von Hanna Vock

 

Dies ist ein Auszug aus dem Protokoll einer Elternberatung. Ich sprach mit der Mutter über ihr kognitiv sehr weit entwickeltes Kleinkind. Es ist dasselbe Kind, das sich in noch jüngerem Alter (krabbelnd) quer durch den 3-gruppigen Kindergarten bewegt hat, um das Bällchenbad wieder zu finden. Das ist hier näher beschrieben: Pläne, Zeichnungen, Skizzen, Mind-Maps; dort ist es gleich das erste Beispiel.

Jetzt ist David 1;10 Jahre alt und die Mutter hat Beratungsbedarf.

Mutter:
„Neulich haben uns alte Freunde für ein paar Tage besucht, David war zum ersten Mal dabei. Aber es war nicht alles schön. David wird nach wie vor echt garstig, sobald irgendeins seiner Spielzeuge auch nur berührt wird. Da hat er mit den beiden etwas älteren Besuchskindern im Haus, die auch noch eine andere Sprache sprechen, jetzt natürlich eine richtige Konfrontationstherapie. Es ist schon etwas besser geworden. Aber bis zu einem freundlichen Gastgeber ist es wohl für ihn trotzdem noch ein weiter Weg…“

Vock:
„Versuchen wir, uns das „garstige Verhalten“ dieses klugen und eigentlich sehr freundlichen Kindes zu erklären.
David (1;10) ist jetzt – das zeigt ja auch das häufige „meiner“ an, mit dem er lautstark aus der Entfernung seine Sachen verteidigt – mitten in der Entwicklungsphase, in der er zum ersten Mal einen Eigentumsbegriff für sich aufbaut.

Jedes Konzept, das ein Kind für sich gerade neu entwickelt, ist ihm für eine gewisse Zeit äußerst wichtig und verhindert Gelassenheit in dieser Frage.
Jetzt hat David Panik, dass seine neu errungene Eigentumsvorstellung in Frage gestellt wird. Er möchte, dass sie von der Umwelt akzeptiert und respektiert wird.

Außerdem hat er natürlich nicht den Überblick, dass der Besuch nur vorübergehend da ist. Er ist in eine länger andauernde Situation geraten, in der ihm sein Eigentum streitig gemacht wird. Und er kann sich noch nicht damit beruhigen, dass die Kinder ja bald wieder abreisen, das übersteigt noch seine geistigen Möglichkeiten.

Fragen ihn denn die anderen Kinder, ob sie etwas von seinen Sachen nehmen dürfen? Das sollten sie immer tun, auch die etwas älteren Besuchskinder sollten das versuchen.

Ich könnte mir vorstellen, dass er wieder seine lieben Seiten zeigt, sobald er merkt, dass sein Eigentum handelnd (!) respektiert wird.
Ein Kind, dass bereits (so früh) einen Eigentumsbegriff entwickelt hat, reagiert (zu Recht) genauso empfindlich wie ein Erwachsener, nur noch nicht so selbstsicher, gelassen und differenziert. (Natürlich könnt Ihr unser Klo benutzen ohne zu fragen, aber vielleicht nicht ungefragt auf meinem Laptop schreiben oder meine BHs anprobieren…)

Zwar wehren sich viele Kinder auch schon früher, wenn ihnen ein Spielzeug weg genommen, also aus der Hand gerissen wird, aber das ist etwas anderes. Sie reagieren wütend oder verstört, weil sie damit weiter spielen wollten – nicht, weil sie es als ihr persönliches Eigentum betrachten. David kann es aber nicht ertragen, dass eines seiner Spielzeuge genommen wird, auch wenn er selbst gerade gar nicht damit spielen will: Er weiß schon, dass es ihm gehört, es ist „meiner“!

Zu bedenken ist auch, dass die beiden Kinder für David ja noch keine lang vertrauten Freunde sind. Stellen Sie sich vor, ein noch recht fremder Gast würde einfach an Ihre Sachen gehen und das trotz Ihres Protests immer wieder.
Tatsächlich empfinden Kinder ähnlich, das zeigen die in dieser Phase immer wieder auftretenden wütend-verzweifelten Proteste von kleinen Kindern, die grade in dieser Entwicklungsphase „ich habe persönliches Eigentum“ stecken, die bei etlichen Kindern allerdings erst deutlich später stattfindet. Besonders verzweifelt reagieren sie dann, wenn die Eltern ihr Verhalten auch noch kritisieren (und sich damit auf die Seite des „Aggressors“ stellen).

Diese Entwicklungsphase und ihre derzeitige Ausprägung bedeuten absolut nicht, dass David nicht teilen oder abgeben lernen wird. Also müssen Sie keine Angst vor der Zukunft in Ihre Gefühle einfließen lassen. Vielleicht wird er bald zu einem ganz charmanten kleinen Gastgeber, solange nicht gerade jemand dabei ist, seinen sich entwickelnden Verstand durcheinander zu bringen.

Also können Sie ihm jetzt nur helfen, indem Sie die beiden Gastkinder anleiten, ihn
um Erlaubnis zu fragen und seine Antwort auch zu respektieren (es ist eben anders als in der Kita), und indem Sie David bitten, dass er den Beiden seine Spielsachen zeigt und ihnen etwas zum Spielen gibt (weil sie ja auch was zum Spielen brauchen). Das wird er aber nur und erst dann tun können, wenn er merkt, dass die anderen Kinder sein Eigentum respektieren.“

Nachtrag:
Die Eltern befolgten den Rat. Und David zeigte sich zwei Monate später tatsächlich als ein Kind, das auffallend gut abgeben und teilen kann. Sein rascher Verstand hatte für sein Sozialverhalten jetzt das spannende Konzept des „charmanten Gastgebers“ entwickelt, wofür er angemessene Bestätigung erhielt.

Kommentar Hanna Vock:
Wäre das Kind zum Zeit der Beratung drei Jahre alt gewesen, dann hätten die Eltern sich vermutlich nicht so sehr darüber gewundert, dass das Kind sein Eigentum hüten wollte. Dann wären natürlich auch sprachliche Erklärungen schon besser beim Kind angekommen.
Aber die frühe geistige Entwicklung des Kindes führte zu einem Missverständnis zwischen allen Beteiligten, zu Frust beim Kind, Verärgerung bei den anderen Kindern und zu Sorgen bei den Eltern.

Das kleine Kind war zu dem Zeitpunkt beseelt von der ganz neuen Erkenntnis:
Ich weiß, dass das alles meins ist,
und das kann ich auch schon äußern.

 

 

 

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