von Hanna Vock

 

Akzeleration (Beschleunigung) und Enrichment (Anreicherung) sind zwei Methoden der Begabtenförderung – gedacht ist dabei meistens an Schule: Klasse überspringen, in einzelnen Fächern am Unterricht einer höheren Klasse teilnehmen, noch während der Schulzeit auch an der Uni studieren.

Aber auch in der Kita können wir Akzeleration und Enrichment nutzen, und zwar in verschiedenen Formen.

Akzeleration in der Kita:
Wir können das Kind in ein besser passendes Spiel- und Lernumfeld „versetzen“.

1.
Das kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass wir dem Kind die frühe Teilnahme an den Angeboten anbieten, die eigentlich für ältere Kinder gedacht sind, zum Beispiel für die Kinder, die am Ende des laufenden Kita-Jahres eingeschult werden (Vorschulprogramm).

Hier werden ein paar Praxis-Beispiele vorgestellt, die in den verlinkten Beiträgen ausführlich beschrieben sind:

Zwei Kleine im „Club der großen Forscher“.
Gabriele Drescher-Krumrey berichtet, dass sie im Jahr 2006 erstmalig zwei jüngere, noch nicht für die Einschulung im nächsten Sommer vorgesehene Kinder in den „Club der Großen Forscher“ integriert hat und dabei auf große Skepsis bei ihren Kolleginnen traf. Die Altersspanne im Club reichte von 5;1 bis 6;2. Hinzu kommen sollten Elias (4;9) und Jill, die gerade erst 4 Jahre alt geworden war. Der Versuchs verlief positiv und brachte interessante Erkenntnisse.

Förderung für Konstantin
Christa Ploth berichtet, dass sie Konstantin (4;2) nach gründlicher Beobachtung in die Maxi Gruppe Zahlen (für die Vorschulkinder) aufgenommen hat und dass er dort gut zurecht gekommen ist. Konstantin zeigte große Lust, sich mit Zahlen zu beschäftigen und brachte auch eigene Ideen ein. Sie schreibt: „Seine Fähigkeit, Dinge selbst zu entwickeln und auf experimentelle Weise herauszufinden, war für mich eine neue Erfahrung und es hat mir Freude gemacht, ihn intensiv zu unterstützen.“

Besonders begabte Kinder in einer Englisch AG
Verena Demirel und Silvia Petrikowski beschreiben eine Englisch AG. Die noch nicht 5-jährige Nayla nimmt mit Freude und Erfolg daran teil, obwohl sie dort mit Abstand die Jüngste ist – und obwohl sie es mit Türkisch und Deutsch schon mit zwei Sprachen zu tun hat, die sie allerdings beide schon sehr gut spricht.

Würzburger Sprachprogramm 1 Jahr früher
Antje Sahm berichtet über Marike (5;1). Marike gehört noch nicht zu den Vorschulkindern, die Erzieherin entscheidet aber aufgrund ihrer Beobachtungen, sie schon beim Würzburger Sprachprogramm mitmachen zu lassen, was Marike mühelos bewältigt. Nun werden ihr auch schwierigere Spiele angeboten und Marike kommt wieder gerne in den Kindergarten.

Und die Erzieherin Sandra Krefft schreibt:
„Für mein Projekt nahm ich die viel jüngere Paula dazu, da sie schon sehr weit ist. Anfangs waren die anderen Kinder gar nicht offen für sie, da sie ja noch zu den „Kleinen“ gehört. Sie fragten mich auch am ersten Tag danach, warum Paula bei dem Projekt mitmacht und hatten eher eine abwehrende Haltung ihr gegenüber.

Ich erklärte ihnen, dass Paula schon viel weiß und dass sie gerne mitmachen möchte (sie war ja von Anfang an sehr interessiert) und dass es auch egal ist, wie alt jeder von ihnen ist. Damit war es dann auch für sie in Ordnung, und mit jedem Projekttag wurde sie immer mehr ins Geschehen integriert. Die anderen Kinder ließen sie genauso ausreden wie die älteren und sagten nichts mehr darüber, dass sie mit Abstand die Jüngste der Projektgruppe war.

Ich denke, das war das Wichtigste, was Paula während des Projektes erfahren hat. Natürlich hat sie auch einiges über das Thema Wasser und Experimente dazugelernt. Aber ich konnte deutlich sehen, wie Paula sich immer wohler fühlte und offener wurde. Anfangs war sie still, schaute mehr zu und sprach sehr leise, wenn sie etwas beitragen wollte. Zum Schluss hin hatte ich das Gefühl, dass auch sie keinen Unterschied mehr machte zwischen sich und den anderen.

Auch im täglichen Gruppengeschehen hat sie jetzt viel Kontakt mit den anderen Kindern des Projekts und ist regelrecht aufgeblüht. Und sie wurde früh erfolgreich eingeschult!“

2.
Wir können einem vermutlich hoch begabten Kind auch einen kompletten Wechsel in eine andere Gruppe mit älteren Kindern vorschlagen.

In einer mehrgruppigen Kita besteht manchmal die Möglichkeit, dauerhafte Unterforderung dadurch zu vermeiden, dass das Kind in eine Gruppe wechselt, in der mehr ältere und/oder kognitiv weiter entwickelte Kinder betreut werden.
Dies gilt auch und gerade für sehr junge Kinder. Sie sind häufig in Gruppen, in denen keine oder nur wenige Kinder betreut werden, die bereits über drei Jahre alt sind. In diesen Gruppen ist besonders darauf zu achten, dass Kinder, die durch eine gute Sprachbeherrschung, durch weit entwickeltes Spiel und/oder durch eine große Selbstständigkeit auffallen, rechtzeitig die Gruppe wechseln können. Manche besonders begabte Kinder passen mit zwei Jahren deutlich besser in eine Gruppe 3- bis 6-Jähriger als in eine Kleinkindgruppe. Da ein solcher Gruppenwechsel für das Kind alltäglich von großer Bedeutung ist, sollte er nicht wegen organisatorischer Probleme unterbleiben.

3.
Wir können überlegen, ob wir für das Kind eine frühe Einschulung empfehlen können.

Die Früheinschulung ist eine inzwischen bewährte Form der Akzeleration. Ob diese Maßnahme im Einzelfall für ein bestimmtes Kind sinnvoll ist, sollte vorher sorgfältig geprüft werden. In den Entscheidungsprozess sollten alle einbezogen werden, die es betrifft: das Kind, die Eltern, die Schule, die Kita.
Erzieher*innen haben in dieser Frage eine hohe Verantwortung und gute Möglichkeiten, die Eltern bei der Wahl des besten Einschulungstermins zu beraten. Denn sie kennen das Kind meistens seit langem und konnten seine Aktionen und Reaktionen in vielen alltäglichen Situationen wahrnehmen und einschätzen.
Viele Erzieher*innen tendieren leider dazu, von Früheinschulung grundsätzlich abzuraten. Zu den IHVO-Fortbildungen zum Thema “Hochbegabtenförderung im Kindergarten” kommen auch Erzieher*innen, die mit dieser vorherrschenden ablehnenden Haltung zunehmend Schwierigkeiten haben und nach Argumenten suchen, um den Eltern Empfehlungen für eine Früheinschulung zu geben.
Es darf bei dieser Entscheidung für oder wider Früheinschulung nicht um Karrieresorgen der Eltern, um Ehrgeiz oder Wettbewerb mit anderen Familien gehen. Aber für besonders begabte und hoch begabte Kinder kommt die Einschulung mit sechs Jahren oft einfach zu spät.
Wichtig erscheint, beim Abwägen des Für und Wider einer Früheinschulung folgenden Fragen nachzugehen und im Gespräch mit allen Beteiligten so weit wie möglich zu klären:

1) Will das Kind in die Schule?

2) Wenn ja, warum? Welche Vorstellungen hat es über Schule? Sind sie realistisch?

3) Wenn es noch nicht in die Schule will, warum nicht? Hat es Angst vor der Einschulung? Kann diese Angst abgebaut werden?

4) Welche Interessen und Fähigkeiten hat das Kind – bezogen auf die Anforderungen in der Schule?

5) Bleiben die hauptsächlichen Spielfreunde des Kindes im Kindergarten oder werden sie eingeschult?

6) In welchen Bereichen könnte das Kind eventuell leistungsmäßige Schwierigkeiten bekommen?

7) Besteht begründete Aussicht, dass das Kind diese eventuellen Schwierigkeiten meistert, wenn es in die Schule darf?

8) Welche Position nehmen die Eltern zur Frage der Einschulung ein? Welche Gründe dafür oder dagegen äußern sie?

9) Welche Position nimmt die aufnehmende Schule /die aufnehmende Lehrerin ein?

Erläuterungen zu diesen Fragen finden Sie hier: Fragen vor einer frühen Einschulung.

Hier sei auch auf die Möglichkeit hingewiesen, dass das Kind in der aufnehmenden Schule „schnuppern“ darf, ehe eine endgültige Entscheidung für oder gegen die Früheinschulung getroffen wird.

Siehe dazu: Hoch begabte Kinder zwischen Kindergarten und Grundschule.

Ein Gruppenwechsel wie auch die Früheinschulung müssen gut begleitet werden, da sie vom Kind eine besondere psychische Anstrengung verlangen.

Siehe hierzu: Akzeleration teilweise fehlgeschlagen.

Die Erfahrung zeigt aber, dass Kinder diese Schritte meistens besser bewältigen, als Eltern und Erzieher*innen das erwarten. Nach gelungener Eingewöhnung sind dann oft etliche positive Reaktionen der Kinder zu beobachten: größere Zufriedenheit, mehr Ausgeglichenheit auch zuhause… Meine Erfahrung besagt, dass die Früheinschulung in allen 21 Fällen, die ich als Erzieherin oder durch Elternberatung begleitet habe, in den nächsten Jahren (die ich überblicken konnte) überwiegend positive Auswirkungen hatte.

 

Die drei oben beschriebenen
Akzelerations-Maßnahmen können
das Problem nur entschärfen,
packen es aber nicht an der Wurzel
.

Die positiven Effekte verflüchtigen sich bei hoch begabten Kindern manchmal wieder, weil sie die Entwicklungsvorsprünge der anderen Kinder schnell aufholen und sich dann wieder langweilen oder unverstanden fühlen. Es kommt für sie ja stark auf das Tempo an, mit dem gelernt wird; wenn dann für den wachen Geist wieder wenige Anregungen pro Kindergarten- oder pro Schultag dabei sind oder wenn Wiederholungen quälen, dann kann wieder das Gefühl aufkommen, im falschen Film zu sein.
Siehe: Beispiele zu: Schnelles Lerntempo und Beispiele zu: Schnelles Auffassungsvermögen.

Enrichment

Neben den eher einschneidenden Maßnahmen, ein Kind in ein anderes Spiel- und Lernumfeld zu „versetzen“, gibt es eine weitere gute Möglichkeit, der beschleunigten Entwicklung des Kindes gerecht zu werden: Enrichment.
Diese Methode hat den Vorteil, dass sie nicht nur auf die Lern-Beschleunigung antwortet, die bisher im Leben des Kindes schon stattgefunden hat

–  sondern sie kann auch die Eigenarten und das aktuelle Tempo der Lernprozesse Hochbegabter berücksichtigen.

Enrichment bedeutet, dass dem Lern- oder Bildungsprogramm begabungsgerechte “Anreicherungen” hinzugefügt werden, um das Curriculum besser an die Lern- und Entwicklungsbedürfnisse des hoch begabten Kindes anzupassen. Der Enrichment-Ansatz zielt nach Lehwald (1991) darauf ab, “durch systematisches Eingreifen in Entwicklungsvorgänge Ansatzpunkte für individuelle Förderung freizulegen.” (S. 135 – siehe Literaturverzeichnis.)

Enrichment-Maßnahmen setzen also Überlegungen zur Individualisierung voraus.

Das Kind bleibt in seinem gewohnten Lernumfeld (seiner Kita-Gruppe), wird aber angeregt und angeleitet, im Kita-Alltag Aufgaben zu lösen, die gemeinhin als Aufgaben für weitaus ältere Kinder oder gar für Erwachsene gesehen werden.
Das Bewältigen solcher Aufgaben bringt erfahrungsgemäß einen großen Motivationsschub und deutliche Zufriedenheit mit sich.

Hier zwei Beispiele:

1) Kaninchen, Hund und Hausratte – ein Haustierprojekt.
Darin leitet Rachel (5;9) zusammen mit ihrer Erzieherin Heike Miethig ein Kleingruppen-Projekt im Kindergarten.
Die Autorin stellte dieses Beispiel bei einer pädagogischen Fachtagung in Bensberg vor. Die darauf folgenden Diskussionen in den Arbeitsgruppen ergaben,
– dass das dargestellte pädagogische Vorgehen dem Mädchen erlaubte, Selbstwirksamkeit zu erleben,
– dass es positiv ist, wenn Kinder (insbesondere Mädchen) ermutigt werden, Führungsrollen zu übernehmen, wenn es – wie im dargestellten Beispiel – zu einem demokratischen Vorgehen kommt,
– dass Kinder, die in der Gruppe Führungsrollen ausfüllen, ebenso lernen müssen, anderen die Führungsrolle zu gönnen,
– dass möglichen Widerständen bei Eltern anderer Kinder durch klare, fachliche Argumentation zu begegnen ist.

2) Ein weiteres Enrichment ist der Vertrag mit Daniel im Morgenkreis. Sie finden es hier: Passgenaue kognitive Förderung  (dort das Beispiel 2b: Daniel langweilt sich auch.)

Individuell angemessene, passende Enrichment-Bausteine zu finden,
fordert die Beobachtungsfähigkeit und die Kreativität
der Erzieherin heraus.

Auch Enrichment kann fehlschlagen,

wenn es nicht in das Leben des Kindes in seiner Gruppe integriert ist, sondern wenn es nur eine isolierte Maßnahme ist, vor allem in der Eingewöhnungszeit. Denn das Kind beobachtet und erfühlt in dieser Zeit intensiv, ob es sich in der Gruppe wohlfühlen kann und Anregungen findet. So bildet es sich eine Meinung zu dem neuen Lebensumfeld, die schnell negativ und ablehnend ausfallen kann.

Beispiel:

Als Cora mit knapp drei Jahren in den Kindergarten kam, war sie nicht begeistert. Sie war der festen Überzeugung, dass es besser wäre, gleich in die Schule zu gehen, da sie von ihrem älteren, ebenfalls hoch begabten Bruder erfahren hatte, dass Kindergarten für ihn “Babykram” war. Sie hatte aufmerksam die Kämpfe des Bruders verfolgt, der lange vor der Einschulung nicht mehr in den Kindergarten wollte und dann schließlich vorzeitig eingeschult wurde. Sie spielte zu Hause mit ihm Schule, lernte von ihm mit Leichtigkeit Buchstaben und Zahlen, beschäftigte sich auch alleine erfolgreich mit Rechenaufgaben und Minilük-Kästen.

Als sie 3;1 war (und ihr Bruder sich für Dinosaurier interessierte), dichtete sie auf eine ihr bekannte Melodie in kurzer Zeit den folgenden Text:

“Diplodo-, Diplodo-, Diplodo- mag ich sehr.

Warum kommst, warum kommst, warum kommst du nicht mal her?

Weil er aus-, weil er aus-, weil er ausgestorben ist,

weil er so, weil er so, weil er so gern Blätter frisst.”

Hierzu ist interessant zu wissen, dass Roedell, Jackson & Robinson (2000) als eine von zwanzig “bemerkenswerten Verhaltensweisen” hoch begabter Vorschulkinder anführen: “Bemerke, wenn ein Kind spontan Geschichte oder Lieder erdichtet, insbesondere wenn diese neue Erfahrungen verarbeiten oder den spielerischen Umgang mit Aussprache, Reimen, Rhythmen und ähnlichem beinhalten.” (S. 63.) (Siehe Literaturverzeichnis .) Und das ist hier bei Cora augenscheinlich gegeben.

Die Kindergartenleiterin erfuhr durch Erzählungen der Mutter und durch eigene Beobachtungen, dass Cora jeden Morgen große Probleme hatte, in den Kindergarten zu kommen. Sie fragte die Mutter, was Cora zu Hause grade am liebsten machte. Das war Rechnen.

Die Leiterin bot Cora daraufhin an, dass sie jeden Morgen erst mal zu ihr ins Büro kommen könnte, dass sie beide dann zehn Minuten lang zusammen rechnen würden und dass sie Cora danach in ihre Gruppe bringen würde. Dieses Enrichment in Form eines Vertrages klappte einige Zeit. Insgesamt war Cora in der Gruppe aber doch zu sehr „im falschen Film“ und nahm ihre Protest- und Verweigerungshaltung bald wieder auf, so dass sie schließlich, nach einigen weiteren Versuchen, aus dem Kindergarten abgemeldet wurde.

Die Leiterin hatte hier anfangs großes Engagement gezeigt. Vermutlich war sie enttäuscht, dass das Kind immer noch nicht (!) zufrieden war und hat dann mangels Erfahrung mit hoch begabten Kindern keine weiteren erfolgversprechenden Versuche gemacht, Cora in den Kindergarten zu integrieren und die Gruppenleiterin dafür zu motivieren, im Gruppenalltag passend auf Cora einzugehen.

Enrichment bedeutet auch, bei jedem Angebot,
bei jedem Projekt zu überlegen, worin eine
spezifische kognitive Herausforderung für das hoch begabte Kind liegen könnte.

Ziel ist dabei, dass das Kind sich nicht (innerlich und äußerlich) von der gemeinsamen Tätigkeit abwendet, sondern eine Möglichkeit findet, sich mit seinen spezifischen Stärken und Interessen einzubringen.

Ein paar Möglichkeiten, für die Sie in den Kap. 4.2-4.8 dieses Handbuchs Beispiele finden können, sollen hier angerissen werden:

    • Bei kleinen Experimenten kann das Kind darin unterstützt werden, die Ergebnisse mit Hilfe von Zahlen, Buchstaben oder anderen Zeichen zu notieren.
    • Beim Theaterprojekt kann das Kind, das den überlegenen Überblick hat, die Rolle des verantwortlichen Requisiteurs oder der Souffleuse übernehmen.
    • Beim Herstellen eines Bilderbuchs kann das Kind die Beschriftung und die Nummerierung der Seiten übernehmen.
    • Bei einer in der Gruppe gestalteten Museumsausstellung kann das Kind die Rolle des Museumsführers ausprobieren.
    • Bei der Suche nach neuen Projektideen sollte die Erzieherin die Interessen des hoch begabten Kindes verstärkt einbeziehen und es auch bei der Ausgestaltung des Projektes mitarbeiten lassen – entsprechend seinen schon entwickelten Möglichkeiten, zu planen und in die Zukunft zu denken.
    • Frühe und schnelle individuelle Lernprozesse aktiv unterstützen. Hierfür ein Beispiel aus meiner Kita-Gruppe:

Lesekurs für Milena
Milena sprach mit fünf Jahren (einsprachig) einwandfrei. Sie nutzte jede Gelegenheit im Rollenspiel, um ausdrucksstark mit Sprache zu experimentieren. Sie fragte oft nach der Bedeutung von schwierigen Wörtern, die sie nicht kannte, sie lernte von älteren Kindern, Buchstaben und Zahlen zu malen, und wollte wissen, wie die Buchstaben heißen, was sie sich dann zuverlässig einprägte.
Bei jeder Bilderbuchbetrachtung blieb sie bis zum Schluss und hatte Spaß daran, über das Vorgelesene ausgiebig zu reden.

Mit fünf Jahren beantwortete sie meine Frage, ob sie gern Lesen lernen würde, mit einem klaren Ja und lernte es im Kindergarten auch mit wenig Zeitaufwand und keiner sichtbaren Mühe innerhalb weniger Wochen, mit Hilfe meiner alten Schulfibel von 1956.
Siehe auch: Früh Lesen lernen.

Pädagogische Hilfskraft???

Eine weitere häufig versuchte Enrichment-Idee ist die Idee mit der “kleinen pädagogischen Hilfskraft”, die aber problematisch und oft nicht erfolgreich ist. Erzieher*innen wie Lehrer*innen fordern auf Dauer geistig unterforderte Kinder immer wieder auf, den Schwächeren zu helfen, und hoffen, dass das Kind dadurch zufriedener wird.

Manche Kinder empfinden eine solche Aufforderung aber als Zumutung, auch wenn sie es nicht ausdrücken (können). Die Situation, in die sie diese Aufforderung bringt, ist auch nicht beneidenswert: Sie erleben, dass es im Kindergarten (oder in der Schule) für sie wenig Interessantes gibt und sich auch niemand die Mühe macht, ihre kognitiven Bedürfnisse zu befriedigen. Nun sollen sie, die so wenig bekommen, dafür aber anderen etwas geben (der Erzieherin / dem Lehrer Arbeit abnehmen). Bei manchen Kindern ruft das Gefühle der Empörung und Resignation hervor.

Außerdem bedeutet ein solches Ansinnen nicht selten eine totale Überforderung: Ein kleines Kind, das selber nicht weiß, wie und auf welchen Wegen es zählen oder rechnen gelernt hat (“Das konnte ich schon immer”), kann sich nicht in die Probleme des lernschwachen Kindes hineinversetzen, das das Prinzip auch nach der dritten Erklärung des Lehrers noch nicht verstanden hat. Das hoch begabte Kind kann sich nicht vorstellen, welche Zwischenschritte oder Umwege dem lernschwachen Kind helfen könnten.

Etwas anders sieht es aus, wenn es sich um ein Kind handelt, das ein früh ausgeprägtes pädagogisch-psychologisches Interesse und hohe soziale Begabung zeigt. Für dieses Kind kann die Aufgabe, dem Schwächeren zu helfen, unter Umständen eine passende, manchmal selbst gewählte Herausforderung sein.
Siehe das Beispiel von Anita, die sich zeitweise sehr engagiert und geschickt den neuen Jüngsten in der Gruppe annahm. Sie haben dieses Beispiel vielleicht schon im Beitrag Dauerfrustration wegen Unterforderung und Unverständnis gelesen, aber weiter unten will ich es noch einmal in ganzer Länge in diesen Beitrag aufnehmen.

Aber auch in diesem Fall ersetzt die Hilfe für Schwächere nicht den Anspruch des Kindes auf angemessene Förderung. Auch Anitas Interesse an den Kleinen verringerte sich, sobald sie andere, passende geistige Herausforderungen erhielt und intensiven Spielkontakt zu den wesentlich älteren Kindern der Gruppe herstellen konnte.

Manches können wir im Kindergarten nicht leisten, aber manches eben doch

Die Möglichkeiten, Individualisierung und Enrichment im Kindergarten zu leisten, sind begrenzt durch die Rahmenbedingungen der Arbeit. Dort wo eine Erzieherin oder auch eine pädagogische Zweitkraft (Kinderpflegerin, Praktikantin) zeitweise alleine in der Gruppe ist, bleiben solche Maßnahmen – wie auch schon die systematische Beobachtung einzelner Kinder – Wunschdenken. Auch Gruppengrößen von über 20 Kindern, zum Teil bis zu 28 Kindern, stehen einer begabungsförderlichen Arbeit entgegen.
Siehe: Rahmenbedingungen verbessern!

Unter diesen Umständen werden Individualisierungs- und Enrichment-Überlegungen selten eine auf Dauer befriedigende Wirkung haben. Auch eine gut ausgebildete und zum Thema Hochbegabtenförderung weitergebildete Erzieherin wird sich in einer Gruppe mit noch weiteren 25 oder 26 Kindern kaum so viele besondere Herausforderungen ausdenken können, dass das hoch begabte Kind dadurch angemessen gefördert wird. In Elterngesprächen muss ich dann oft den Eltern sagen, dass die ausreichende und befriedigende geistige Förderung ihres Kindes, zumindest in der Kita- und Grundschulzeit, hauptsächlich ihre Aufgabe, also die Aufgabe der Eltern, bleiben wird.

Aber auch kleine Impulse (wie bei Daniel im Morgenkreis, siehe oben) oder auch nur die angemessene sprachliche Kommunikation mit dem Kind können bewirken, dass das Kind im Kindergarten gut zurecht kommt.

Beispiel Anita

Im Alter von 4;1 Jahren kam Anita in meine Kindergartengruppe. Es war bereits ihr zweiter Kindergarten. Die Eltern waren zu mir in die Beratung gekommen, weil Anita absolut nicht mehr in ihren ersten Kindergarten gehen wollte. Die Eltern sorgten sich, weil Anita sich seit dem Eintritt in den Kindergarten stark verändert hatte. “Sie war früher fröhlich, lustig, meistens gut gelaunt und auch sehr aktiv. Jetzt ist sie meistens unerträglich. Sie mault über alles, ist motzig und frech, hat zu nichts Lust, macht jeden Morgen Theater, wenn sie in den Kindergarten soll und steht sich oft selbst im Wege mit ihrer schlechten Laune”, berichtete die Mutter. Da den Eltern Anitas sehr fortgeschrittener Entwicklungsstand selbst aufgefallen war, ließen sie ihre Tochter testen, was einen sehr hohen IQ ergab.

Ich nahm zu Anita Kontakt auf, als sie noch nicht 4 Jahre alt war, unterhielt mich ausgiebig mit ihr und betrachtete mit ihr ein Bilderbuch. Mir fielen ihr sehr umfangreicher Wortschatz, ihre flüssige und ausdrucksstarke Sprechweise und vor allem ihre klugen Fragen und Gedanken zu der Bilderbuchgeschichte auf. Wenn ich sie nur gehört und ihr Alter nicht gewusst hätte, hätte ich sie für ein kluges und gut gefördertes sechsjähriges Mädchen halten können. Ich lernte sie an diesem Tag so kennen, wie sie nach Aussage der Eltern “eigentlich” war, also positiv gestimmt, aktiv, lustig und charmant.

Anitas Eltern waren schon zu der Entscheidung gekommen, den Kindergarten zu wechseln und hatten sich bereits zwei Einrichtungen mit Anita zusammen angesehen. Jedes Mal erklärte Anita mit Bestimmtheit, dass sie dort auch nicht hinwollte.

Bei einer Besichtigung unseres Kindergartens sah sich Anita genau um und stellte mir Fragen, die sonst nur Eltern zu stellen pflegen, zum Beispiel: “Dürfen die Kinder hier alleine raus gehen?” oder “Muss man hier nicht alles aufessen?”, auf die ich ihr ausführlich antwortete. Am Ende erklärte sie, dass sie hier “wohl gerne wiederkommen” würde.

In den ersten Wochen saß sie im wesentlichen auf einem Stuhl und beobachtete. Sie nahm kaum Kontakt zu anderen Kindern auf und reagierte auch kaum auf Kontaktversuche der anderen Kinder. Bei Gruppenaktivitäten verhielt sie sich still und zurückhaltend und sagte höchstens mal einen kurzen Satz. Sie hielt von Anfang an alle Regeln ein und machte keinen unzufriedenen oder angespannten Eindruck.

Die Eltern gaben die Rückmeldung, dass Anita sich morgens ohne Murren für den Kindergarten fertig machte und abends viel darüber erzählte, was andere Kinder und was die Erzieherinnen gemacht hatten. Ihre Bewertung der Dinge: “Es geht mir gut.” In dieser Zeit zeigte Anita im Kindergarten so wenig von ihrer Hochbegabung, dass meine Kolleginnen ungläubig reagierten.

Als nach einigen Wochen mehrere dreijährige Kinder neu in die Gruppe kamen, begann Anita engagiert mit den “Kleinen” zu spielen, die etwa ein Jahr jünger waren als sie selbst. Das machte sie, auch nach Ansicht meiner Kolleginnen “sehr intelligent”.

Für Roedell, Jackson & Robinson (2000) ist eine “bemerkenswerte Verhaltensweise” hoch begabter Vorschulkinder: “Bemerke, wenn ein Kind seine Sprache an den Entwicklungsstand Jüngerer anpaßt, beispielsweise kürzere Sätze benutzt oder schwierige Worte vermeidet oder die Tonlage verändert, falls es mit sehr jungen Kindern spricht.” (ebenda, S. 63)

Anita erleichterte diesen Kindern entscheidend die Eingewöhnung in den Kindergarten und wurde von ihnen begeistert als Anführerin akzeptiert. Anita spielte die Rolle einer Erzieherin und zeigte dabei hohe kommunikative und sozial-emotionale Fähigkeiten. Mit den übrigen Kindern der Gruppe hatte sie weiterhin kaum Kontakt.

Die Familie machte dann drei Wochen Urlaub, was für die Integration in die Gruppe kein günstiger Zeitpunkt war. Es stellte sich also die in so einem Fall übliche fachliche Frage: Was kann ich als ihre Erzieherin tun, damit Anita sich im Urlaub schon wieder auf den Kindergarten freut?

Bei diesem hoch begabten Kind fiel mir das Vorschulprogramm ein, das ich jährlich für die Kinder startete, die dann im nächsten Sommer eingeschult wurden. Das war wöchentlich ein Vormittag, an dem die Vorschulkinder besondere und schwierige Dinge taten, einige Erkundungs-Ausflüge machten (mal ohne auf die Kleinen Rücksicht nehmen zu müssen) und mit mir als “Lehrerin” Schule spielten. Diese Vormittage waren sehr beliebt, und der nächste Jahrgang freute sich schon, da es bald für sie losgehen sollte; das hatte Anita bereits bemerkt. Ich fragte sie also vor ihrem Urlaub, ob sie sich das nach dem Urlaub mal angucken wollte. Sie sollte prüfen, ob ihr das Spaß machen könnte.

Die Eltern erzählten dann, dass Anita sich tatsächlich auf das Vorschulprogramm freute und immer wieder fragte, wann sie wieder in den Kindergarten gehen könnte.

Am ersten Vorschulvormittag waren die anderen Kinder erstaunt, dass Anita mit in den Nebenraum ging, und wollten sie aufklären, dass sie da jetzt nicht hingehörte, Anita geriet in leichte Bedrängnis, ich stand ihr bei und erklärte den anderen: “Das ist o.k., Anita macht heute mal mit und guckt, ob das was für sie ist.” Die Kinder erkannten dann sehr schnell, dass Anita gut in die Gruppe der Vorschulkinder passte, sie machte mit und konnte sehr gut mithalten.

Für Anita brachte das den Durchbruch: Sie freute sich nicht nur auf die interessanten Vorschul-Vormittage, sondern war von nun an auch als Spielpartnerin bei den Großen voll akzeptiert. Sie war da angekommen, wo sie mit ihren erst 4;3 Jahren hingehörte: bei den fünfeinhalb- bis sechsjährigen Kindern. Im nächsten Sommer ging sie wie selbstverständlich in die Schule. Sie übersprang auch noch die 1. und die 4. Klasse. Ihre Eltern waren vor allem froh, dass Anita wieder “die Alte” war: fröhlich und aktiv.

Hier hat sich Akzeleration sowohl im Kindergarten als auch in der Schule bewährt.

Grundsätzlich wünsche ich mir,
dass für hoch begabte Kinder Beides,
Akzeleration und Enrichment,
in hinreichendem Maße und klug in Betracht gezogen
und umgesetzt werden.

 

Datum der Veröffentlichung: Juni 2021
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.

 

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