von Isabel Bonifert-Manig

 

Winnie (Name geändert), zur Zeit meiner Beobachtung 3;8 Jahre alt, ist mir als sehr selbstbewusstes, mutiges Mädchen aufgefallen. Sie legt sich nicht selten mit einer Gruppe älterer Jungen an, um einen begehrten Spielort oder ein Spielzeug zu verteidigen. Sie ist dabei sehr wortgewandt und schafft es oft ohne die Hilfe eines Erziehers, die Eindringlinge in die Flucht zu schlagen. Sie hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und kann sich jetzt schon als Sprecherin und Vermittlerin für andere einsetzen.

Winnie hat sich sehr schnell in den Kindergartenalltag eingelebt. Sie kennt alle Regeln, alle Erzieher und kann sich im Haus sehr gut orientieren. Hierdurch hebt sie sich von anderen Kindern ab, die im selben Alter wie sie in den Kindergarten gekommen sind. Man hat das Gefühl, dass sie schon seit Jahren die Einrichtung besucht.

Winnie lernt schnell. Sie ist immer mit vollem Einsatz bei den Morgenkreisen dabei. Hebt die Hand (das Zeichen für Ruhe und Aufmerksamkeit) und wartet auf das Vorhaben des Erziehers. Sie kann sehr ärgerlich über Störenfriede werden und faucht sie nicht selten an, endlich Ruhe zu geben.

Sie merkt sich das Tagesprogramm, ist gut strukturiert und kann sich sehr klar für Angebote entscheiden. Auch diese Fähigkeiten fallen gegenüber den anderen Gleichaltrigen sehr auf. Ein anderes Kind meldet sich munter für alle Vorhaben und kennt das Zeichen für Stillsein nicht. Schaut wie gebannt auf eine Gruppe anderer Kinder und bekommt nicht mit, wenn es gefragt wird. Es rennt zunächst in die falsche Richtung und schließt sich der falschen Gruppe an. Wieder ein anderes Kind sitzt wie gebannt im Kreis mit offenem Mund, singt nicht mit, meldet sich nicht und kann sich nicht entscheiden. Allein die große Gruppe ist so überwältigend, dass es noch gar nicht in der Lage ist, sich in ihr wahrzunehmen oder gar sich zu äußern. Da die Mehrheit der Kleinen noch in der Orientierungsphase steckt, ist es wichtig für den Erzieher, durch ständiges Wiederholen Struktur und Sicherheit zu schaffen.

Dies braucht Winnie nicht.

Es gibt auch noch einen extra Spielkreis, den „Gelbikreis“ für die jüngsten Kinder. Ich sehe für Winnie schon in Kürze das Problem der Unterforderung. Jetzt ist sie noch damit gefordert, die Regeln einzuhalten, es so mitzumachen wie es von den Erziehern konzipiert wurde, aber ich glaube, dass es ihr bald zu dumm ist, ständig auf die anderen warten zu müssen. Sie wird versuchen, sich herauszuziehen oder auch anfangen zu stören. Hier müsste man sicher mit ihr offen besprechen, wie gerne sie an diesem Kreis teilnimmt, wie spannend und interessant die Spiele und Aufgaben dort sind. Auf der anderen Seite identifiziert sie sich auch mit ihrer Altersgruppe, den „Gelbis“, und möchte auch gleichaltrige Freunde finden.

Winnie ist sehr eigen in ihren Ausführungen. Beim Singen mit mir und zwei weiteren Kindern unterbrach sie mich öfters und sagte: „Jetzt singe ich dir mal was vor.“ Sie nahm meine eben gesungene Melodie und sang einen spontan gereimten Text darauf und lachte sich dabei kaputt. Als ich wieder mit meinem Lied begann, unterbrach sie mich wieder, nahm meinen Text zu einer selbst ausgedachten schrägen Melodie. Das machte ihr so viel Spaß, dass wir ewig weiter sangen nach ihren Spielregeln. Ihre Texte beinhalteten immer Dinge, die sie gerade sah, und sie versuchte, sie in einen Zusammenhang zu bringen. Zum Beispiel sang sie auf die Melodie: Fuchs du hast die Gans gestohlen:

„Baum du hast das Gras gestohlen, gib es wieder her, gib es wieder her, sonst kommt dich ein Mann abholen mit der Axt daher-her-her.“

Sie besitzt einen großen Wortschatz und kann sich in der Regel sehr gut ausdrücken. Sie hat für ihr Handeln immer eine gute Erklärung und beharrt auf ihrer Meinung. Als ich sie einmal aufgefordert habe etwas zu malen, hat sie ein paar Striche gemalt und mir erklärt. „Du weißt ja, dass ich eine Giraffe noch nicht so gut malen kann, aber hier steht sie jetzt im Nebel und dann kann man sie ja auch nicht besser erkennen“. Im wöchentlichen Kita-Englischunterricht ist es für sie keine Mühe, die Fremdsprache zu erlernen. Sie merkt sich jedes Wort und kann es mühelos aussprechen.

Manchmal erlebe ich sie allerdings auch so voll mit Ideen und Mitteilungsbedürfnis, dass sie es kaum schafft, alles in Worte zu fassen. Sie versucht mit ihrem ganzen Körper auszudrücken, was sie sagen will und ringt förmlich nach Luft. Sie wirkt anschließend richtig erschöpft und muss erst mal etwas in Ruhe malen oder basteln.

Winnie ist sehr interessiert, ein Thema weiterzuverfolgen. Sie ist immer dabei, wenn der Erzieher das eine oder andere Thema vertiefen möchte, indem er beispielsweise in einem Buch nachliest, was noch wissenswert ist. Sie kann sich dann noch lange darüber Gedanken machen und hat immer völlig eigene Ideen. Sie lässt sich sehr ungern helfen und geht schon jetzt ganz eigene Wege, die ich gar nicht immer nachvollziehen kann.

Im Freispiel sehe ich Winnie häufig im Rollenspiel mit zwei oder drei anderen Mädchen versunken. Mit Jungen spielt sie eigentlich nie und will es auch nicht, „weil die sowieso nur ärgern“. Winnie spielt gerne dramatische Spiele. Sie spielt dabei oft ein Schulkind in einer Familie und ihr passieren schlimme Dinge. Sie wird auf ihrem Schulweg von einem Auto überfahren oder von Räubern entführt. Sie denkt sich diese Spiele fast immer alleine aus, und ihre Freundinnen spielen so mit, wie Winnie es bestimmt. Nur selten entsteht dabei Unmut bei ihren Mitspielern. Ihre Ideen gefallen ihnen meist so gut, dass sie ihre Rollenverteilung akzeptieren.

Ihre soziale Kompetenz und Intelligenz, die ich ja schon am Anfang beschrieben habe, imponieren mir sehr.

Für zählende und ordnende Tätigkeiten ist sie nicht zu gewinnen. Zumindest ist sie auf meine Vorschläge überhaupt nicht eingegangen. Sie spielt allerdings sehr gerne ein Spiel, dessen Namen ich leider vergessen habe, bei dem man kleine Murmeln oder Steine in viele vorgegebene Mulden legt und diese mit einem Gegenspieler immer wieder umverteilt, um nach und nach alle Steine in seine Mulden zu bringen. Hier muss man zählen, verteilen, Mengen einschätzen und vorausschauen können, wo die meisten Steine liegen werden. Dieses Spiel beherrscht Winnie schon recht gut. Es ist eigentlich ein Spiel aus dem Hort.

 

Datum der Veröffentlichung: 13.4.10
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