umwelt) sollte es Unterstützung erfahren. Das Mindeste ist, die Eindrücke und Überlegungen des Kindes tabulos zu diskutieren – und wenn es überzeugt, ihm auch mitzuteilen, dass man ähnlich darüber denkt.

Die Gedanken sollten frei sein; erst danach kommen (bezogen auf die Ebene des Verhaltens) Überlegungen zu Rücksichtnahme, Taktgefühl oder auch taktisch klugem Verhalten gegenüber Mächtigeren.

 

Noch ein Zitat zum Abschluss, das helfen soll Hochbegabte besser zu verstehen:

„Stellen Sie sich ein Leben in einer Welt vor, in der der mittlere IQ 50 oder 60 ist und die meisten anderen eigentlich retardiert sind! Bedenken Sie, dass es keine andere Welt gibt, in der Sie leben könnten, und dass die Welt ja meist nur Mittelmaß hervorbringt!
Die große Frage lautet also, ob wir lernen könnten, gern in jener Welt zu leben, persönlich zufrieden, teilhabend und freudig, oder ob wir zornig, niedergestimmt und unglücklich wären … und schließlich vielleicht zu der Überzeugung gelangten, ein solches Leben sei nicht lebenswert.“
(Aus: Webb, James T . u.a. (2002), Seite 41 – siehe Literaturverzeichnis.)

Ein pädagogischer Ansatz, um die Frage zu einer positiven Antwort zu bringen, ist die Bemühung, hoch begabte Kinder früh andere hoch begabte Kinder und hoch begabte Erwachsene kennen lernen und zu lassen.

Mit anderen Hochbegabten zu spielen, zu lernen und zu arbeiten, führt aus der geistigen und emotionalen Isolation
– und verhindert Verzweiflung.

 

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